[120] 2. Gleich und doch ungleich

Es war ein Herr von Nordhausen (Be Gung), der sprach zu dem Herrn von Westheim (Si Men): »Ich bin von demselben Alter wie du, und die Leute schaffen dir Erfolg; wir sind vom selben Stamm, und die Leute ehren dich; wir haben dieselbe Gestalt, und die Leute lieben dich; wir reden dieselben Worte, und wir haben dasselbe Amt, und die Leute achten dich; wir pflügen dieselben Felder, und die Leute schaffen dir Reichtum; wir treiben dieselben Geschäfte, und die Leute schaffen dir Gewinn; ich kleide mich in grobe Wolle, ich nähre mich von schwarzem Brot, ich wohne in einer strohgedeckten Hütte, und will ich reisen, so muß ich zu Fuß gehen. Du kleidest dich in Samt und Seide; du issest Reis und Fleisch, du[120] wohnst unter hohem Dache und fährst vierspännig aus. In der Heimat setzt du dich mit heiterer Gelassenheit über mich hinweg, bei Hofe bist du hochfahrend und stolz gegen mich. Seit Jahren meiden wir den gegenseitigen Verkehr und gehen nie mehr gemeinsam auf Reisen. Denkst du, daß du an Wesensart mir überlegen bist?« – Der von Westheim sprach: »Ich weiß nicht, was der eigentliche Grund ist. Aber was du machst, hat Mißerfolg, und was ich mache, das gelingt: das ist doch wohl ein Beweis, daß wir uns durch Fülle und Ärmlichkeit unterscheiden. Und was du da redest von Dingen, in denen du mir gleich seiest, kommt nur von deiner dicken Stirn.«

Der von Nordhausen hatte darauf nichts zu erwidern; er verlor seine Selbstachtung und ging nach Hause. Unterwegs begegnete er dem Lehrer Ostweiler (Dung Go). Der Lehrer sprach: »Was läufst du so verlassen und einsam hin und her, und deine Schritte zeigen tiefe Scham?« Der von Nordhausen erzählte seine Geschichte. Da sprach der Lehrer Ostweiler: »Ich will dir deine Beschämung abnehmen und wieder mit dir zu dem Westheim gehen.« Er fragte jenen nun: »Womit hast du den Nordhausen so sehr beschämt? Sage es alles der Wahrheit gemäß!« Der von Westheim sprach: »Der Nordhausen sagte, daß er an Alter, Stamm, Jahren, Gestalt, Worten und Taten mir gleich sei, aber an Ehre und Reichtum hinter mir zurückstehen müsse. Ich habe daraufhin zu ihm gesagt: ›Ich weiß nicht, was der eigentliche Grund ist. Aber was du machst, hat Mißerfolg, und was ich mache, das gelingt: das ist doch wohl ein Beweis, daß wir uns durch Fülle und Ärmlichkeit unterscheiden. Und was du da redest von Dingen, in denen du mir gleich seiest, kommt nur von deiner dicken Stirn.‹«

Der Lehrer Ostweiler sagte: »Fülle und Ärmlichkeit ist nach deinen Worten beschränkt auf den Unterschied des Wesens der Begabung. Ich fasse eure Fülle und Ärmlichkeit anders auf. Der Nordhausen da hat Fülle des Wesens, aber ein ärmliches[121] Schicksal, du hast Fülle des Schicksals, aber ein ärmliches Wesen. Deine Erfolge sind nicht durch deine Weisheit errungen, Nordhausen hat sich seine Mißerfolge nicht durch Torheit zugezogen. Das sind alles Wirkungen des Himmels, nicht der Menschen. Daß du dich der Fülle des Schicksals rühmst, und Nordhausen der Fülle seines Wesens sich schämt, kommt beides daher, daß ihr die Naturgesetze nicht kennt.« Der von Westheim sprach: »Herr, haltet ein! Ich will nie wieder so reden!«

Als nun Nordhausen heimkam, da zog er seinen groben Wollkittel an und fühlte sich so warm wie in Fuchs- oder Dachspelzen. Er aß seine Bohnenkerne, und sie schmeckten ihm so gut wie der feinste Reis; er barg sich in seiner Strohhütte, als säße er im Schatten weiter Hallen. Er fuhr in seinem Heuwagen so behaglich wie in einer Staatskarosse. Er hatte seine ganze Lebensfreudigkeit wiedergefunden und wußte nicht mehr, ob Ehre oder Schande auf der Seite des anderen oder auf seiner Seite seien.

Lehrer Ostweiler hörte es und sprach: »Der Nordhausen hat lange geschlafen, und doch konnte ein einziges Wort ihn aufwecken. Der ist leicht aus der Fassung zu bringen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 120-122.
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