[160] 6. Selbstbewußte Armut

Der Meister Liä Dsï war arm, so daß er in seinem ganzen Äußeren den Anblick des Hungers bot.

Ein Fremder erzählte es dem Fürsten Dsï Yang von Dscheng und sprach: »Liä Yü Kou ist doch wohl ein Weiser, der im Besitz des SINNS der Wahrheit ist. Er wohnt im Reiche Eurer Hoheit und ist arm. Schätzt Eure Hoheit denn die Weisen gar nicht?«

Da ließ Dsï Yang von Dscheng durch einen Beamten ihm Getreide überbringen. Meister Liä Dsï empfing den Abgesandten[160] am Tor, verneigte sich zweimal vor ihm und lehnte die Gabe ab. Als der Abgesandte weg war, ging Meister Liä Dsï wieder in sein Haus zurück. Sein Weib blickte ihn an, preßte die Hand aufs Herz und sprach: »Ich habe gehört, daß Weib und Kind eines Mannes, der im Besitz des SINNS der Wahrheit ist, eitel Freude und Wonne haben. Wir aber müssen Hunger leiden. Und nun, da der Fürst unserer Lage entgegenkam und dir ein Geschenk von Speise machte, nimmst du es nicht an. Wahrlich ein bitteres Los!«

Meister Liä Dsï sprach lächelnd zu ihr: »Der Fürst kennt mich nicht von sich aus, sondern auf anderer Leute Reden hin hat er mir das Geschenk von Getreide geschickt und mich dadurch schwer beleidigt. Und das noch dazu auf anderer Leute Reden hin! Das war der Grund, warum ich nicht annahm.« Schließlich erhob sich tatsächlich das Volk und machte einen Aufruhr, in dem Dsï Yang getötet wurde.

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 160-161.
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