[122] 3. Beispiel aus der Geschichte für die Unfreiheit der Handlungen

Die beiden Männer Guan I Wu (Guan Dschung) und Bau Schu Ya waren gute Freunde. Sie lebten beide im Staate Tsi. Guan I Wu diente dem Prinzen Giu, Bau Schu Ya diente dem Prinzen Siau Be. Der Herzog von Tsi handelte in seinem Hause nach der Gunst. Die Söhne seiner Nebenfrauen hatten dieselben Rechte wie die legitimen Prinzen. Die Leute im Volke fürchteten, daß daraus Unruhen entstehen möchten. Guan I Wu und sein Kollege Schau Hu zogen sich daher mit dem Prinzen Giu in den Staat Lu zurück, während Bau[122] Schu Ya mit dem Prinzen Siau Be nach dem Staate Gü sich zurückzog.

Nach dem Tode des alten Herzogs erhob sich sein Enkel Wu Dschï (gegen den legitimen Nachfolger Siang. Der Usurpator wurde jedoch selbst vom Volke umgebracht). Da nun der Staat Tsi ohne Fürsten war, stritten die beiden Prinzen um die Thronfolge. Guan I Wu kämpfte mit dem Prinzen Siau Be auf dem Wege von Gü und traf ihn mit einem Pfeil auf das Gürtelschloß (dennoch behielt Siau Be die Oberhand). Als Siau Be nun als Herzog eingesetzt war, da drängte er den Fürsten von Lu, den Prinzen Giu zu töten. Dessen einer Minister, Schau Hu, ging mit ihm in den Tod. Guan I Wu (der sich nicht getötet hatte) wurde eingekerkert.

Da sprach Bau Schu Ya zu dem Herzog Huan (dem früheren Prinzen Siau Be): »Guan I Wu hat die Fähigkeit, das Reich zu leiten.« Herzog Huan sprach: »Der ist mein Feind, ich möchte ihn töten.« Bau Schu Ya sprach: »Ich habe sagen hören, ein würdiger Fürst kenne keinen persönlichen Groll, und dann: wer sein Herr zu sein vermag, der vermag auch sicher Herr des Reichs zu sein. Wenn Ihr die Vorherrschaft im Reiche erstrebt: ohne Guan I Wu läßt sie sich nicht erreichen. Darum müßt Ihr, o Fürst, ihn befreien.« Darauf verlangte der Herzog den Guan I Wu. Der Staat Lu lieferte ihn aus. Als er nach Tsi kam, empfing ihn Bau Schu Ya auf dem Felde und löste seine Fesseln. Der Herzog Huan beschenkte ihn und gab ihm seinen Platz noch über den Geschlechtern Gau und Guo. Bau Schu Ya war ihm persönlich unterstellt. Es wurde ihm die Leitung des Staates übertragen und der Titel »Vater Dschung« verliehen. Und Herzog Huan gewann die Vorherrschaft im ganzen Reiche.

Guan I Wu sprach seufzend: »In meiner Jugend, als ich in Bedrängnis war, habe ich mit Bau Schu Ya Geschäfte gemacht. Bei der Verteilung der Güter nahm ich selber den größeren Anteil. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für habgierig, sondern wußte, daß ich es aus Armut tat. Ich machte mit Bau[123] Schu Ya zu sammen Pläne und hatte großen Mißerfolg. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für töricht, sondern wußte, daß Gelingen und Mißlingen seine Zeit hat. Ich war dreimal im Amt gewesen und war dreimal von meinem Herrn weggejagt worden. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für unbrauchbar, sondern wußte, daß ich die rechte Gelegenheit noch nicht gefunden. Ich stand dreimal in der Schlacht und habe dreimal dem Feind den Rücken gekehrt. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für feige, sondern wußte, daß ich eine alte Mutter hatte. Als Prinz Giu unterlegen, ging Schau Hu mit ihm zusammen in den Tod. Ich kam ins dunkle Verließ und hatte Schmach und Schande zu tragen. Bau Schu Ya hielt mich darum nicht für ehrlos, sondern wußte, daß ich mich nicht um Kleinigkeiten schäme, aber es als Schmach achte, wenn mein Name nicht auf Erden bekannt wird. Die mich erzeugten, sind Vater und Mutter, der mich kennt, ist Bau Schu Ya.«

Unsere Zeit rühmt Guan und Bau als treue Freunde und den Prinzen Siau Be als einen, der es verstand, fähige Menschen in seinen Dienst zu ziehen. Aber in Wirklichkeit kommt ihnen das Lob der Freundestreue und der Tüchtigkeit im Gebrauche fähiger Menschen nicht zu. Damit soll nicht gesagt sein, daß andere eine höhere Stufe in der Freundestreue oder in der Tüchtigkeit im Gebrauch fähiger Menschen einnehmen. Daß Schau Hu in den Tod ging, war nicht seine freie Tat; er konnte gar nicht anders als in den Tod gehen. Daß Bau Schu den Würdigsten empfahl, war nicht seine freie Tat; er konnte gar nicht anders als ihn empfehlen. Daß Siau Be seinen Feind verwandte, war nicht eine freie Tat; er konnte gar nicht anders als ihn verwenden.

Als Guan I Wu schließlich erkrankte, da fragte Siau Be und sprach: »Vater Dschungs Krankheit ist schwer, wir dürfen's uns nicht verschweigen. Wenn es nun zum äußersten kommt, wem kann ich dann den Staat anvertrauen?« Guan I Wu sprach: »An wen denken Eure Hoheit?« Siau Be sprach: »Bau[124] Schu Ya ist wohl geeignet.« Guan I Wu erwiderte: »Er ist nicht geeignet. Er führt den Wandel eines reinen, unbestechlichen, tüchtigen Gelehrten. Mit Leuten, die nicht seine Lebensrichtung haben, kommt er nicht aus. Hört er einmal, daß jemand sich etwas hat zuschulden kommen lassen, so vergißt er das sein Leben lang nicht. Betraute man ihn mit der Verwaltung des Staates, so würde er den Fürsten in Verwickelungen bringen und das Volk unzufrieden machen. Diese Verfehlungen dem Fürsten gegenüber würden rasch zum Ende führen.« Siau Be sprach: »Ja, wer ist dann geeignet?« Er erwiderte: »Es wird wohl niemand anders übrigbleiben als Si Peng (der persönliche Feind des Guan I Wu). Er ist ein Mensch, der sich nichts daraus macht, wenn er in hoher Stellung ist; dadurch entgeht er dem Neid der Untergebenen. Er stellt sich selbst die höchsten Ziele und hat Mitleid mit denen, die schlechter sind als er. Mit der Kraft des geistigen Wesens die Menschen zur Pflicht zu bringen, das ist die Sache des berufenen Heiligen; durch Spenden die Menschen zur Pflicht zu bringen, das ist die Art der würdigen Männer. Wer mit seiner Würde von oben her den Menschen naht, der wird niemals die Menschen für sich gewinnen; wer sich aber mit seiner Würde unter die Menschen hinuntergibt, der wird sicher die Menschen gewinnen. Was er im Staate an Besitz erwirbt, wird nicht bekannt; was er im Hause an Besitz erwirbt, bleibt ungesehen. Wenn es also nicht anders geht, so ist Si Peng geeignet.«

Und dennoch hat nicht etwa Guan I Wu den Bau Schu Ya benachteiligt: er konnte gar nicht anders als ihn benachteiligen. Nicht er hat den Si Peng bevorzugt; er konnte gar nicht anders als ihn bevorzugen. Es mag wohl vorkommen, daß man einen, den man anfangs bevorzugt hat, schließlich benachteiligen muß, oder daß man einen, den man schließlich bevorzugt, erst benachteiligt hatte. Das Kommen und Schwinden der Art des Benehmens hängt nicht von uns ab.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 122-125.
Lizenz: