[97] 1. Widerstreit der Ideen von Raum und Zeit

Tang vom Hause Yin fragte Gi von Hia und sprach: »Gab es am Uranfang keine Welt?« Gi von Hia sprach: »Wenn es am Uranfang keine Welt gegeben hätte, wie könnte es dann heute eine Welt geben? Da konnten in Zukunft die Menschen auch behaupten, daß es heute keine Welt gebe.«

Tang von Yin sprach: »Dann gibt es also in der Welt kein Vorher und Nachher?« Gi von Hia sprach: »Ende und Anfang in der Welt sind nicht fest begrenzt. Jeder Anfang kann als Ende aufgefaßt werden, jedes Ende kann als Anfang gesetzt werden: wie soll ich ihren Verlauf erkennen können? Was jenseits der Welt liegt, was vor den Erscheinungen ist, ist etwas, das ich nicht erkennen kann.«

Tang von Yin sprach: »Gibt es dann im Raum eine äußere Grenze und letzte einfache Teile?« Gi von Hia sprach: »Das weiß ich nicht.« Tang fragte dringender. Gi sprach: »Gibt es einen leeren Raum, so hat er keine Grenzen, gibt es nur erfüllten Raum, so hat er letzte einfache Teile. Wie kann ich das erkennen? Doch kann man jenseits der Grenzen des Leeren noch einmal ein grenzenlos-grenzenloses Leere denken, innerhalb der unendlich kleinen Teile noch einmal unendlich-unendlich kleine Teile denken. Da jenseits des Grenzenlosen noch wieder ein grenzenlos Grenzenloses und innerhalb des unendlich Kleinen noch wieder ein unendlich-unendliches Kleines ist, so kann ich mir denken, daß es keine Grenzen und[97] keine letzten einfachen Teile gibt, nicht aber denken, daß es Grenzen und einfache Teile gibt.«

Tang fragte abermals und sprach: »Und wie ist es jenseits der vier Meere?« Gi sprach: »Grade so wie hier bei uns.« Tang sprach: »Wie willst du das beweisen?« Gi sprach: »Wenn ich nach Osten gehe, so komme ich nach Ying. Dort sind die Leute grade wie hier. Und wenn ich frage, wie es östlich von Ying ist, so ist es dort grade wie in Ying. Gehe ich nach Westen, so komme ich nach Bin. Dort sind die Leute grade wie hier. Und wenn ich frage, wie es westlich von Bin ist, so ist es dort grade wie in Bin. Daher weiß ich, daß es jenseits der vier Meere, jenseits der vier Wüsten, jenseits der vier Pole nicht anders ist als hier.

Weil immer ein Größeres das Kleinere in sich befaßt, darum gibt es kein Ende und keine Grenze. Es gibt etwas, das die Natur in sich befaßt, wie es auch etwas gibt, das die Welt in sich befaßt. Weil es etwas gibt, das die Natur in sich befaßt, darum gibt es kein Ende. Weil es etwas gibt, das die Welt in sich befaßt, darum gibt es keine Grenze. Wie kann ich auch wissen, ob es um unsere Welt herum nicht noch eine größere Welt gibt? Anderseits übersteigt das auch das Wissen. Immerhin folgt daraus, daß die Welt auch zur Natur gehört. Die Natur aber ist unvollkommen.

(Darum hat vor alters Nü Wa Steine von allen Farben ausgesucht, um den Schaden auszubessern und hat die Beine einer Riesenschildkröte abgebrochen, um sie als die vier Pole aufzustellen. Nach ihm kam Gung Gung; als der mit Dschuan Hü um die Herrschaft stritt, stieß er in seinem Zorn an den Berg Unvollkommen und zerbrach des Himmels Säule und zerriß der Erde Band. Darum fiel der Himmel nach Nordwesten, und Sonne, Mond und Sterne neigen sich seitdem dorthin. Die Erde aber füllt den Südosten nicht mehr aus, darum fließen alle Flüsse und Ströme dorthin.«)

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 97-98.
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