[110] 11. Die Macht der Töne I.

Zitherspiel

Wenn Gu Ba die Zither schlug, so kreisten die Vögel über ihm und die Fische sprangen aus dem Waser hervor. Der Musikmeister Wen von Dscheng hörte es. Er verließ sein Haus und folgte dem Meister Siang auf seinen Wanderungen. Er rührte mit dem Finger die Saiten drei Jahre lag, ohne daß es eine Melodie wurde. Der Meister Siang sprach: »Geh nur wieder nach Hause.«

Meister Wen legte die Zither weg, seufzte und sprach: »Nicht daran liegt es, daß ich die Saiten nicht zu rühren wüßte, nicht daran, daß ich keine Melodie zustande brächte; was mir im Sinne liegt, das bezieht sich nicht auf die Saiten; worauf ich ziele, das bezieht sich nicht auf die Töne. Solange ich innerlich im Herzen das noch nicht erreicht, kann ich ihm äußerlich auf dem Instrument noch keinen Ausdruck geben; darum wage ich nicht, die Hand zu regen und die Saiten zu rühren. Doch gebt mir noch eine kleine Weile Frist und seht dann, was ich kann.«

Nicht lange danach trat er wieder vor den Meister Siang. Der sprach: »Wie steht's mit deinem Zitherspiel?« Der Meister Wen sprach: »Ich habe es er reicht; bitte, prüfet mein Spiel.«

Darauf schlug er während des Frühlings die Schang-Saite an und ließ das achte Rohr begleiten. Da erhob sich plötzlich ein kühler Wind, und Kraut und Baum trugen Früchte. Als es Herbst geworden, schlug er die Güo-Saite an und ließ das zweite Rohr erwidern. Da kam laue Luft linde geflossen, und Kraut und Baum entfalteten ihre Pracht. Während des Sommers[110] schlug er die Yü-Saite an und ließ sie von dem elften Rohr begleiten. Da fiel Reif und Schnee durcheinander, die Flüsse und Seen wurden plötzlich starr. Als es Winter geworden, da schlug er die Dschï-Saite an und ließ das fünfte Rohr erwidern. Da ward der Schein der Sonne stechend heiß, und das harte Eis schmolz rasch zusammen. Zuletzt ließ er die Gung-Saite ertönen und vereinigte sie mit den vier anderen Saiten, da säuselten liebliche Winde, glückbringende Wolken schwammen, süßer Tau fiel herab, und kräftig rauschten die Quellen.

Der Meister Siang schlug an sein Herz und sprang empor und sprach: »Zauberhaft ist Euer Spiel. Auch der Meister Kuang (der Wolken und Winde) mit seinen Melodien (meistern konnte) und Dsou Yän (der) mit seiner Flöte (dem eisigen Norden Korn entlockte) konnten es nicht besser. Sie mögen mit der Zither unter dem Arm und der Flöte in der Hand Euch hinten nachfolgen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 110-111.
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