[79] 6. Der Reiche Mann und der Arme Knecht

Im Reiche Dschou lebte ein Mann namens Yin, der waltete über große Güter. Seine Diener und Knechte hatten Tag und Nacht keine Ruhe. Er hatte einen alten Knecht, der war schwach und gebrechlich; den ließ er um so mehr sich anstrengen. Bei Tage tat der Knecht keuchend seine Arbeit. Des Abends war er erschöpft und schlief fest. Sein Geist wurde frei, und er träumte jede Nacht, daß er ein König sei und über viele Untertanen herrsche. Des ganzen Reichs Geschäfte lagen in seiner Hand. Er lustwandelte in Palästen und Galerien und genoß, was sein Herz begehrte. Seine Wonne war unvergleichbar. Wenn er erwachte, so war er wieder Knecht.

Als ihn einst jemand wegen seiner Mühsale bemitleidete, sprach der alte Knecht: »Lebt der Mensch auch hundert Jahre, so sind sie doch alle in Tag und Nacht geteilt. Ich bin bei Tag ein Sklave. Ist's Mühe, nun gut, so ist's Mühe. Bei Nacht bin ich ein König, dessen Wonnen unvergleichlich sind. Was habe ich da zu klagen?«

Der Herr Yin aber hatte in seinem Herzen viel Arbeit mit weltlichen Geschäften und viele Sorgen, seinen Besitz zu mehren. So ward er müde an Seele und Leib. Des Nachts war er auch erschöpft und schlief ein. Er träumte jede Nacht, daß er ein Knecht sei, der herumlaufen und jeglichen Dienst verrichten mußte. Scheltworte gab's und Stockstreiche: nichts wurde ihm erspart. Im Schlafe stöhnte und keuchte er, und erst wenn der Morgen nahte, kam er wieder zur Ruhe.

Als Herr Yin einst einen Freund über sein Leiden befragte, sprach der Freund: »Deine Stellung gibt dir genug an Ehren;[79] an Schätzen und Reichtümern hast du Überfluß. Du bist weit besser daran als andre Menschen. Daß du bei Nacht träumst, du seiest ein Knecht, das entspricht der allgemeinen Erfahrung, daß Freud und Leid der Bestimmung nach sich abwechseln. Du möchtest es im Wachen und Schlafen gleich gut haben; das wird aber niemand zuteil.«

Herr Yin vernahm die Rede seines Freundes. Und er erleichterte die Arbeit seines Knechts und verringerte die Geschäfte, die ihm selber Sorgen machten. Dadurch ward seine Krankheit etwas besser.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 79-80.
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