I. Aufhören des Ausströmens

[116] Willst du vollenden den diamantnen Leib ohne Ausströmen,

Mußt du mit Fleiß die Wurzel des Bewußtseins und Lebens erhitzen.

Du mußt erleuchten das stets nahe selige Land

Und dort immer dein wahres Ich verborgen wohnen lassen.


(Die Abbildung, die im chinesischen Text hier steht, stellt den Rumpf eines Menschen dar. In der Mitte des Leibes, in dessen unterer Hälfte, ist eine Keimzelle gezeichnet, durch die das Tor des Lebens vom Tor des Bewußtseins getrennt ist. Dazwischen führt der Kanal nach außen, durch den die Lebenssäfte ausströmen.)


Das feinste Geheimnis des Tao sind das Wesen und das Leben (Sing-Ming). Um Wesen und Leben zu pflegen und zu schmelzen, gibt es kein besseres Mittel, als die beiden zur Einheit zurückzuführen. Die Heiligen des Altertums und hohen Weisen zeigten den Gedanken der Vereinheitlichung von Wesen und Leben unter Bildern der äußeren Welt; sie scheuten sich, ohne Gleichnis frei heraus davon zu reden. Darum ging auf Erden das Geheimnis, beide zugleich zu pflegen, verloren. Was ich durch Bilder der Reihe nach zeige, ist nicht leichtsinnige Preisgabe von Geheimnissen. Sondern indem ich die Aufzeichnungen des Long Yen Ging über das Aufhören der Ausströmungen und die Geheimgedanken des Hua Yen Ging mit gelegentlichen Hinweisen der übrigen Sutren zusammenstelle, um sie in diese wahre Abbildung zusammenzufassen, so begreift man, daß Bewußtsein und Leben nichts außerhalb der Keimblase sind. Warum ich dieses Bild gezeichnet, das [116] ist, damit gleichstrebende Genossen das himmlische Triebwerk der doppelten Pflege erkennen, daß auf diese Weise der wahre Same heranreift, daß auf diese Weise das Aufhören der Ausströmungen bewirkt wird, daß auf diese Weise die Schêli1 herausgeschmolzen wird, daß auf diese Weise das große Tao vollendet wird.

Aber diese Keimblase ist eine unsichtbare Höhle, sie hat nicht Gestalt noch Bild. Wenn der Lebensatem sich regt, so entsteht der Keim dieser Blase, wenn er aufhört, so verschwindet sie wieder. Sie ist der Ort, der die Wahrheit birgt, der Altar, auf dem Bewußtsein und Leben hergestellt werden. Sie wird genannt: das Drachenschloß auf dem Grunde des Meeres, das Grenzgebiet der Schneeberge, der Westen, der Urpaß, das Reich der höchsten Freude, das grenzenlose Land. Alle diese vielen verschiedenen Namen bezeichnen diese Keimblase. Wenn ein Sterbender diese Keimstelle nicht kennt, so wird er in tausend Geburten und zehntausend Weltaltern die Einheit von Bewußtsein und Leben nicht finden.

Dieser Keimpunkt ist etwas Großes. Ehe dieser unser Leib von den Eltern geboren ist, zur Zeit der Empfängnis, wird zuerst dieser Keimpunkt erzeugt, und Wesen und Leben wohnen darin. Die beiden sind vermischt und bilden eine Einheit: untrennbar gemischt wie der Feuersame im Läuterofen, ein Zusammenhang von ursprünglicher Harmonie und himmlischer Gesetzmäßigkeit. Darum heißt es: »Im Zustand vor der Erscheinung gibt es einen unerschöpflichen Atem.« Ferner heißt es: »Ehe die Eltern das Kind gezeugt haben, ist der Lebensatem völlig und die Leibesfrucht vollkommen.« Aber wenn der Leib sich bewegt und die Fruchtblase zerreißt, ist es, wie wenn man auf hohem Berg den Halt unter den Füßen verliert: Mit einem Schrei stürzt der Mensch auf die Erde hinunter, und Wesen und Leben sind von da ab entzweigeteilt. Von diesem Zeitpunkt an vermögen das Wesen das Leben und das Leben das Wesen nicht mehr zu sehen. Und nun nimmt das Schicksal seinen Lauf: Von der Jugend geht's zur Reife, von der Reife zum Alter, vom Alter zum Ach und Weh.

Darum hat der Julai2 in seiner großen Barmherzigkeit das Geheimnis des Herstellens und Schmelzens bekannt werden lassen. Er lehrt den [117] Menschen, wieder in den Mutterleib einzugehen und das Wesen und das Leben des Ichs aufs neue zu schaffen; er zeigt, wie Geist und Seele (Lebensatem) in diese Keimblase eintreten, sich zu einer Einheit verbinden müssen, um die wahre Frucht zu vollenden, gerade wie Same und Seele3 von Vater und Mutter in diese Keimblase eingingen und sich zu Einem vereinigt haben, um die Leibesfrucht zu vollenden. Das Prinzip ist dasselbe.

Innerhalb der Keimblase ist das Feuer des Herrschers, am Eingang der Keimblase ist das Feuer der Minister, im ganzen Leib ist das Feuer des Volkes. Wenn das Feuer des Herrschers sich äußert, so wird es von dem Feuer der Minister aufgenommen. Wenn das Feuer der Minister sich bewegt, so folgt ihm das Feuer des Volkes. Wenn die drei Feuer sich in dieser Reihenfolge äußern, so entsteht ein Mensch. Wenn die drei Feuer aber in der entgegengesetzten Reihenfolge zurückkehren, so entsteht das Tao.

Darum haben bei der Keimblase, in der das Ausströmen aufhört, alle Weisen ihre Arbeit begonnen. Wenn man nicht diesen Pfad herstellt, sondern andere Dinge herstellt, so hat das keinen Nutzen. Darum bringen alle Schulen und Sekten, die nicht wissen, daß in dieser Keimblase das beherrschende Prinzip von Bewußtsein und Leben ist und die es deshalb draußen suchen, trotz aller Anstrengung, es draußen zu finden, auch nichts zustande.

Quelle:
Das Geheimnis der goldenen Blüte. Olten/Freiburg i. Br. 1971, S. 116-118.
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