Zehntes Kapitel.
Unser Wissen von dem Dasein Gottes

[238] § 1. Wenn Gott uns auch keine angeborene Vorstellung seiner gegeben und keine ursprünglichen Schrift-Zeichen der Seele eingeprägt hat, aus denen man sein Dasein lesen kann, so hat er doch unsere Seele mit Vermögen ausgestattet, die von ihm Zeugniss ablegen; denn wir haben Empfindungen, Wahrnehmungen und Vernunft, und können deshalb des klaren Beweises seiner nicht ermangeln,[238] so lange wir leben. Auch dürften wir uns über Unwissenheit in diesem wichtigen Punkte nicht beklagen; denn er hat uns reichlich mit den Mitteln versehen, um ihn zu finden und so weit zu erkennen, als es der Zweck unsers Daseins und das Interesse an unserm Glück erfordert. Es ist dies die augenfälligste Wahrheit, welche die Vernunft entdeckt, und ihre Gewissheit gleicht (wenn ich nicht irre) der mathematischen; allein sie erfordert Nachdenken und Aufmerksamkeit; die Seele muss sie von einem Stück unseres anschaulichen Wissens ableiten, sonst bleibt sie hierüber ebenso unsicher und unwissend wie bei andern Sätzen, die an sich klar bewiesen werden können. Um darzulegen, dass wir Gott erkennen, d.h. von seinem Sein Gewissheit erlangen können, braucht man nicht über sich selbst und die unzweifelhafte Gewissheit seines eigenen Daseins hinaus zu gehen.

§ 2. (Der Mensch weiss, dass er selbst ist.) Zweifellos hat der Mensch die klare Vorstellung seines eigenen Daseins; er weiss gewiss, dass er ist und dass er Etwas ist. Wer zweifeln kann, ob er Etwas sei oder nicht, zu dem spreche ich nicht, so wenig wie ich mit dem reinen Nichts verhandeln oder das Nicht-Sein überzeugen kann, dass es Etwas sei. Will Jemand so skeptisch sein, sein eigenes Dasein zu leugnen (denn ein wirklicher Zweifel daran ist offenbar unmöglich), so mag er sein geliebtes Glück, Nichts zu sein, geniessen, bis der Hunger oder ein anderer Schmerz ihn von dem Gegentheil überführt. Ich kann es also wohl für eine Wahrheit ansehen, deren Gewissheit Jeder an seinem Bewusstsein hat u.s.w., da nicht gezweifelt werden kann, dass der Mensch Etwas ist, was wirklich besteht.

§ 3. (Der Mensch weiss auch, dass nur ein ewiges Ding ein Seiendes hervorbringen kann.) Demnächst weiss der Mensch durch anschauliche Gewissheit, dass das reine Nichts so wenig ein wirkliches Ding hervorbringen kann, als dass es zwei rechten Winkeln gleichen kann. Wenn Jemand dies Letztere nicht weiss, so kann er keinen Beweis im Euklid verstehn. Weiss man also, dass ein wirkliches Seiende besteht, und dass es von dem Nicht-Sein nicht hervorgebracht werden kann, so folgt klar, dass von Ewigkeit her Etwas bestanden hat; denn ohnedem hätte es einen Anfang, und was einen[239] Anfang hat, müsste von etwas Anderem hervorgebracht worden sein.

§ 4. (Dies Ewig-Seiende muss höchst mächtig sein.) Ferner erhellt, dass, was sein Sein und seinen Anfang von einem Andern hat, Alles, was es in sich hat und ihm zugehört, auch von einem Andern haben, und alle seine Kraft aus derselben Quelle haben muss. Diese ewige Quelle alles Seienden muss daher auch die Quelle und der Ursprung aller Macht sein, und deshalb muss dieses Ewig-Seiende höchst mächtig sein.

§ 5. (und höchst wissend.) Weiter findet der Mensch Wahrnehmung und Erkenntniss in sich; damit haben wir wieder einen Schritt weiter gethan und sind nun überzeugt, dass es nicht blos ein Seiendes giebt, sondern auch ein einsichtiges Seiende. Entweder gab es also eine Zeit, wo es noch kein wissendes Wesen gab, und wo das Wissen erst zu sein begann, oder es hat ein wissendes Wesen von Ewigkeit her bestanden. Sagt man, es gab eine Zeit, wo noch kein Wesen Wissen hatte, wo das ewige Seiende alles Verstandes entbehrte, so antworte ich, dass dann nie ein Wissen hätte entstehen können, weil es ebenso unmöglich ist, dass ein Ding, was des Wissens ganz entbehrt und blind wirkt, ohne wahrzunehmen, ein wissendes Wesen hervorbringen kann, wie dass ein Dreieck seine drei Winkel grösser als zwei rechte machen kann. Es widerspricht der Vorstellung des fühllosen Stoffes ebenso, dass er sich selbst Empfindung, Wahrnehmung und Wissen geben sollte, als es der Vorstellung des Dreiecks widerspricht, dass es sich grössere Winkel als zwei rechte geben sollte.

§ 6. (Deshalb ist Gott.) So führt unsere Vernunft uns von der Betrachtung unserer selbst und dem, was wir in unserer Natur unfehlbar finden, zu der Erkenntniss der sichern und offenbaren Wahrheit, dass es ein ewiges, höchst mächtiges und wissendes Wesen giebt; wobei es gleichgültig ist, ob man es Gott nennen will: denn die Sache ist klar, und aus dieser Vorstellung können, bei gehöriger Betrachtung, leicht alle jene übrigen Eigenschaften abgeleitet werden, die man diesem ewigen Wesen zuschreiben muss. Ist Jemand indess so sinnlos unverschämt, anzunehmen, dass der Mensch, als der allein Wissende und Weise, dennoch das Erzeugniss des[240] reinen Zufalls und der Unwissenheit sei, und dass in dem ganzen übrigen Weltall nur der Zufall herrsche, so überlasse ich ihm, den sehr verständigen und gefühlvollen Tadel zu erwägen, den Cicero in dem II. Buche seiner Gesetze ausspricht, indem er sagt: »Was kann es Thörichteres, Anmaassenderes und Ungehörigeres für einen Menschen geben, als wenn er meint, er allein habe eine Seele und Verstand, und in der ganzen übrigen Welt sei nichts der Art anzutreffen? Oder dass diese Welt, die er kaum mit der äussersten Anstrengung seines Verstandes begreifen kann, ohne allen Verstand bewegt und geleitet werde?«

Für mich ergiebt sich aus dem Gesagten klar, dass wir ein sichereres Wissen von dem Dasein Gottes haben, als von irgend Etwas, was die Sinne uns nicht unmittelbar offenbart haben. Ja, ich möchte annehmen, dass wir sicherer wissen, dass es einen Gott giebt, als sonst ein Ding ausser uns. Wenn ich sage: »wir wissen«, so meine ich, dass ein solches Wissen in unserer Macht steht, und man es nicht verfehlen kann, wenn man seinen Verstand so, wie bei andern Dingen, gebraucht.

§ 7. (Unsere Vorstellung von einem vollkommenen Wesen ist nicht der alleinige Beweis von Gottes Dasein.) Ich will hier nicht untersuchen, wie weit die Vorstellung eines höchst vollkommenen Wesens, die der Mensch in seiner Seele bildet, das Dasein Gottes beweist oder nicht; denn bei dem verschiedenen Temperament der Menschen wirkt, je nach der Richtung ihres Denkens, bei dem einen mehr dieser, bei dem andern mehr jener Grund zur Bestätigung ein- und derselben Wahrheit. Indess dürfte es doch der falsche Weg sein, wenn man behufs Begründung dieser Wahrheit und Widerlegung der Gottesleugner bei einer so wichtigen Frage alles Gewicht auf diese Grundlage allein, und darauf, dass Manche die Vorstellung Gottes haben, legt (denn offenbar haben Andere sie nicht und noch Andere nur eine solche, die schlechter ist als gar keine, und dabei sind diese Vorstellungen sehr verschieden), darauf den alleinigen Beweis der Gottheit stützt und aus übergrosser Zärtlichkeit für diese Lieblings-Erfindung alle andern Gründe beseitigt oder als unerheblich darzulegen sucht, und von den übrigen Beweisen, als schwachen und trügerischen,[241] nichts hören mag, welche das eigene Dasein und die wahrnehmbaren Theile der Welt so klar und zwingend dem Verstande darbieten, dass ein verständiger Mann ihnen meines Erachtens nicht widerstehen kann. Ich halte es für eine so klare und gewisse Wahrheit, wie irgend eine, dass die unsichtbaren Eigenschaften Gottes aus der Erschaffung der Welt klar entnommen werden können, und dass selbst seine ewige Macht und Gottheit aus den erschaffenen Dingen eingesehen werden kann. Unser eignes Dasein bietet zwar, wie ich gezeigt habe, einen offenbaren und unzweifelhaften Beweis für Gottes Dasein, und wer ihn so aufmerksam bedenkt, wie vieles Andere, wird sich seiner Macht nicht entziehen können; allein da es sich um die höchste Wahrheit handelt, die so bedeutend ist, dass alle Religion und ächte Moral davon abhängt, so wird der Leser mir verzeihen, wenn ich noch auf einige Punkte dieses Beweises zurückkomme und bei denselben verweile.

§ 8. (Etwas besteht von Ewigkeit.) Keine Wahrheit ist gewisser, als dass Etwas von Ewigkeit bestehen müsse. Noch habe ich von Niemand etwas so Unvernünftiges oder einen so offenbaren Widerspruch gehört, als dass es eine Zeit gegeben habe, wo gar nichts gewesen sei; denn von allen Verkehrtheiten ist es die grösste, zu glauben, dass das reine Nichts, die vollkommene Verneinung und Abwesenheit alles Seins, je ein wirkliches Dasein hervorbringen könne. Deshalb muss jedes vernünftige Geschöpf anerkennen, dass Etwas von Ewigkeit her bestanden haben muss. Wir wollen nun sehen, welcher Art dieses Etwas sein muss.

§ 9. (Zwei Arten von Dingen; denkende und nicht denkende.) Der Mensch kann sich nur zwei Arten von Dingen in der Welt vorstellen; 1) solche, die rein stofflich sind und weder Empfindung noch Wahrnehmung und Gedanken haben, wie die Schnitzel unsers Bartes und die unserer Nägel; 2) empfindende, denkende und wahrnehmende Wesen, wie wir selbst sind. Ich werde diese denkende nennen, und jene nicht-denkende, welche Ausdrücke für den Zweck hier vielleicht besser sind, als stofflich und nicht-stofflich.

§ 10. (Nicht-denkende Dinge können keine denkenden hervorbringen.) Wenn es daher etwas[242] Ewiges geben muss, so fragt es sich, von welcher Art? Offenbar ist es ein denkendes Wesen; denn man kann sich ebenso wenig vorstellen, dass der nicht-denkende Stoff ein denkendes verständiges Wesen erzeugen könne, wie dass das Nichts aus sich selbst den Stoff erzeugen könne. Nimmt man einen Theil des Stoffes als ewig an, so kann er, gross oder klein, an sich selbst nichts hervorbringen. Es sollen z.B. der nächste beste Kreisel ewig, und seine Theile fest verbunden und sämmtlich in Ruhe sein. Wäre nun kein anderes Wesen in der Welt, müsste er da nicht ewig so bleiben, nämlich ein todter, unthätiger Klumpen? Kann man sich vorstellen, dass er, der blos Stoff ist, sich selbst bewegen oder etwas Anderes hervorbringen kann? Der Stoff kann durch seine eigene Kraft keine Bewegung hervorbringen; also muss auch diese von Ewigkeit sein; sie darf nicht erzeugt, und muss durch ein Wesen, was mächtiger als der Stoff ist, ihm beigelegt worden sein. Aber selbst wenn die Bewegung ewig bestanden hätte, konnte doch der nicht-denkende Stoff und seine Bewegung zwar die Gestalten und Grössen verandern, aber niemals das Denken hervorbringen. Das Wissen übersteigt ebenso sehr die hervorbringende Kraft der Bewegung und des Stoffes, wie der Stoff die Kraft des Nichts oder des Nicht-Seins übersteigt. Ich frage, ob man sich nicht ebenso leicht vorstellen kann, dass der Stoff von Nichts hervorgebracht werde, als dass das Denken von dem blossen Stoff hervorgebracht werde, wenn nicht vorher Etwas wie Denken oder ein denkendes Wesen bestanden hat? Man theile den Stoff in so kleine Theile, als man vermag (was man als eine Art Vergeistigung desselben, oder als eine Weise, ein denkendes Ding aus ihm zu machen, ansehen könnte); man verändere seine Gestalt und Bewegung nach Belieben; immer wird daraus ein Kegel, ein Würfel, eine Kugel, ein Prisma, ein Cylinder u.s.w., dessen Durchmesser, wenn er auch nur den millionsten Theil einer Haarbreite hat, nicht anders auf die Körper von entsprechender Grösse wirken kann, wie Körper von der Grösse eines Zolles oder Fusses Durchmesser; und man kann mit gleichem Recht erwarten, dass Empfindung, Wahrnehmung, Gedanken und Wissen entstehen, wenn man grobe Stücke Stoffes zu gewissen Gestalten und Bewegungen[243] vereinigt, als wenn man das mit den kleinsten vornimmt, die zu finden sind; auch diese schlagen, stossen und widerstehen einander gerade so wie die grossen, und dies ist Alles, was sie vermögen. Nimmt man daher nicht etwas Erstes und Ewiges an, so kann der Stoff nie anfangen zu sein; nimmt man nur blossen Stoff an ohne ewige Bewegung, so kann die Bewegung nie zu sein beginnen, und nimmt man blos Stoff und Bewegung als das Erste und Ewige an, so kann das Denken zu sein nicht beginnen. Denn man kann sich nicht vorstellen, dass der Stoff mit oder ohne Bewegung von sich und aus sich Gefühl, Wahrnehmen und Wissen erreichen könnte. Dann müsste Gefühl, Wahrnehmen und Wissen eine von Ewigkeit untrennbare Eigenschaft des Stoffes und jedes Theils desselben sein, wobei ich nicht einmal erwähne, dass unser allgemeiner Begriff von Stoff ihn zwar als ein Ding nehmen lässt, aber dass der Stoff in Wahrheit kein einzelnes Ding ist, und dass der Stoff nicht in der Art, wie ein stoffliches Wesen oder wie ein einzelnes Wesen besteht. Wäre daher der Stoff das erste denkende Ding, so gäbe es nicht blos ein denkendes ewiges Wesen, sondern eine unendliche Menge von ewigen endlichen denkenden Wesen, die von einander unabhängig, von beschränkter Kraft und bestimmtem Denken wären, und sie könnten deshalb niemals jene Harmonie, Ordnung und Schönheit erzeugen, welche die Natur enthält. Deshalb muss das erste ewige Wesen jedenfalls ein denkendes sein, und das Erste der Dinge muss nothwendig mindestens all die Vollkommenheiten enthalten und wirklich besitzen, die später bestehen sollen; auch kann es niemals einem Andern eine Vollkommenheit mittheilen, die es nicht in gleichem oder in einem höheren Grade selbst hat. Daraus folgt, dass das erste ewige Wesen nicht der Stoff sein kann.

§ 11. (Deshalb besteht eine ewige Weisheit.) Ist es also klar, dass Etwas von Ewigkeit her bestanden haben muss, so ist auch klar, dass dies nothwendig ein denkendes Wesen gewesen sein muss, weil es ebenso unmöglich ist, dass der nicht-denkende Stoff ein denkendes Wesen hervorbringe, als dass das Nichts oder die Verneinung des Seins ein seiendes oder stoffliches Ding hervorbrächte.[244]

§ 12. Diese Entdeckung, dass nothwendig ein ewiger Verstand besteht, führt uns zu einer genügenden Erkenntniss Gottes; denn es folgt daraus, dass alle andern wissenden Wesen, welche einen Anfang haben, von ihm abhängen müssen und nur diejenigen Wege des Wissens und diejenige Ausdehnung von Macht besitzen, die er ihnen gegeben hat; und dass, wenn er diese geschaffen hat, er auch die weniger ausgezeichneten Stücke des Weltalls und alle leblosen Dinge geschaffen hat, woraus sich denn Gottes Allwissenheit, Macht und Vorsehung ergiebt, und all seine andern Eigenschaften nothwendig folgen. Indess sind zur mehreren Klarstellung noch die Zweifel zu erwägen, die dagegen erhoben werden können.

§ 13. (Ob sie stofflich ist oder nicht?) Zuerst sagt man vielleicht, dass zwar das Dasein eines ewigen Wesens, und zwar eines wissenden, klar bewiesen werden könne; allein es folge nicht, dass dieses denkende Wesen stofflos sei. Allein selbst wenn man dies zugiebt, folgt doch immer, dass ein Gott ist; denn wenn ein ewiges, allumfassendes, allmächtiges Wesen besteht, so ist gewiss, dass auch ein Gott besteht, mag man ihn sich stofflich denken oder nicht. Hierin wird aber die Gefahr und das Täuschende dieser Annahme liegen. Wenn der Beweis anerkannt werden muss, dass ein ewiges, wissendes Wesen besteht, so werden Die, welche dem Stoff ergeben sind, leicht zugeben, dass dieses Wesen stofflich ist; aber dann lassen sie aus ihren Gedanken oder Reden leicht den Beweis ausfallen, wonach ein ewiges wissendes Wesen nothwendig bestehen muss, und sie beweisen dann, dass Alles Stoff ist, und leugnen dann Gott, d.h. ein ewiges denkendes Wesen, obgleich sie damit ihre eigene Annahme eher widerlegen, als begründen. Denn wenn nach ihrer Meinung ein ewiger Stoff ohne ein ewiges denkendes Wesen bestehen kann, so trennen sie Stoff und Denken und nehmen keine nothwendige Verbindung zwischen beiden an. Damit begründen sie jedoch die Nothwendigkeit eines ewigen Geistes, aber nicht die des Stoffes; weil ich schon dargelegt habe, dass ein ewiges denkendes Wesen unvermeidlich zugegeben werden muss. Wenn sonach Denken und Stoff getrennt bestehen kann, so folgt aus dem ewigen Sein eines denkenden[245] Wesens nicht das ewige Sein des Stoffs, und es wird also ohne Zweck angenommen.

§ 14. (Nicht stofflich; 1) weil jeder Theil des Stoffes ohne Denken ist.) Wenn jene sich indess überreden können, dass das ewige und denkende Wesen stofflich sei, so frage ich zuerst: Ob nach ihrer Ansicht aller Stoff und jeder Theil desselben denkt? Sie werden dies kaum behaupten; denn dann gäbe es so viele denkende Wesen, als Theile des Stoffes, mithin eine unendliche Menge von Göttern. Und doch wird es ihnen, wenn sie nicht zugestehn, dass der Stoff als solcher, d.h. jeder Theil desselben, sowohl denkend wie ausgedehnt ist, dann so schwer fallen, nach ihrer eigenen Ausführung ein denkendes Wesen aus nicht denkenden Theilen zu bilden, wie ein ausgedehntes Wesen aus, so zu sagen, nichtausgedehnten Theilen.

§ 15. (2.: Ein Theil des Stoffes kann nicht allein denkend sein.) Zweitens frage ich, wenn nicht aller Stoff denkend sein soll: Ob blos ein Atom desselben denkt? Dies wäre ebenso verkehrt wie jenes; denn dann muss dieses Atom entweder allein ewig oder nicht allein ewig sein. Ist Ersteres, so hat es durch sein mächtiges Denken und Wollen allein allen übrigen Stoff geschaffen, und so hat man die Erschaffung des Stoffs durch ein mächtiges Denken, woran die Anhänger des Materialismus gerade Anstoss nehmen. Denn soll nur ein einziges denkendes Atom allen andern Stoff hervorgebracht haben, so kann das nur seinem Denken zugeschrieben werden, weil dies sein einziger Unterschied ist. Aber selbst wenn es in einer andern unbegreiflichen Weise geschehen ist, so hat doch immer ein Schaffen stattgehabt, und diese Männer müssen daher ihren grossen Grundsatz aufgeben: »Aus Nichts wird Nichts.« Sagen sie, dass der übrige Stoff ebenso ewig sei als jenes denkende Atom, so ist dies ein beliebiges Behaupten, und dabei ebenso verkehrt; denn die Annahme, dass aller Stoff ewig sei, und doch ein Theil davon in Wissen und Macht unendlich über allen andern erhaben sei, heisst eine Hypothese ohne den mindesten Schein eines Grundes aufstellen. Jeder Stofftheil ist als Stoff derselben Gestalt und Bewegung wie die andern fähig, und ich fordere[246] Jeden heraus, ob er vermag, in seinen Gedanken dem einen noch Etwas vor dem andern zu geben.

§ 16. (3.: Auch ein System von nicht denkendem Stoff kann nicht denkend werden.) Wenn sonach weder ein einzelnes Atom dieses ewig denkende Wesen sein kann, und ebensowenig dies der Stoff als solcher sein kann, d.h. jeder Theil desselben, so bliebe nur die Annahme, dass ein gehörig geordnetes System des Stoffes dieses ewige denkende Wesen sei. Zu diesem Begriffe neigen sich nach meiner Ansicht am meisten Jene, welche Gott als ein stoffliches Wesen haben möchten, weil dies sich ihnen am leichtesten in Folge der Vorstellungen bietet, die sie von sich selbst und andern Menschen haben, die ihnen als denkende und stoffliche Wesen gelten. Allein diese Annahme ist trotz ihrer Natürlichkeit ebenso verkehrt wie jene; denn wenn das ewige denkende Wesen nur eine Verbindung von Stofftheilen ist, von denen Jeder denkt, so wird damit alle Weisheit und Wissenschaft dieses ewigen Wesens nur der Aneinanderstellung von Theilen zugeschrieben; dies ist aber das Verkehrteste, was möglich ist, da nicht-denkende Stofftheile, trotz aller ihrer Anordnung, damit an sich selbst nur eine neue Stellung mehr bekommen, woraus unmöglich ein Denken und Wissen für sie hervorgehen kann.

§ 17. (Mag das System sich bewegen oder ruhen.) Weiter ist dieses körperliche System entweder in allen seinen Theilen in Ruhe, oder es besteht eine gewisse Bewegung seiner Theile, was sein Denken ausmacht. Ist es völlig in Ruhe, so ist es nur eine Masse und kann deshalb kein Vorrecht über das einzelne Atom haben. Hat es aber eine Bewegung seiner Theile, wovon sein Denken abhängt, so muss es nothwendig zufällig und beschränkt sein; denn jeder Stofftheil, der durch seine Bewegung das Denken bewirkt, ist an sich ohne Denken; er kann deshalb seine Bewegung nicht regeln, noch weniger durch das Denken des Ganzen diese Regelung empfangen; denn das Denken ist ja nicht die Ursache der Bewegung (denn dann müsste es ihr vorgehen, und also ohne sie sein), sondern ihre Folge. Damit ist die Freiheit, Macht, Wahl und alles vernünftige und weise Denken und Handeln aufgehoben, und dieses denkende Wesen[247] nicht besser und weiser als der reine blinde Stoff. Denn wenn man Alles in zufällige, ungeleitete Bewegungen des blinden Stoffes auflöst, so ist dies ebenso, als wenn man das Denken von ungeleiteten Bewegungen des blinden Stoffes abhängig macht. Dazu kommt noch die Beschränktheit eines solchen Denkens und Wissens, was nur von der Bewegung solcher Theile abhinge. Ich brauche daher wohl keine weitem Verkehrtheiten und unmöglichkeiten in dieser Hypothese aufzuzählen (obgleich sie voll davon ist) als das bisher Gesagte; denn mag dieses denkende System einen Theil oder den ganzen Stoff der Welt befassen, so kann doch der einzelne Stofftheil weder seine eigene Bewegung noch die der andern kennen, und ebenso wenig kann das Ganze die Bewegung der einzelnen Theile kennen; es kann deshalb auch sein eigenes Denken und Bewegen nicht leiten, und überhaupt aus solcher Bewegung kein Denken erlangen.

§ 18. (Der Stoff ist nicht gleich-ewig, wie der ewige Geist.) Andere wollen diesen Stoff ewig sein lassen, obgleich sie ein ewiges, denkendes stoffloses Wesen annehmen. Damit wird zwar das Dasein Gottes nicht aufgehoben, aber es wird doch ein grosses Stück aus seiner Schöpfung geleugnet, und es bedarf deshalb diese Ansicht einer nähern Prüfung. Ich frage: Weshalb soll der Stoff ewig sein? Man sagt: Weil man nicht begreifen kann, wie er aus Nichts gemacht sein kann. Aber weshalb halten die Gegner sich denn nicht auch selbst für ewig? Sie antworten vielleicht, weil sie vor 20 oder 40 Jahren, zu sein angefangen haben; allein wenn ich nach dem »Sie« frage, was da zu sein begonnen habe, so kann man mir es kaum sagen; denn der Stoff, aus dem sie da gemacht wurden, begann da nicht zu sein, sonst wäre er nicht ewig; er wurde nur zu einer solchen Gestalt wie der menschliche Körper verbunden; allein diese Gestalt der Theilchen sind nicht Sie; dieselbe macht nicht ihr denkendes Wesen aus (denn ich habe es jetzt mit einem Gegner zu thun, welcher ein ewiges, unstoffliches, denkendes Wesen anerkennt, aber zugleich die Ewigkeit des Stoffes behauptet). Wann fing daher dieses denkende Wesen zu sein an? Hat es niemals zu sein angefangen, so sind sie von Ewigkeit ein denkendes Wesen gewesen, welche verkehrte Annahme ich wohl nicht zu[248] widerlegen brauche. Wenn also deshalb von Jenen angenommen werden kann, dass ein denkendes Wesen aus Nichts entstehen könne (wie bei allen Dingen, die nicht ewig sind, der Fall sein muss), weshalb soll es da für Den unmöglich sein, dass ein stoffliches Ding durch eine gleiche Kraft aus Nichts gemacht worden? Jene haben keinen andern Grund für diesen Unterschied, als dass bei dem einen die Erfahrung vorliegt, und bei dem andern nicht; allein die Erschaffung eines Geistes erfordert, recht betrachtet, ebensoviel Macht, als die Erschaffung des Stoffes. Ja, wenn man sich selbst aus den gewöhnlichen Begriffen befreien und seine Gedanken möglichst weit zu einer tiefem Betrachtung der Dinge führen wollte, dürfte man wohl den Schimmer eines Begriffs erreichen und es verstehn, wie der Stoff zuerst gemacht und durch die Macht des ewigen ersten Wesens zu sein begonnen hat, während es viel unbegreiflicher ist, wie die allmächtige Kraft einem Geiste Anfang und Sein hat gewähren können. Indess würde dies zu weit ab von den Begriffen führen, auf denen die Philosophie jetzt in der Welt aufgebaut ist, und deshalb wäre ein solcher Abweg unverzeihlich, ja, dies gälte schon von einer grammatikalischen Untersuchung, wenn einmal die herrschende Meinung dagegen ist, namentlich bei einem Punkte, wo die herrschende Lehre mir zu Statten kommt und es ausser Zweifel stellt, dass, wenn einmal die Erschaffung oder das Werden einer Substanz aus Nichts zugelassen wird, ebenso auch die Erschaffung aller andern, mit Ausnahme des Schöpfers, angenommen werden kann.

§ 19. Jene wollen indess dies nicht gestatten, weil sie sich nicht vorstellen können, wie Etwas aus Nichts werden könne. Allein ich bin anderer Ansicht, denn 1) kann man die Macht eines unendlichen Wesens vernünftiger Weise nicht deshalb bestreiten, weil man seine Wirksamkeit nicht begreifen kann. Man leugnet ja andere Wirkungen nicht deshalb, weil man die Art ihrer Hervorbringung nicht begreifen kann. So kann man nicht einsehn, wie Etwas ausser dem Stosse einen Körper bewegen kann, und doch kann man es nicht bestreiten, da die stete Erfahrung an uns selbst bei allen willkürlichen Bewegungen dafür spricht, wo lediglich durch die freie That oder den Gedanken des Geistes in[249] uns die Bewegungen bewirkt werden, und diese nicht die Wirkung eines Stosses oder einer Bewegung des blinden Stoffes in oder auf ungern Körper sein können; denn sonst wären sie nicht in unserer Gewalt, und man könnte in ihrer Wahl nicht wechseln. So schreibt z.B. meine rechte Hand, während die linke ruht; was bewirkt nun in der einen die Ruhe, und in der andern die Bewegung? Nur mein Wille, d.h. ein Gedanke meiner Seele; dieser Gedanke braucht sich nur zu ändern, und die rechte Hand ruht, und die linke bewegt sich. Dies sind unbestreitbare Thatsachen; man erkläre sie und mache sie verständlich; dann wird auch das Verständniss der Schöpfung nahe liegen. Dass die Lebensgeister zu einer neuen Bewegung bestimmt werden (womit Einige die freiwillige Bewegung erklären wollen), klärt die Sache nicht im Mindesten auf; die Veränderung in der Bewegung ist da nicht leichter zu begreifen, wie die erste Bewegung selbst; denn auch diese neue Bestimmung der Lebensgeister muss entweder unmittelbar durch Denken erfolgen oder durch einen Körper, der ihnen durch das Denken in den Weg gestellt wird, und der somit seine Bewegung dem Denken verdankt; Beides lässt die freiwillige Bewegung so unbegreiflich wie zuvor. Auch überschätzt man sich nebenbei selbst, wenn man Alles auf das enge Maass unserer Vermögen zurückführt und Alles für unmöglich erklärt, dessen Art, wie es entsteht, uns unbegreiflich ist. Damit wird entweder unser Verstand unendlich oder Gott endlich gemacht, wenn das, was man zu thun vermag, auf das, was man davon begreifen kann, eingeschränkt wird. Wenn man die Wirksamkeit seiner eigenen endlichen Seele, d.h. jenes denkenden Wesens in uns nicht begreift, so wundre man sich nicht, dass man die Wirksamkeit jenes ewigen, unendlichen Geistes nicht begreift, der alle Dinge erschaffen hat und regiert, und den die Himmel nicht befassen können.[250]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 238-251.
Lizenz:
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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