[76] 4. Wachen und Traum

Im Wachsein gibt es acht Erfüllungen. Im Traumleben gibt es sechs Vorbedeutungen. Die acht Erfüllungen sind: Absicht, Handlung, Erlangen, Verlieren, Trauer, Freude, Geburt, Tod. Diese acht Erfüllungen werden durch die Körperlichkeit bedingt. Die sechs Vorbedeutungen sind: der rechte[76] Traum, der Warnungstraum, der Sehnsuchtstraum, der Wachtraum, der freudige Traum, der Angsttraum. Diese sechs Vorbedeutungen werden durch den Geist eingegeben.

Wer die Entstehung der bedingten Veränderungen nicht kennt, der wird, wenn ein Fall eintritt, über seine Ursachen im unklaren sein. Wer die Entstehung der bedingten Veränderungen kennt, der wird, wenn ein Fall eintritt, seine Ursachen erkennen. Wer die Ursachen erkennt, der bleibt frei von aller Verwirrung.

Jeder einzelne Körper steht mit seiner Fülle und Leere, seiner Not und Ruhe in durchgehendem Zusammenhang mit der ganzen Welt und steht in Wechselwirkung mit allen Dingen. Darum, wenn die Kraft des Trüben mächtig ist, so träumt man vom Durchschreiten großer Wasser und von Beängstigung; wenn die Kraft des Lichten mächtig ist, so träumt man vom Durchschreiten großer Feuer, von Hitze und Helle. Ist das Trübe und Lichte beides mächtig, so träumt man von Geburt und Tod. Ist man gesättigt, so träumt man vom Spenden; ist man hungrig, so träumt man vom Nehmen. Darum, wer an Leichtblütigkeit (Manie) leidet, der träumt von Ausdehnung; wer an Schwermut (Melancholie) leidet, der träumt vom Ertrinken. Wer mit umgebundenen Gürtel schlaft, der träumt von Schlangen. Von wem fliegende Vögel ein Haar im Schnabel halten, der träumt vom Fliegen. Naht man dem Trüben, so träumt man von Feuer, vor einer Krankheit träumt man von Essen. Nachdem man Wein getrunken, ist man traurig; nachdem man gesungen und getanzt, weint man.

Der Meister Liä Dsï sprach: »Was dem Geist von außen her begegnet, zeigt sich als Traum, was dem Körper von außen her begegnet, zeigt sich als Begebenheit. Daher sind die Vorstellungen des Tages und die Träume der Nacht äußere Einwirkungen auf Körper und Geist. Darum, wessen Geist in sich fest geworden, für den verschwinden ganz von selbst Vorstellungen und Träume. Darum ist es kein leeres[77] Gerede, daß die wahren Menschen des Altertums im Wachen ihr Selbst vergaßen und im Schlafen keine Träume hatten.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 76-78.
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