[161] 7. Wenn zwei dasselbe tun

In Lu lebte ein Mann namens Schï; der hatte zwei Söhne. Der eine liebte die Gelehrsamkeit, der andere liebte das Waffenhandwerk. Der Gelehrte wandte sich an den Fürsten von Tsi, um seine Gelehrsamkeit an den Mann zu bringen. Der Fürst von Tsi nahm ihn auf und machte ihn zum Erzieher sämtlicher Prinzen. Der Kriegstüchtige ging nach Tschu und wandte sich an den König von Tschu, um seine Künste an den Mann zu bringen. Der König war erfreut und machte ihn zum General. Durch das Einkommen der beiden Brüder wurde die ganze Familie reich, und durch ihren Rang machten sie ihren Eltern Ehre.

Schï hatte einen Nachbarn namens Meng. Der hatte ebenfalls zwei Söhne, die denselben Beruf ausübten, und doch waren sie von Armut bedrückt. Er war lüstern nach dem Besitz der Familie Schï. Darum wandte er sich an sie und bat um[161] Auskunft über das Mittel zu solch einem raschen Vorwärtskommen. Die beiden Söhne sagten ihm alles der Wirklichkeit gemäß. Da wandte sich der eine Sohn des Meng nach Tsin, um seine Gelehrsamkeit beim König von Tsin an den Mann zu bringen.

Der König von Tsin sprach: »Heutzutage kämpfen die Landesfürsten mit aller Kraft; worauf alles an kommt, sind Waffen und Proviant. Wenn ich mit Liebe und Gerechtigkeit mein Reich in Ordnung bringen wollte, so wäre das der (sicherste) Weg zum Verderben.«

Darauf ließ er ihn verschneiden und ließ ihn laufen.

Der andere Sohn ging nach We, um beim Fürsten von We seine (kriegerischen) Künste an den Mann zu bringen.

Der Fürst von We sprach: »Mein Land ist schwach und eingezwängt zwischen große Reiche. Den großen Reichen diene ich, den kleinen Reichen helfe ich. Das ist der Weg, um Ruhe zu finden. Wenn ich mich auf Waffengewalt verlassen wollte, so brauchte ich nicht lange auf mein Verderben zu warten. Wenn ich den Mann da aber unbeschädigt weglasse, so würde er sich an ein anderes Reich wenden und mir nicht geringen Verdruß bereiten.«

Darauf ließ er ihm die Füße abhauen und ihn so nach Lu zurückbringen.

Als sie zurück waren, da schlugen sich der Vater und seine Söhne auf die Brust und kamen scheltend zu Schï.

Der sprach: »Wer die Zeit trifft, dem gelingt es; wer die Zeit verfehlt, der kommt ins Verderben. Euer Weg war derselbe wie meiner, und doch ist der Erfolg verschieden; das kommt davon, daß ihr die Zeit nicht getroffen, nicht etwa davon, daß ihr in euren Taten es verfehlt hättet. Außerdem gibt es auf der Welt keine Wahrheit, die unter allen Umständen richtig wäre, und keine Handlung, die unter allen Umständen unrichtig wäre. Was in früheren Tagen gebraucht wurde, wird heute vielleicht verworfen. Was heute verworfen wird, wird später vielleicht gebraucht. Ob etwas gebraucht wird[162] oder nicht gebraucht wird, das folgt nicht einer festen Regel. Wie man eine Gelegenheit benützt, die rechte Zeit trifft, den Verhältnissen sich anpaßt, dafür gibt es kein Rezept, das kommt alles auf die Klugheit an. Fehlt es an dieser Klugheit, so mag man einen Herrn nehmen, gelehrt wie Kung Kiu und gewandt wie Lü Schang: er geht hin und hat sicher Mißerfolg.«

Vater Meng und seine Söhne gaben sich zufrieden und sagten ohne Groll: »Wir begreifen es, Ihr braucht es uns nicht noch einmal zu sagen.«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 161-163.
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