[174] 23. Das verlorene Schaf

[174] Der Nachbar des Meisters Yang hatte ein Schaf verloren. Er zog mit allen seinen Leuten aus und bat auch noch den Yang Dschu um seine Knechte, um ihm nachzugehen.

Meister Yang sprach: »Ei! Was sollen denn die vielen Leute, um dem einen verlorenen Schafe nachzugehen!«

Der Nachbar sprach: »Es gibt so viele Seitenwege.«

Als sie zurückkamen, fragte er: »Habt ihr das Schaf gefunden?«

Er sprach: »Es ist verloren.«

Meister Yang sprach: »Wie ging es denn verloren?«

Jener sprach: »Die Seitenwege hatten wieder Seitenwege, und wir wußten nicht, wo es hin ist. Darum sind wir umgekehrt.«

Meister Yang wurde traurig. Seine Mienen verdüsterten sich; lange Zeit redete er nichts, und den ganzen Tag lachte er nicht mehr.

Seine Jünger verwunderten sich darob, baten ihn um Auskunft und sprachen: »Ein Schaf ist doch ein geringes Haustier, und noch dazu gehörte es nicht dem Meister. Was ist der Grund, daß Ihr um seinet willen schweigsam und verstimmt seid?«

Meister Yang gab keine Antwort.

Die Jünger verstanden nicht, was er meinte.

Da ging der Jünger Meng Sun Yang hinaus und sagte es dem Sin Du Dsï.

Sin Du Dsï trat tags darauf gemeinsam mit Meng Sun Yang vor den Meister, fragte ihn und sprach: »Vor alters lebten drei Brüder, die in der Gegend der Länder Tsi und Lu umherwanderten. Sie hatten denselben Lehrer, bei dem sie den Weg zur moralischen Vollkommenheit lernten.

Als sie heimkehrten, sprach ihr Vater: ›Wie ist es mit dem Weg der Moral?‹ Der älteste sprach: ›Die Moral verlangt von mir, daß ich mein eignes Selbst wert halte und den Namen hintan setze.‹[175]

Der zweite sprach: ›Die Moral verlangt von mir, daß ich mein eignes Selbst in den Tod gebe, um mir einen Namen zu machen.‹

Der dritte sprach: ›Die Moral verlangt von mir, daß ich mein eignes Selbst und meinen Namen gleichzeitig vervollkommene.‹

Diese drei Brüder waren in ihren Meinungen entgegengesetzt, und doch hatten sie denselben rechtgläubigen Lehrer. Welcher hatte nun recht, und welcher hatte unrecht?«

Meister Yang sprach: »Es war einmal ein Mann, der lebte am Ufer eines Flusses. Er war an das Wasser gewöhnt und kühn im Tauchen. Er verstand es, eine Fähre zu lenken, in der er (die Reisenden) für Geld übersetzte. Damit verdiente er soviel, daß er eine große Familie ernähren konnte. So kam eine Schar von Schülern zu ihm mit ihrer Wegzehrung im Bündel. Aber fast die Hälfte davon ertrank. Und doch waren sie ursprünglich gekommen, um das Tauchen zu lernen, nicht um das Ertrinken zu lernen. Da es sich also verhält mit Gewinn und Schaden, welcher hatte nach deiner Meinung recht und welcher unrecht?«

Sin Du Dsï schwieg und ging hinaus.

Meng Sun Yang fuhr ihn an und sprach: »Was für Umschweife habt Ihr doch gemacht, um den Meister zu fragen, daß Euch der Meister so seltsam geantwortet hat! Ich bin jetzt nur noch mehr im unklaren.«

Sin Du Dsï sprach: »Auf der großen Straße ging das Schaf verloren wegen der vielen Seitenwege. Die Lernenden richten ihr Leben zugrunde wegen der vielen Meinungen. Die Lehre ist nicht ihrem Ursprung nach widerspruchsvoll, nicht ihrem Ursprung nach uneinheitlich, sondern nur die Folgerungen sind verschieden. Da es sich also verhält, so wird nur der dem Untergang entgehen, der zur Gleichheit sich wendet und umkehrt zur Einheit. Schon so lange sitzt Ihr zu den Füßen des Meisters und übt des Meisters SINN, und doch versteht ihr noch nicht des Meisters Meinung! Das ist wirklich traurig.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 174-176.
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