Achtes Kapitel.
Von abstrakten und konkreten Ausdrücken

[81] § 1. (Bei den abstrakten Ausdrücken kann der eine nicht als Beiwort eines andern gebraucht werden.) Die gewöhnlichen Worte der Sprache und ihr gewöhnlicher Gebrauch würden die Natur unserer Vorstellungen aufgehellt haben, wenn man jene mit Aufmerksamkeit betrachtet hätte. Wie gezeigt, hat die Seele das Vermögen, abstrakte Vorstellungen zu bilden; dadurch werden diese zu Wesenheiten und allgemeinen Wesenheiten, durch welche die Arten der Dinge unterschieden werden. Nur ist jede abstrakte Vorstellung eine bestimmte, so dass die eine nicht auch die andere sein kann, und die Seele vermag ihren Unterschied durch ihr anschauliches Wissen zu erfassen, und deshalb können zwei vollständige Vorstellungen in einem Satze nicht von einander ausgesagt werden. Dies zeigt der Sprachgebrauch, welcher[81] nicht gestattet, dass man von zwei abstrakten Worten oder von zwei Namen den einen von dem andern bejaht. Denn wenn sie einander auch noch so verwandt sind und wenn es auch noch so gewiss ist, dass der Mensch ein lebendes Geschöpf ist, oder vernünftig, oder weiss, so bemerkt doch Jeder beim ersten Hören die Unrichtigkeit solcher Sätze, wie: die Menschlichkeit ist Lebendigkeit, oder sie ist Vernünftigkeit, oder sie ist die Weisse. Dies ist so klar, wie nur irgend ein Satz. Deshalb sind alle unsere Bejahungen inkonkret, d.h. es wird dabei nicht behauptet, dass die abstrakte Vorstellung die andere sei, sondern dass sie nur mit einander verbunden seien. Bei Substanzen können diese abstrakten Vorstellungen von jeder Art sein, bei den übrigen sind es meist nur Beziehungen; bei den Substanzen sind die meisten Vermögen; z.B.: »Ein Mensch ist weiss« bedeutet, dass das Ding, was das Wesen des Menschen hat, in sich auch das Wesen des Weissen habe; dieses ist aber nur die Kraft, diese Vorstellung von Weissin Jemand zu erzeugen, der sehen kann. Oder: »Ein Mensch ist vernünftig«; dies bedeutet, dass dasselbe Ding, was das Wesen des Menschen hat, auch das Wesen der Vernünftigkeit in sich habe, d.h. das Vermögen der Vernunft.

§ 2. (Sie zeigen den unterschied unserer Vorstellungen.) Dieser Unterschied der Worte zeigt uns auch den Unterschied unserer Vorstellungen; denn bei näherer Betrachtung erhellt, dass unsere einfachen Vorstellungen sowohl abstrakte wie konkrete Namen haben; der eine ist (in der Sprache der Grammatiker) ein Substantiv, der andere ein Adjectiv, wie z.B.: die Weisse und weiss, die Süssigkeit und süss. Dasselbe gilt für die Vorstellungen von Besonderungen und Beziehungen; so: Gerechtigkeit und gerecht, Gleichheit und gleich, nur mit dem Unterschied, dass einige konkrete Namen von Beziehungen, hauptsächlich bei Menschen, Substantive sind, z.B.: Vaterschaft, Vater; wovon der Grund leicht angegeben werden könnte. Dagegen hat man für die Vorstellungen der Substanzen nur wenig oder keine abstrakten Namen. Die Schulen haben zwar Worte eingeführt, wie: Thierheit, Menschheit, Körperlichkeit und andere, allein sie verschwinden gegen die zahllosen Namen von Substanzen, wo man es nie gewagt hat,[82] sich durch Ausmünzung von abstrakten Namen lächerlich zu machen; die von den Schulen geschmiedeten und in den Mund der Schüler gelegten sind niemals in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen worden und haben Keine öffentliche Billigung gefunden. Dies dürfte als ein allgemeines Geständniss gelten, dass man überhaupt das wirkliche Wesen der Substanzen nicht kennt, da die Namen dafür fehlen; denn diese wären sicher vorhanden, wenn nicht das Bewusstsein der eigenen Unwissenheit von einem so vergeblichen Versuche abgehalten hätte. So hatte man zwar Vorstellungen genug, um Gold von den Steinen und Metall von Holz zu unterscheiden, aber man wagte sich nur scheu an solche Ausdrücke, wie: »Goldheit«, »Steinheit«, »Metallheit«, »Holzheit« und ähnliche Namen, die sich anmassen, das wahre Wesen der Substanzen zu bezeichnen, von denen man doch geständig keine Vorstellung hat. Auch war es in Wahrheit nur die Lehre von den substantiellen Formen und der vermeintliche Besitz von Kenntnissen, die man nicht hatte, welche zuerst die Bildung und dann die Einführung solcher Worte, wie: Thierheit, Menschheit und ähnlicher veranlasste; dennoch kamen diese Ausdrücke nicht über die Schulen hinaus und gelangten nie zu einer geläufigen Anwendung bei verständigen Leuten. Allerdings war das Wort: humanitas bei den Römern ein gebräuchliches Wort, allein in einem ganz anderen Sinne, und es sollte nicht das abstrakte Wesen einer Substanz damit bezeichnet werden; es war vielmehr der abstrakte Name für eine Besonderung; sein konkretes Wort war humanus, nicht homo.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 81-83.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1