[83] 9. Wer ist verrückt?

Herr Pang aus Tsin hatte einen Sohn, der war in seiner Kindheit klug gewesen. Als er aber heranwuchs, da erkrankte er an Verrücktheit. Hörte er Gesang, so hielt er es für Weinen; sah er Weißes, so hielt er es für schwarz; roch er Duft, so hielt er es für Gestank; schmeckte er Süßes, so hielt er es für bitter; tat er Schlechtes, so hielt er es für recht. In seinen Gedanken waren die vier Himmelsrichtungen, Feuer und Wasser, Kalt und Warm, und alles, was auf der Welt ist, in ihr Gegenteil verkehrt.

Ein Mann namens Yang sagte zu seinem Vater: »Der große Mann in Lu (Konfuzius) kennt viele Mittel und Wege; der kann es vielleicht beseitigen. Willst du ihn nicht befragen?« Der Vater ging darauf nach Lu. Als er durch Tschen kam, begegnete er dem Lau Dan. Darum erzählte er ihm den Zustand seines Sohnes.

Lau Dan sprach: »Wie weißt du denn, daß dein Sohn verrückt ist? Heutzutage ist die ganze Welt im Zweifel über Recht und Unrecht und im Irrtum über Gut und Schlecht. Aber es sind viele, die an derselben Krankheit leiden, darum merkt es keiner. Außerdem: wenn ein Mensch verrückt ist, wird dadurch noch nicht seine ganze Familie umgekehrt. Wenn eine Gemeinde verrückt ist, wird dadurch noch nicht das ganze Land umgekehrt. Wenn ein Land verrückt ist, wird dadurch noch nicht die ganze Welt umgekehrt. Wenn aber die ganze Welt verrückt ist, wer will sie dann umkehren?[83] Nun laß einmal die ganze Welt so fühlen wie dein Sohn, dann bist umgekehrt du der Verrückte. Was traurig ist und freudig, Ton, Farbe, Geruch, Geschmack, Recht und Unrecht: wer kann das unbedingt feststellen? Außerdem ist es auch gar nicht ausgemacht, daß das, was ich da zu dir sage, nicht verrückt ist. Was soll da erst der große Mann in Lu, der ein Verbreiter aller Verrücktheit ist! Wie kann der die Verrücktheiten andrer Menschen heilen? Du tätest wohl besser daran, dein Reisegeld zu sparen und schleunigst wieder heimzugehen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 83-84.
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