[98] 2. Relativität der Gegensätze

Gleichnis von den Inseln der Seligen

[98] Tang fragte abermals: »Gibt es in der Natur einen festen Maßstab für Größe und Kleinheit, Länge und Kürze, Gleichheit und Verschiedenheit?« Gi sprach: »Östlich vom Gelben Meer, wer weiß wie viele tausend Meilen weit, ist eine große Untiefe. In Wirklichkeit ist sie ein bodenloser Abgrund, sie heißt das große Grab. Alles Wasser der irdischen Gefilde und der Strom der Milchstraße fließen dorthin. Und doch nimmt es weder zu noch ab. In seiner Mitte waren fünf Berge: der eine heißt Dai Yü (der große Wagen), der zweite heißt Yüan Kiau (der runde Gipfel), der dritte heißt Fang Hu (die viereckige Urne), der vierte heißt Ying Dschou (Atlantis), der fünfte heißt Peng Lai (Irrgarten). Die Berge hatten eine Höhe und unteren Umfang von 30000 Meilen. Auf ihren Gipfeln war ein ebener Raum, der war 9000 Meilen groß. Zwischen den Bergen waren Zwischenräume von 70000 Meilen. Und doch galten sie noch als benachbart. Auf ihren Gipfeln sah man lauter Gold und Edelsteine; Vögel und Tiere waren rein wie weiße Seide; Bäume von Perlen und Korallen wuchsen in dichten Wäldern; Blumen und Früchte waren duftend und süß. Wenn man davon aß, ward man frei von Alter und Tod. Die Leute, die dort wohnten, waren alle Engel und Feen. Jeden Tag und jede Nacht flogen sie zueinander, sich zu besuchen in zahllosen Scharen.

Aber der fünf Berge Wurzeln waren lose, darum schwammen sie immer mit Flut und Wogen auf und ab, hin und her und standen keinen Augenblick fest. Die Engel verdroß das, und sie sagten es dem Herrn. Der Herr fürchtete, sie möchten nach dem Westpol getrieben werden und so der Wohnplatz der Engelscharen verloren gehen. Darum befahl er dem Yü Giang (Anfangsgrenze), fünfzehn ungeheure Seeschildkröten zu bringen, die auf ihren Köpfen die Berge tragen sollten. In dreimaliger Wechselfolge sollte jede immer 60000 Jahre[99] Dienst tun. So wurden die fünf Berge dann fest und bewegten sich nicht mehr.

Im Reiche des Drachenfürsten aber lebte ein Riese. Der hob den Fuß und kam mit ein paar Schritten an den Ort der fünf Berge. Er angelte mit einem Male sechs der Schildkröten und nahm sie miteinander auf den Rücken und kehrte in sein Land zurück. Dort röstete er die Schalen, um Orakel zu gewinnen. So trieben die beiden Berge Dai Yü und Yüan Kiau nach dem Nordpol und versanken im großen Meer. Von den Engeln aber wurden viele Millionen heimatlos. Der Herr ward zornig und verringerte das Reich des Drachenfürsten, daß es bedrückt ward, und verkleinerte seine Bewohner, daß sie kürzer wurden.

Zur Zeit des Fu Hi (brütender Atem) und des Schen Nung (göttlicher Landmann) waren die Leute ihres Reiches an hundert Fuß hoch. Vom Mittelbezirk nach Osten, 400000 Meilen, kommt man an das Dsiau-Yau-Reich. Dort sind die Leute anderthalb Fuß hoch. Am Nordostpol gibt es Menschen, die heißen Dsingleute, die werden neun Zoll groß. Im Süden von Ging gibt es Geister der Unterwelt (Schildkröten?), die 500 Jahre lang jung sind und 500 Jahre altern. In uralten Zeiten gab es große Götterbäume, die 8000 Jahre wuchsen und 8000 Jahre alterten. Im Moderboden wachsen Pilze, die morgens entstehen und abends sterben. In den Frühlings- und Sommermonaten gibt es Eintagsfliegen, die im Regen entstehen, und sterben, sobald sie an die Sonne kommen.

Nördlich vom kahlen Norden ist ein großer Ozean, der Himmelssee. Da gibt es einen Fisch, der ist wohl tausend Meilen breit und entsprechend lang. Sein Name ist Kun. Es gibt einen Vogel, der heißt Peng, dessen Flügel gleichen vom Himmel fallenden Wolken, und sein Leib ist entsprechend groß. Und doch weiß die Welt nicht, daß es solche Wesen gibt. (Der große Yü ging hin und sah sie, Be I kannte und benannte sie, I Giän hörte davon und zeichnete es auf.)[100]

Zwischen den Flüssen Giang und Pu entstehen winzige Lebewesen, namens Dsiau Ming, die in Scharen herbeifliegen und im Augenwinkel einer Mücke sich sammeln, ohne einander zu stoßen. Sie brüten und nisten, sie gehen und kommen, und die Mücke merkt nichts davon. Selbst Leute, die so scharf sehen wie ein Li Dschu und Dsï Yü, und wenn sie sich am hellen Tage die Augen reiben und die Brauen hochziehen, um sie zu sehen, erblicken nicht ihre Gestalt. Selbst Leute mit so feinem Gehör wie Li Yü und Schï Guang, und wenn sie sich in stiller Nacht die Ohren putzen und den Kopf ducken, um auf sie zu horchen, so vernehmen sie nicht ihren Laut. Nur der Herr der gelben Erde und Yung Tscheng Dsï, als sie auf dem Kung Tung wohnten und drei Monate fasteten, also daß ihr Herz erstarb und ihr Leib welkte, erblickten sie allmählich im Geiste als große Massen wie den Abhang des Sungberges; sie hörten sie allmählich im Äther als lautes Rollen wie des Donners Ton.

Im Staate Wu und Tschu (Südchina) wächst ein großer Baum, sein Name ist Pumalobaum. Er wächst im Winter, seine Früchte sind gelbrot und schmecken sauer. Die Schale und der Saft sind gut für das Wechselfieber. Die Leute vom Tsi-Bezirk (Nordchina) hielten den Baum für wertvoll und brachten ihn über den Huaifluß, da wurde der wilde dornige Apfelsinenbusch daraus. Der Mainavogel geht nicht über den Dsi-Fluß. Wenn der Dachs über den Wen-Fluß geht, so stirbt er. Das sind die Einflüsse des Klimas. Obwohl daher die einzelnen Arten an Gestalt und Kraft verschieden sind, so sind sie von Natur gleichmäßig ausgestattet, so daß sie nicht miteinander tauschen möchten. Ihr Leben ist durchaus vollkommen, ihr Anteil ist durchaus genügend. Woher soll ich da wissen, ob es einen festen Maßstab für Groß und Klein oder für Lang und Kurz oder für Gleichheit und Verschiedenheit gibt?«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 98-101.
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