[88] 3. Der ferne Heilige

Der Statthalter von Schang besuchte den Meister Kung und sprach: »Bist du ein Heiliger?« Meister Kung sprach: »Ein Heiliger! Wie könnte ich das mir unterstehen! Ich bin nur im Lernen bewandert und habe viele Kenntnisse.« Der Statthalter von Schang sprach: »Waren die drei Könige Heilige?« Meister Kung sprach: »Die drei Könige waren tüchtig in der Ausübung von Weisheit und Tatkraft. Waren sie Heilige, so weiß ich das nicht.« »Waren die fünf Herrscher Heilige?« Meister Kung sprach: »Die fünf Herrscher waren tüchtig in der Ausübung von Sittlichkeit und Pflicht. Waren sie Heilige, so weiß ich das nicht.« »Waren die drei Erhabenen Heilige?« Meister Kung sprach: »Die drei Erhabenen waren tüchtig in der Ausübung dessen, was die Zeit verlangte. Waren sie Heilige, so weiß ich das nicht.«

Da verwunderte sich der Statthalter sehr und sprach: »Ja, wer ist dann heilig?« Meister Kung veränderte die Miene und sprach nach einer Weile: »Unter den Leuten der Westgegend, da gibt es ja wohl einen Heiligen. Er ordnet nichts, und doch ist nichts verwirrt, er redet nichts, und alles glaubt von selber, er bessert nichts, und alles geht von selber. Unbegreiflich ist er! Und die Leute finden keinen Namen für ihn. Ich vermute, der ist wohl heilig. Ob er in Wahrheit ein Heiliger ist, oder in Wahrheit kein Heiliger ist – das weiß ich nicht.« Der Statthalter schwieg und überlegte in seinem Herzen: »Der Kung Kiu hat mich wohl zum besten?«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 88.
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