[105] 7. Relativität der Moral

Guan Dschung drängte den Herzog Huan von Tsi, mit ihm zusammen eine Reise zu machen und die verschiedenen Staaten bei der Mündung des Liauflusses zu besuchen. Beinahe hätte er ihn dazu gebracht.

Da machte Si Peng Gegenvorstellungen und sprach: »Eure Hoheit wohnen in dem großen Staate Tsi, sein Volk ist zahlreich,[105] seine Berge und Flüsse gewähren schöne Aussicht, üppig gedeiht die Natur, es blühen Sitte und Recht, die Kunst verschönt das Leben, zauberhafte Pracht ziert die Schlösser, treue Diener füllen den Hof, ein Ruf: und Millionen sind gewärtig, ein Wink: und alle Fürsten gehorchen dem Befehl. Warum sollte man sich nach anderem sehnen und die Altäre von Tsi verlassen, um den Völkern der Barbaren nachzugehen? Das ist ein altersschwacher Gedanke des Vaters Dschung, der kein Gehör verdient.«

Der Herzog stand auf die Worte des Si Peng hin von dem Vorhaben ab und sagte es Guan Dschung. Der sprach: »Wahrlich, das ist etwas, das über den Gesichtskreis von Peng hinausgeht. Ich fürchte, daß es keinen anderen Weg gibt, jene Völker kennen zu lernen. Wozu dieses Kleben an den Reichtümern von Tsi? Wozu diese Beachtung der Worte des Peng?«

Die Bewohner der südlichen Länder scheren sich die Haare kurz und gehen nackt; die Bewohner der nördlichen Länder winden sich Turbane um den Kopf und gehen in Pelzen; die Bewohner der mittleren Länder tragen Hüte und Mützen und gehen in Kleidern. Je nach seiner Beschaffenheit begünstigt der Boden den Ackerbau, den Handel, die Jagd, den Fischfang. Daß man im Winter Pelze trägt, im Sommer Linnen, daß man zu Wasser Schiffe hat und auf dem Lande Wagen: das sind Erfindungen stillen Nachdenkens, deren Vollendung durch die Natur bewirkt wird.

Im Osten von Yüo ist das Land der Dschä Mu. Wird der erste Sohn geboren, so schlachten und essen sie ihn; das nennen sie Pflicht gegen die jüngeren Brüder. Stirbt der Großvater, so nehmen sie die Großmutter auf den Rücken und setzen sie aus; denn sie sagen: mit dem Weib eines Geistes darf man nicht zusammen wohnen. Im Süden von Tschu ist das Land der Feuermenschen. Wenn ihre Angehörigen sterben, so lassen sie ihr Fleisch verwesen und werfen es weg, dann begraben sie ihre Gebeine. Auf diese Weise erfüllen sie die Pflicht[106] der Pietät. Im Westen von Tsin ist das Land der I-Kü. Wenn ihre Angehörigen sterben, so sammeln sie Reisig und verbrennen sie. Wenn sie anbrennen, so steigt der Rauch empor. Das nennen sie: in den Himmel fahren. Dadurch erfüllen sie die Pflicht der Pietät. Dies alles gilt bei den Oberen als Staatsgesetz und bei den Unteren als fester Brauch, ohne daß man sich darüber zu wundern brauchte.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 105-107.
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