[131] 11. Der Schein trügt

Das beinahe Vollkommene ist dem Vollkommenen ähnlich; aber es ist von Anfang an unvollkommen. Das beinahe Verkommene ist dem Verkommenen ähnlich; aber es ist von Anfang an nicht verkommen. So entsteht die Betörung aus der Ähnlichkeit. Die Grenzen solcher Ähnlichkeiten sind verschwommen. Wer das Ähnliche ungetrübt zu unterscheiden vermag, der fürchtet nicht äußeres Unheil und freut sich nicht inneren Glücks.

Wann es die rechte Zeit ist zu wirken, und wann es die rechte Zeit ist innezuhalten, kann auch der Weiseste nicht wissen. Wer sich dem Schicksal überläßt, betrachtet die Außenwelt und das eigne Ich mit gleichen Gefühlen. Wer der Außenwelt und dem eignen Ich mit verschiedenen Gefühlen gegenübersteht, der ist noch nicht so weit wie einer, der mit verbundenen Augen und mit verstopften Ohren, im Rücken eine[131] Felswand und vor sich einen Sumpfgraben, dasteht und doch nicht hineinstürzt.

Darum heißt es: Tod und Leben kommen vom Schicksal, Armut und Mißerfolg hängen von der Zeit ab. Wer über ein vorzeitig abgebrochenes Leben murrt, kennt das Schicksal nicht. Wer über Armut und Mißerfolg murrt, kennt die Zeit nicht. Im Tode nicht zagen, unter Mißerfolg nicht trauern: das heißt das Schicksal kennen und sich der Zeit fügen.

Menschen, die viele Weisheit besitzen, ermessen Gewinn und Schaden, beurteilen, was nichtig ist und was wirklich, und berechnen der Menschen Gefühle: zur Hälfte erreichen sie ihr Ziel, zur Hälfte nicht. Menschen mit geringer Weisheit ermessen nicht Gewinn und Schaden, beurteilen nicht, was nichtig ist und was wirklich, und berechnen nicht der Menschen Gefühle: zur Hälfte erreichen sie ihr Ziel, und zur Hälfte nicht. Was ist darum für ein Unterschied zwischen Ermessen und Nichtermessen, zwischen Beurteilen und Nichtbeurteilen, zwischen Berechnen und Nichtberechnen? Nur wer nichts ermißt und alles ermißt, der erreicht das Vollkommene und hat keinen Verlust, und doch kennt er nicht die Vollkommenheit, noch kennt er den Verlust; denn Vollkommenheit, Nichtsein, Verlust beruhen alle auf sich selber.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 131-132.
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