[148] 12. Vom Leiden der Gerechten und vom Glück der Gottlosen

Yang Dschu sprach: »Alles Gute in der Welt sagt man dem Schun und dem Yü, dem Herzog Dschou und dem Kung Dsï nach, alles Üble in der Welt dem Giä und Dschou Sin. Aber Schun hatte zu pflügen im Süden des (gelben) Flusses und bildete Gefäße am Donnersumpf (Le Dsche); keinen Augenblick konnte er seinen Gliedern Ruhe gönnen; sein Mund erfreute sich nicht an köstlichen Speisen; die Liebe seiner Eltern hatte er nicht, und seine Geschwister waren ihm nicht zugetan. Als er dreißig Jahre verbracht, da heiratete er, ohne es ihnen anzuzeigen, und als er endlich das Reich von Yau überkam, da war er schon hochbetagt, und sein Geist war schon stumpf geworden. Sein Sohn Schang Gün war unbrauchbar; so mußte er den Thron dem Yü abtreten. Unter Not und Kummer kam er zum Tode. Er war der unglücklichste und elendeste unter allen Menschen.

Yü's Vater Gung sollte Land und Wasser in Ordnung bringen. Als seine Bemühungen keinen Erfolg hatten, da ward er lebenslänglich verbannt auf den Flügelberg (Yüschan). Yü hatte seine Erbschaft zu übernehmen und mußte seinem Feinde dienen. Nur der Urbarmachung des Landes galt sein Bemühen. Ein Sohn ward ihm geboren, und er konnte sich nicht um ihn kümmern. Er kam an seiner Tür vorbei und hatte keine Zeit einzutreten. Sein ganzer Leib war verrunzelt; an Händen und Füßen hatte er Schwielen und Beulen. Als er endlich das Reich von Schun überkam, da wohnte er in einer[148] ärmlichen Hütte mit prächtiger Kleidung und Krone. Unter Not und Kummer kam er zum Tode. Er war der geplagteste und sorgenvollste unter allen Menschen.

Als der König Wu starb, da war sein Sohn Tscheng noch jung und schwach. So mußte sein Bruder, der Herzog von Dschou, des Himmelssohnes Herrschaft verwalten. Sein eigner Bruder, der Herzog Yau, war unzufrieden. Im ganzen Reiche liefen üble Gerüchte über ihn um, so daß er drei Jahre lang fern von der Hauptstadt verweilen mußte. Er mußte seinen älteren Bruder hinrichten und seinen jüngeren Bruder verbannen, und kaum rettete er sein eignes Leben. Unter Not und Kummer kam er zum Tode. Er war der bedrohteste und beunruhigteste unter allen Menschen.

Kung Dsï erkannte den Weg der Herrscher und Könige und war bereit, den Einladungen der Fürsten seiner Zeit zu folgen. In Sung wollten sie ihn töten durch Fällen des Baumes (unter dem er saß). Aus dem Staate We mußte er sich heimlich flüchten; im Staate Schang und Dschou hatte er Mißerfolg; im Staate Tschen und Tsai wurde er eingeschlossen. In seiner Heimat geschah ihm Unrecht vom Haupt des Hauses Gi, und er ward verhöhnt von Yang Hu. Unter Not und Kummer kam er zum Tode. Er war der umhergetriebenste und gehetzteste unter allen Menschen.

Alle diese vier Heiligen hatten während ihres Lebens nicht Einen Tag der Freude. Wohl ernteten sie nach ihrem Tode jahrhundertelangen Ruhm; aber in Wirklichkeit gewannen sie mit diesem Ruhme nichts, von allem Lob wissen sie nichts mehr, von allen Ehrungen wissen sie nichts mehr. Sie unterscheiden sich in nichts von einem dürren Baumstumpf und einem Erdenkloß.

Der Tyrann Giä dagegen überkam die Schätze vieler Geschlechter, er saß geehrt auf dem Herrscherthron. Er hatte genügend Verstand, um der Knechte Schar von sich fernzuhalten. Der Schrecken, der von ihm ausging, reichte hin, um alles innerhalb der Meere zittern zu machen. Er ließ den Genüssen[149] seiner Sinne freien Lauf und führte bis zu Ende aus, was immer in seinem Sinne stand. In Saus und Braus kam er zum Tode. Er war der glücklichste und ungebundenste unter allen Menschen.

Dschou Sin überkam ebenfalls die Schätze vieler Geschlechter und saß geehrt auf dem Herrscherthron. Dem Schrecken, der von ihm ausging, war nichts unmöglich, und seinem Willen war niemand ungehorsam. Er gab sich seinen Leidenschaften hin im Innern des Palastes und folgte seinen Lüsten die langen Nächte hindurch. Er verbitterte sich nicht das Leben durch Sitte und Recht. In Saus und Braus kam er zum Untergang. Er war der freieste und unbeschränkteste unter allen Menschen.

Diese beiden Bösewichter hatten während ihres Lebens die Freude, ihren Lüsten folgen zu können. Wohl luden sie nach ihrem Tode den Namen von Narren und Scheusalen auf sich; aber in Wirklichkeit verloren sie durch diesen Namen nichts, von allen Verleumdungen wissen sie nichts mehr, von allen Beschimpfungen wissen sie nichts mehr. Sie unterscheiden sich in nichts von einem dürren Baumstumpf und einem Erdenkloß.

Jenen vier Heiligen sagt man nun wohl Gutes nach; aber sie hatten Bitternis bis zu ihrem Ende und sind den allen gemeinsamen Weg in den Tod gegangen. Jenen beiden Bösewichtern sagt man wohl Übles nach; aber sie genossen der Freuden bis zu ihrem Ende und sind ebenfalls den allen gemeinsamen Weg in den Tod gegangen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 148-150.
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