[72] 1. Die Sagen vom König Mu

Zur Zeit des Königs Mu vom Hause Dschou kam ein Magier aus dem äußersten Westen. Der konnte ins Feuer und Wasser gehen, Metall und Steine durchdringen, Berge und Flüsse verkehren, Städte und Burgen versetzen, er konnte den leeren Raum besteigen, ohne zu fallen, er konnte gegen Festes stoßen, ohne Widerstand zu finden. Tausenderlei Wandlung konnte er vollbringen in unerschöpflicher Fülle. Und hatte er die Gestalten der Dinge verändert, so wandelte er noch zudem die Gedanken der Menschen.

König Mu ehrte ihn wie einen Gott und diente ihm wie einem Herrscher. Er räumte seine Gemächer, um ihn zu beherbergen, ließ Opfertiere herführen, um sie ihm darzubringen, und wählte Sängerinnen aus, ihn zu ergötzen.

Dem Magier waren die königlichen Gemächer zu dürftig um darin zu wohnen, die königlichen Speisen zu übelriechend, um ihren Duft zu genießen, die königlichen Haremsmädchen zu bockigt, um ihnen zu nahen.

Der König Mu ließ nun für ihn ein anderes Gebäude errichten; die Arbeiten der Maurer und Zimmerleute, die Farben der Maler und Tüncher: nichts ließ an Geschick zu wünschen übrig. Die Schatzkammern waren leer, als das Gebäude seine volle Höhe erreicht. Hundert Klafter ragte es empor, noch[72] über den Gipfel des Südendberges hinaus. Man nannte es: den Palast des Mittelhimmels.

Er suchte Jungfrauen aus, die schönsten und zartesten von Dscheng und We, gab ihnen Wohlgerüche, ließ sie die Augenbrauen schön geschwungen ziehen und schmückte sie mit Haarschmuck und Ohrgehängen. Er kleidete sie in feine Tücher und ließ sie von weißer Seide umflattern, das Gesicht weiß, die Brauen schwarz schminken, Armringe aus Edelsteinen anziehen und duftende Kräuter mischen. Sie erfüllten den Palast und sangen die Lieder der alten Könige: »Halte die Wolken«, »Sechsfacher Glanz«, »Neunfache Harmonien«, »Der Morgennebel«, um ihn zu erfreuen.

Jeden Monat brachte er die köstlichsten Kleider dar und jeden Morgen die feinsten Speisen. Der Magier ließ es sich gefallen; weil er nicht anders konnte, nahm er damit vorlieb.

Nach wenigen Tagen lud er den König ein, mit ihm zu reisen. Der König hielt sich an des Magiers Ärmel. So fuhren sie in die Höhe bis mitten in den Himmel. Da hielten sie an und waren am Schloß des Magiers angelangt. Das Schloß des Magiers war aus Gold und Silber gebaut, mit Perlen und Edelsteinen geschmückt. Es ragte über Wolken und Regen empor. Man wußte nicht, worauf es ruhte. Es erschien dem Blick wie aufgetürmte Wolken. Was den Sinnen sich bot, war alles anders als die Dinge der Menschenwelt. Dem König war es, als sei er leibhaftig inmitten der purpurnen Tiefen der Ätherstadt, der Sphärenharmonien des Himmels, wo der große Gott wohnt. Der König blickte nach unten, da sah er seine Schlösser und Lusthäuser wie Erdhügel und Strohhaufen. Der König weilte darum einige Jahrzehnte hier und dachte nicht mehr an sein Reich.

Da lud der Magier den König abermals ein, mit ihm zu reisen. An dem Ort, dahin sie kamen, sah man oben nicht Sonne noch Mond, unten nicht Flüsse noch Meere. Die Lichtgestalten, die sich zeigten, konnte der König geblendeten Auges[73] nicht erkennen; die Klänge, die herankamen, konnte der König betäubten Ohres nicht vernehmen. Er war einer Ohnmacht nahe und drohte das Bewußtsein zu verlieren. Da bat er den Magier zurückzukehren. Der Magier berückte ihn, da war es dem König, als wenn er ins Leere hinabfiele.

Als er zu sich kam, saß er am selben Platze wie zuvor. Die aufwartenden Diener waren dieselben wie zuvor. Er blickte vor sich, da war der Becher noch nicht leer und die Speisen noch nicht kalt. Der König fragte, was gewesen, da antworteten die Leute seiner Umgebung: »Der König saß eine Weile schweigend da.« Da verlor der König sich selbst und kam erst nach drei Monaten wieder zu sich. Dann fragte er den Magier.

Der Magier sprach: »Ich wandelte im Geiste mit dir, o König, was braucht sich da die Gestalt zu bewegen? Wo wir damals geweilt, das war nicht weniger wirklich als des Königs Schloß; wohin wir gereist, das war nicht weniger wirklich als des Königs Garten. Du, o König, bist gewöhnt an die dauernden Zustände und beargwohnst daher solche plötzlich in nichts sich auflösende Erscheinungen. Aber die höchste Stufe der Verwandlungskraft kann in einem Augenblick das (was in unserem Geist als) Vorbild (vorhanden ist,) zur Wirklichkeit machen.«

Der König war's zufrieden. Er kümmerte sich nicht mehr um die Reichsgeschäfte und hatte keine Lust mehr zu seinen Dienern und Weibern, sondern entschloß sich, in die Ferne zu reisen. Er ließ die acht berühmten Rosse an zwei Wagen spannen und fuhr mit wenigen Getreuen tausend Meilen weit, bis er in das Land der großen Jäger kam. Die großen Jäger brachten dem König das Blut der Schneegans als Trank dar und wuschen seine Füße mit der Milch von Pferden und Rindern. Ebenso den Leuten des zweiten Wagens. Als sie getrunken, fuhren sie weiter und übernachteten am Abhang des Kun Lun, im Süden des roten Wassers. Am andern Tage erstiegen sie den Gipfel des Kun Lun, um das Schloß des Herrn[74] der gelben Erde zu sehen, und erbauten ihm einen Altar, um es der Nachwelt zu überliefern.

Dann weilte er zu Gast bei der Königin-Mutter des Westens, die ihn auf dem Jaspissee bewirtete. Die Königin-Mutter des Westens sang dem König ein Lied vor, und der König stimmte ein. Es war ein sehr rührendes Lied. Dann sah er auch, wo die Sonne einkehrt, die täglich zehntausend Meilen weit läuft. Da seufzte der König und sprach: »Wehe, Wir mehren nicht unsere Tugend und pflegen der Freude. Die Nachwelt wird Uns das als Fehler anrechnen.«

Der König Mu war fast wie die seligen Götter! Es war ihm vergönnt, die zugemessenen Freuden seines Lebens bis auf die Neige zu kosten, und er verschied nach hundert Jahren. Die Welt aber hielt dafür, er sei zur Unsterblichkeit aufgestiegen.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 72-75.
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