20. Der barmherzige Räuber und der gerechte Wanderer

[173] Im Morgenland lebte ein Mann, der hieß Huan Scheng Mu. Er machte eine Reise und wurde unterwegs vom Hunger überwältigt.

Es war aber ein Räuber aus Hu Fu namens Kiu; der sah ihn und brachte ihm Wein und Speise hinab, um ihn zu stärken.

Huan Scheng Mu stärkte sich dreimal; da konnte er wieder gehen und sprach: »Wer seid Ihr?«

Er sprach: »Ich bin ein Mann aus Hu Fu namens Kiu.«

Huan Scheng Mu sprach: »O, bist du nicht ein Räuber? Wie kommst du dazu, mich zu speisen? Die Pflicht verbietet mir, deine Speise zu essen.«

Und er stützte beide Hände auf die Erde und wollte es wieder von sich geben. Aber es kam nichts heraus als Gegurgel. Darauf streckte er sich aus und starb. Der Mann aus Hu Fu war wohl ein Räuber; aber daß er jenen speiste, war nicht Raub. Daß jener nun, weil sein Wohltäter ein Räuber war, auch die Speise, die er ihm bot, als Raub ansah und sich weigerte, davon zu essen, beruhte auf einer Verwechslung von Name und Wirklichkeit.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 173.
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