Erstes Kapitel.
Von den Worten und der Sprache im Allgemeinen

[1] § 1. (Der Mensch kann artikulirte Laute bilden.) Da Gott den Menschen zu einem geselligen Wesen bestimmt hatte, so gab er ihm nicht blos eine Neigung, ja Notwendigkeit, mit seines Gleichen zu verkehren, sondern versah ihn auch mit einer Sprache, welche das grosse Werkzeug und gemeinsame Band der Gesellschaft werden sollte. Der Mensch hat deshalb von Natur so eingerichtete Organe, dass er artikulirte Laute, bilden kann, die Worte heissen. Doch reicht dies zur Sprache nicht hin; denn auch Papageien und anderen Vögeln kann das Bilden von artikulirten Lauten angelernt werden, obgleich sie auf keine Weise der Sprache fähig sind.

§ 2. (Um sie zum Zeichen der Vorstellungen zu machen.) Es war also ausserdem noch die Fähigkeit erforderlich, die Laute als Zeichen innerer Auffassungen zu gebrauchen und sie zu Zeichen von Vorstellungen zu machen, die Anderen dadurch erkennbar würden, damit die Menschen ihre Gedanken einander mit theilen konnten.

§ 3. (Und um sie zu allgemeinen Zeichen zu machen.) Aber auch dies reichte nicht hin, um die[1] Worte so nützlich als möglich zu machen. Es genügt für die Volkommenheit einer Sprache nicht, dass Laute zu Zeichen von Vorstellungen erhoben werden, wenn mit diesen Zeichen nicht mehrere einzelne Dinge befasst werden können. Denn wenn jedes Ding seinen besonderen Namen erhalten müsste, so würde die Menge der Worte ihren Gebrauch erschwert haben. Zur Abstellung dieser Schwierigkeit erhielt die Sprache eine weitere Verbesserung in dem Gebrauch allgemeiner Ausdrücke, durch welche mit einem Wort eine Menge einzelner Dinge bezeichnet wurden. Dieser Vortheil wird nur durch den Unterschied der damit bezeichneten Vorstellungen erreicht; es wurden nämlich diejenigen Worte zu allgemeineren, welche allgemeinen Vorstellungen gegeben wurden, und diejenigen blieben einzelne, die für Vorstellungen eines Einzelnen gebraucht wurden.

§ 4. Neben diesen Worten, als Zeichen der Vorstellungen, gebraucht man noch andere, die keine Vorstellung bezeichnen, sondern den Mangel oder die Abwesenheit einer solchen, sei sie einfach oder zusammengesetzt, oder überhaupt den Mangel aller Vorstellung andeuten. Der Art ist nihil im Lateinischen und Unwissenheit und Unfruchtbarkeit im Deutschen. Von allen verneinenden und beraubenden Worten kann man eigentlich nicht sagen, dass sie keiner Vorstellung angehören und keine bezeichnen, da sie dann bedeutungslose Laute wären; vielmehr beziehen sie sich auf bejahende Vorstellungen und bezeichnenderen Abwesenheit.

§ 5. (Die Worte sind ursprünglich von solchen abgeleitet, die sinnliche Vorstellungen bezeichnen.) Es führt ein wenig weiter zu dem Ursprung all unserer Begriffe und Kenntnisse, wenn man bemerkt, wie sehr die Worte von bekannten sinnlichen Vorstellungen abhängig sind, und wie selbst die, womit man Thätigkeiten und Begriffe, die von den Sinnen weit abstehen, bezeichnet, dort ihren Ursprung haben und von bekannten sinnlichen Vorstellungen zu entferntem Bedeutungen übertragen worden sind und nun Vorstellungen bezeichnen, die nicht zu den Sinneswahrnemungen gehören, z.B.: einbilden, verstehen, erfassen, beitreten, begreifen, beibringen, missfallen, Unruhe, Ruhe u.s.w. Alle diese Worte sind von sinnlichen Thätigkeiten entlehnt und[2] demnächst gewissen Besonderungen des Denkens beigelegt. Das Wort: spirit (Geist) bezeichnet ursprünglich den Athem, angel (Engel) einen Boten, und wenn man alle Worte für unsinnliche Dinge bis zu ihrem Ursprung verfolgen könnte, so würde man sicherlich finden, dass sie in allen Sprachen von sinnlichen Vorstellungen herkommen. Hieraus kann man einigermassen die Art der Begriffe errathen, welche die ersten Erfinder der Sprache im Kopfe hatten, woher sie sie ableiteten, und wie die Natur selbst bei Benennung der Dinge unbemerkt den Menschen die Ursprünge und Anfänge all ihres Wissens zuführte. Denn wenn die Worte Anderen eine innere Thätigkeit oder eine andere unsinnliche Vorstellung erkennbar machen sollten, so mussten sie von bekannten sinnlichen Vorstellungen entlehnt werden, um damit dem Anderen die eigenen innerlich-empfundenen Thätigkeiten, die äusserlich nicht erkennbar waren, leichter begreiflich zu machen. Waren so erst Worte für diese innerlichen Vorgänge gebildet, so hatte man genügende Mittel, auch alle anderen Vorstellungen zu benennen, weil sie nur sinnliche Wahrnehmungen oder innere geistige Thätigkeiten befassen konnten, da man, wie ich gezeigt habe, überhaupt nur Vorstellungen hat, die ursprünglich entweder von äusseren sinnlichen Gegenständen oder von inneren Vorgängen, deren man sich bewusst ist, kommen.

§ 6. (Die Eintheilung.) Um indess den Nutzen und die Bedeutung der Sprache für Belehrung und Erkenntniss besser einzusehen, ist zu erwägen: 1) welchen Dingen in den Sprachen Worte gegeben werden; 2) da alle Worte (mit Ausnahme der Eigennamen) nicht einzelne Dinge, sondern Arten und Gattungen derselben bezeichnen, so ist dann zu erwägen, was die Gattungen und Arten, oder lateinisch ausgedrückt, die genera und species der Dinge sind, worin sie bestehen, und wie sie gebildet werden. Ist dies (wie sich gehört) genau untersucht, so wird der rechte Gebrauch der Worte, sowie die natürlichen Vorzüge und Mängel der Sprache und die Hilfsmittel gegen die Uebelstände, welche aus der Dunkelheit und Ungewissheit der Bedeutung der Worte hervorgehen, leichter erkannt werden. Ohnedem kann über wissenschaftliche Dinge nicht klar und ordnungsmässig verhandelt werden, da es bei diesen sich um[3] Sätze handelt, und zwar meist um allgemeine, die mit den Worten enger verknüpft sind, als man vielleicht glaubt. Dies wird der Gegenstand der nächsten Kapitel sein.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 1-4.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1