[141] 8. Die beiden Übermenschen

Dsï Tschan war Kanzler in Dscheng, und nachdem er die Gewalt im Staate drei Jahre lang in seiner Hand vereinigt hatte, da folgten die Guten seinem Einfluß, und die Bösen scheuten seine Strenge. So kam der Staat Dscheng in Ordnung, und die übrigen Reichsfürsten fürchteten ihn. Er aber hatte einen älteren Bruder namens Gung Sun Tschan und einen jüngeren Bruder namens Gung Sun Mu. Der ältere war dem Wein ergeben und der jüngere der Frauenschönheit.

Vor dem Hause des älteren standen Tausende von Weinfässern aufgestapelt, und die Hefe lag in Haufen umher. Wenn man auf hundert Schritt dem Tore nahte, so beleidigte der Geruch von Trebern und ungegorenem Wein die Nase. Und nun erst seine Unmäßigkeit im Weingenuß! Er kümmerte sich nicht um des Weltlaufs Sicherheit oder Gefahr, nicht um Reue oder Verzweiflung menschlicher Vernunft, nicht um Besitz oder Verlust im eigenen Hause, nicht um Zuneigung oder Entfremdung seiner Verwandten, nicht um Freude und[141] Trauer über Leben und Tod, ja selbst wenn Wassersnot und Feuersnot, Schwert und Spieß gleichzeitig ihn bedroht hätten, er hätte es nicht beachtet.

Der jüngere hatte sich in seinen hinteren Gemächern einen Harem von Dutzenden von Zimmern angelegt, den er mit ausgesucht jungen und schönen Mädchen gefüllt hatte. Und nun erst seine Ausschweifung in Wollust! Die Verwandten trieb er weg, und mit den Freunden brach er. Er zog sich in die inneren Gemächer zurück und trieb dort Tag und Nacht sein Wesen. Alle drei Monate kam er nur einmal hervor, und selbst dabei war ihm noch nicht wohl. Wenn in der Gegend irgendwo eine besonders schöne Jungfrau war, so sandte er sicher Geschenke, um sie herbeizulocken, brauchte Kuppler, um sie zu verführen, und ließ nicht ab, ehe er sie bekommen.

Dsï Tschan war Tag und Nacht darüber bekümmert. Er suchte heimlich den Deng Si auf, um ihn um Rat zu fragen, und sprach: »Ich weiß, daß man erst sein Selbst in Ordnung bringen muß, um auf die Familie Einfluß zu gewinnen, daß man erst sein Haus in Ordnung bringen muß, um auf den Staat Einfluß zu gewinnen. Dieser Grundsatz besagt, daß man im engsten Kreise anfangen muß, um weitere Kreise zu erreichen. Nun habe ich im Staate Ordnung geschaffen, aber meine Familie ist in Unordnung. Das ist der verkehrte Weg. Was für ein Mittel gibt es nun, um die beiden Herren zurechtzubringen? Willst du mir's nicht kundtun?« Deng Si sprach: »Ich wundere mich schon lange darüber; aber ich habe nicht gewagt, zuerst davon zu reden. Willst du sie nicht schleunigst zur Ordnung bringen, indem du ihnen die Wichtigkeit von Leib und Leben klarmachst und sie anziehst durch die Erhabenheit von Recht und Sitte?«

Dsï Tschan befolgte die Worte Deng Si's und benützte eine freie Stunde, um seine Brüder zu besuchen. Und er redete mit ihnen also: »Was den Menschen vor dem Tiere auszeichnet, das ist sein sinnender Verstand; worauf der sinnende Verstand uns weist, das ist Sitte und Recht. Wenn man in allen[142] Stücken nach Sitte und Recht lebt, so kommt man zu Ehren und Ämtern; wenn man von seinen Leidenschaften sich treiben läßt und sich der Völlerei und Wollust ergibt, so bringt man Leib und Leben in Gefahr. Wenn ihr meine Worte zu Herzen nehmt und morgens Buße tut, so habt ihr abends schon ein Amt.«

Die beiden Brüder sprachen: »Das wissen wir schon längst und haben auch schon längst unsere Wahl getroffen! Wir brauchten nicht auf dich zu warten, um das zu erfahren. Es ist ein seltenes Glück zu leben; der Tod aber kommt ganz von selbst. Was ist das für ein Gedanke, das seltene Glück des Lebens preiszugeben, um auf den Tod zu warten, der doch ganz von selbst kommt; Sitte und Recht hochzuhalten, um vor den Menschen zu prahlen; seinen Gefühlen und seiner Natur Gewalt anzutun, um den Ruhm herbeizulocken! Wenn wir das tun wollten, wären wir dann nicht so gut wie schon tot? Wir wünschen die Freuden dieses einen Lebens auszukosten und die Genüsse der Gegenwart zu erschöpfen. Darum kennen wir nur die Sorge, daß, wenn der Leib überfüllt ist, der Genuß am Trunk gehindert wird, daß, wenn die Kraft erschöpft ist, die Befriedigung der Lust gehindert wird; nicht aber beunruhigen wir uns darüber, daß unser Name stinkend wird und unser Leib und Leben in Gefahr kommt. Du aber kannst doch mit deiner Geschicklichkeit, den Staat zu ordnen, vor der Welt prahlen! Nun willst du auch noch mit deinem Geschwätz unser Herz verwirren und mit Ehre und Ämtern unseren Gedanken schmeicheln. Ist das nicht gemein oder erbärmlich?

Nun wollen wir einmal mit dir rechten. Wenn einer tüchtig ist in der Ordnung des Äußeren, so ist es noch lange nicht sicher, daß die Welt durch ihn in Ordnung kommt; aber er selbst hat eitel Mühsal. Wenn einer dagegen tüchtig ist, sein Inneres in Ordnung zu bringen, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß die Welt durch ihn in Unordnung kommt; aber sein eignes Wesen hat eitel Behagen. Deine Art, das Äußere[143] in Ordnung zu bringen, mag wohl zeitweise in einem Staat Erfolg haben; aber sie stimmt nicht überein mit dem Herzen der Menschen. Unsere Art, das Innere in Ordnung zu bringen, kann auf die ganze Welt ausgedehnt werden, und das Verhältnis zwischen Fürst und Untertan käme schließlich dadurch zur Ruhe. Wir haben schon lange im Sinne gehabt, dich diese Kunst zu lehren. Nun kommst statt dessen du zu uns, um uns in jener Kunst zu unterweisen!«

Dsï Tschan kam in Verlegenheit und hatte nichts zu erwidern. Am anderen Tag teilte er es dem Deng Si mit. Deng Si sprach: »Du lebst mit Übermenschen zusammen und hast es nicht gewußt; wer will behaupten, daß du weise seist! Daß der Staat Dscheng in Ordnung ist, ist Zufall und nicht dein Verdienst.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 141-144.
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