[85] 1. Welterlösungsschmerzen

Dschung Ni (Konfuzius) weilte einst in der Zurückgezogenheit. Dsï Gung trat ein, um bei ihm zu sein. Er aber sah bekümmert aus. Dsï Gung wagte nicht zu fragen. Er ging wieder hinaus und teilte es Yän Hui mit. Yän Hui ergriff die Zither und sang.

Meister Kung hörte es, und richtig rief er ihn zu sich hinein. Er fragte ihn und sprach: »Warum bist du in deiner Einsamkeit so fröhlich?« Yän Hui sprach: »Warum ist der Meister in seiner Einsamkeit bekümmert?« Meister Kung sprach: »Sage mir zuerst, was dich bewegt.« Er sprach: »Ich hörte einst den Meister sagen, wer Frieden mit Gott habe und seinen Willen kenne, brauche niemals Kummer zu haben; darum bin ich fröhlich.«

Der Meister Kung errötete und sprach nach einer Weile: »Das hätte ich gesagt? Deine Gedanken sind auf falscher Bahn. Was ich da früher gesagt habe, das bitte ich durch das, was ich jetzt sage, richtigzustellen. Du hast allerdings erkannt, daß, wer Frieden mit Gott hat und seinen Willen kennt, keinen Kummer hat, aber du hast noch nicht erkannt, daß gerade wer Frieden mit Gott hat und seinen Willen kennt, den allergrößten Kummer hat.

Nun will ich dir sagen, wie es in Wirklichkeit damit steht. Allein sein Selbst veredeln ohne Rücksicht auf Erfolg oder Nichterfolg, erkennen, daß äußere Schicksale und Verluste nicht unser wahres Ich betreffen, und sich nicht die Gedanken[85] des Herzens verwirren lassen: das ist es, was du meinst, wenn du sagst: wer Frieden mit Gott hat und seinen Willen kennt, hat keinen Kummer.

Ich habe einst die Lieder und Urkunden verbessert, die Lebensregeln und die Kunst gereinigt, um der Nachwelt die Mittel zur Ordnung des Erdkreises zu hinterlassen; nicht nur mein eignes Selbst zu veredeln und den Staat Lu zu ordnen, war meine Absicht dabei. Und doch ging selbst in Lu die Ordnung im Staate verloren, Sittlichkeit und Pflicht verkamen immer mehr, und das Gemüt des Volkes verrohte immer mehr. So wenig vermochte auch nur in einem einzigen Staate der Gegenwart der Sinn jener Lehren durchzudringen. Wie soll es da erst mit dem ganzen Erdkreis in künftigen Zeiten werden!

Ich habe zwar erkannt, daß Lieder und Urkunden, Lebensregeln und Kunst keine Rettung aus der Verwirrung bringen können, aber ich habe das Mittel zur wahren Erneuerung noch nicht gefunden. Das ist der Kummer, den man hat, wenn man Frieden mit Gott hat und seinen Willen kennt.

Immerhin habe ich die Einsicht erlangt, daß, was man so Friede und Erkenntnis nennt, nicht das ist, was die Alten Friede und Erkenntnis nannten. Jenseits dieses Friedens und dieser Erkenntnis ist der wahre Friede und die wahre Erkenntnis. Darum hat man allenthalben Frieden, allenthalben Erkenntnis, allenthalben Kummer und allenthalben Erfolg. Die Lieder und Urkunden, die Lebensregeln und die Kunst braucht man darum nicht zu verwerfen, aber die Erneuerung führen sie nicht herbei.«

Yän Hui stand mit gefalteten Händen nach Norden gewandt und sprach: »Auch ich habe die Einsicht erlangt.« Er ging hinaus und sagte es Dsï Gung. Dsï Gung geriet in äußerste Verwirrung und verlor allen Halt. Er kehrte nach Hause zurück und überließ sich den einstürmenden Gedanken. Sieben Tage lang konnte er weder schlafen noch essen, bis er schließlich zum Gerippe abmagerte. Yän Hui ging häufig zu[86] ihm und sprach ihm zu. Da kehrte er in die Lehre des Meisters zurück, spielte und sang und sagte die Urkunden her ohne Unterbrechung sein ganzes Leben lang.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 85-87.
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