Elftes Kapitel.
Unser Wissen von dem Dasein anderer Dinge

[251] § 1. (Es ist nur durch Sinnes-Wahrnehmung zu erlangen.) Das Wissen von unserm eignen Dasein hat man durch Anschauung; das Dasein Gottes macht uns die Vernunft klar, wie ich gezeigt habe; das Wissen von dem Dasein jedes andern Dinges kann man blos durch die Sinneswahrnehmung haben, da keine nothwendige Verbindung des wirklichen Daseins mit einer in dem Gedächtniss enthaltenen Vorstellung oder mit dein Dasein des einzelnen Menschen besteht, das Dasein Gottes ausgenommen. Deshalb kann das Dasein anderer Dinge nur gewusst werden, wenn sie durch ihr thatsächliches Wirken auf den Menschen von demselben wahrgenommen werden; denn das blosse Dasein der Vorstellung in der Seele beweist das Dasein der Sache so wenig, wie das Bild eines Menschen sein Dasein in der Welt beweist, und wie die Gesichter im Traume daraus eine wahre Geschichte machen.

§ 2. (Ein Beispiel an der Weisse dieses Papiers.) Dieses thatsächliche Empfangen der Vorstellungen von ausserhalb giebt uns diese Kenntniss von dem Dasein anderer Dinge, und lässt uns bemerken, dass dann Etwas ausser uns besteht, welches diese Vorstellung bewirkt, obgleich man vielleicht nicht weiss, noch bedenkt, wie dies geschieht; denn die Gewissheit unserer Sinne und der von ihnen empfangenen Vorstellungen leidet nicht darunter, dass man die Art ihrer Hervorbringung nicht kennt. Während ich z.B. dies schreibe, wird durch das meine Augen erregende Papier in mir die Vorstellung hervorgebracht, die ich Weiss nenne, was auch der Gegenstand sein mag, der sie verursacht. Ich weiss dadurch, dass diese Eigenschaft oder dieses Accidens (dessen Auftreten vor meinen Augen diese Vorstellung allemal bewirkt) wirklich besteht und ein Sein ausser mir hat. Davon erhalte ich die grösste Gewissheit, deren ich fähig bin, durch das Zeugniss meiner Augen, die allein[251] die rechten Richter hierüber sind, und ich kann mit Recht auf dieses Zeugniss mich so sicher verlassen und brauche, während ich dies schreibe, nicht zu zweifeln, ob ich etwas Weisses und Schwarzes sehe, und ob wirklich Etwas besteht, was diese Empfindung in mir, während ich schreibe, oder meine Hand bewege, bewirkt. Diese Gewissheit ist so gross, als die menschliche Natur in Betreff des Daseins der Dinge, das eigene Selbst und Gott ausgenommen, fähig ist.

§ 3. (Wenngleich dieses Wissen nicht so gewiss ist, wie das bewiesene, so kann es doch Wissen heissen und beweist das Dasein der Dinge ausser uns.) Die Kenntniss, welche wir durch die Sinne von dem Dasein der äussern Dinge erhalten, ist zwar nicht ganz so gewiss wie das anschauliche Wissen oder die Beweise, welche die Vernunft aus klaren allgemeinen Vorstellungen der Seele ableitet, aber sie bleibt doch eine Gewissheit, welche den Namen des Wissens verdient. Die Ueberzeugung, dass unsre Vermögen über das Dasein der sie erregenden äussern Dinge recht berichten, ist wohl begründet; denn Niemand wird im Ernst so zweifelsüchtig sein, dass er das Sein der Dinge, die er sieht und fühlt, bezweifelt; wenigstens kann ein solcher (was er auch bei sich denken mag) mit mir nicht streiten, da er nie sicher sein kann, ob ich etwas gegen seine Meinung sage. Was mich anlangt, so meine ich, Gott hat mir genügende Gewissheit von dem Dasein der Dinge ausser mir gegeben, da ich ja nach ihrem Gebrauche mir Lust oder Schmerz bereiten kann, ein Punkt, der für meinen gegenwärtigen Zustand sehr erheblich ist. Wenigstens ist sicher die Ueberzeugung, dass unsre Vermögen uns hierin nicht täuschen in Bezug auf körperliche Dinge, die höchste Gewissheit, deren wir fähig sind. Denn wir können ohne unsre Vermögen nichts thun und sogar von dem Wissen selbst nur vermittelst dieser Vermögen sprechen, die sogar das, was Wissen ist, aufzufassen geeignet sind. Indess wird diese Ueberzeugung, die die Sinne selbst dafür gewähren, dass sie in ihrer Kunde von äussern Dingen nicht irren, wenn sie von ihnen erregt werden, noch weiter durch andere Gründe bestätigt.

§ 4. (1.: Denn man kann von ihnen nur durch den Einlass der Sinne wissen.) Erstens ist klar,[252] dass diese Wahrnehmungen durch äussere, unsere Sinne erregende Ursachen bewirkt werden; denn die, welchen die Organe dazu abgehen, können nie die dadurch hervorgebrachten Vorstellungen in ihrer Seele haben. Dies ist so klar, dass man nicht daran zweifeln kann, und man kann deshalb sicher sein, dass diese Vorstellungen nur durch diese Sinnesorgane und auf keinem andern Wege in die Seele eintreten. Nun werden sie selbstverständlich durch die Organe selbst nicht erzeugt, denn sonst könnten die Augen eines Menschen auch im Dunklen Farben erzeugen, und seine Nase könnte die Rosen auch im Winter riechen; indess erlangt Niemand den Geschmack der Ananas, wenn er nicht nach Indien geht, wo sie wachsen, und er dort sie kostet.

§ 5. (2.: Sind die Wahrnehmungsvorstellungen und die blossen Vorstellungen des Gedächtnisses sehr verschieden.) Zweitens habe ich öfters bemerkt, dass man diese in der Seele hervorgebrachten Vorstellungen nicht von sich abhalten kann. Denn wenn ich die Augen oder Fenster fest verschliesse, kann ich mir zwar beliebig die Vorstellung des Lichts oder der Sonne aus frühem Wahrnehmungen zurückrufen, allein ich kann diese Vorstellungen auch wieder beliebig bei Seite legen und dafür mir den Geruch einer Rose oder den Geschmack des Zuckers vorstellen. Wenn ich aber jetzt am Mittag meine Augen nach der Sonne wende, so kann ich die Vorstellungen, die das Licht und die Sonne in mir erwecken, nicht abweisen. Deshalb besteht ein offenbarer Unterschied zwischen den blossen, in meinem Gedächtniss enthaltenen Vorstellungen (über welche, wenn es weiter keine gäbe, ich immer die Macht haben würde, und welche ich beliebig bei Seite legen könnte) und denen, welche sich mir aufzwingen, und die ich nicht abhalten kann. Deshalb muss entschieden eine äussere Ursache und das Wirken eines äussern Gegenstandes bestehen, deren Wirksamkeit ich nicht widerstehen kann, und die diese Vorstellungen in mir, ich mag wollen oder nicht, hervorrufen. Ueberdem bemerkt Jedermann den Unterschied zwischen der wirklichen Anschauung der Sonne und der davon, nur in seinem Gedächtniss befindlichen Vorstellung; beide sind so verschieden, wie es kaum bei andern Vorstellungen[253] angetroffen wird; deshalb weiss man gewiss, dass nicht beide Erinnerungen oder blosse Thätigkeiten der Seele und Geschöpfe der Einbildungskraft sind, sondern dass das wirkliche Sehen eine äussere Ursache hat.

§ 6. (3.: Lust und Schmerz, welche die Wahrnehmung begleiten, thun dies nicht, wenn diese Vorstellungen ohne die äussern Gegenstände wiederkehren.) Drittens nehme man hinzu, dass viele dieser Wahrnehmungsvorstellungen mit Schmerz in uns auftreten, während man sich später derselben ohne Schmerz erinnert. Deshalb macht uns die Hitze und Kälte, wenn man sich ihrer erinnert, keinen Schmerz, obgleich er damals sehr peinlich war, und wenn jene sich wirklich wiederholen, es wieder so wird. Dies kommt von der Störung, welche der äussere Gegenstand bei seiner Beziehung auf den Körper veranlasst. Ebenso entsinnt man sich des Schmerzes von Hunger, Durst, Kopfweh, ohne dass man dabei Schmerzen empfindet; gäbe es nun nichts weiter als Vorstellungen, die in der Seele auftauchen, und Erscheinungen, die die Einbildungskraft unterhalten, ohne dass wirkliche Dinge von aussen uns erregten, so müssten diese Schmerzen entweder niemals uns stören, oder sie müssten es in allen Fällen thun. Dasselbe gilt für das, viele Wahrnehmungen begleitende Vergnügen. So sind zwar mathematische Beweise nicht von den Sinnen abhängig, aber ihre Prüfung vermittelst gezeichneter Figuren verstärkt die Glaubwürdigkeit unsers Sehens und giebt ihm eine Gewissheit, die sich der der Beweise selbst nähert. So würde es sehr sonderbar sein, wenn man es zwar als eine unbestreitbare Wahrheit anerkennen wollte, dass von zwei Winkeln einer Figur, die man vermittelst eingezeichneter Linien und Winkel gemessen hat, der eine grösser als der andere sei, und doch an dem Dasein dieser Linien und Winkel selbst zweifeln wollte, obgleich man nur durch Hinblick auf sie die Messung hat ausführen können.

§ 7. (4.: Unsere Sinne unterstützen einander in dem Zeugniss von dem Dasein äusserer Dinge.) Viertens bezeugen bei unseren Sinnen in vielen Fällen der eine die Wahrheit dessen, was der andere über das Dasein äusserer Dinge berichtet. Wer ein Feuer sieht, kann, wenn er zweifelt, ob es mehr als ein Bild seiner[254] Phantasie ist, es auch fühlen und sich darüber durch das Hineinstrecken der Hand überzeugen. Sicherlich würde eine blosse Vorstellung oder Phantasie nicht einen so heftigen Schmerz verursachen; es müsste dann auch dieser Schmerz nur Einbildung sein; obgleich er ihn durch Wiedererweckung der Vorstellung nicht wieder sich auflegen kann, wenn die Wunde geheilt ist. So sehe ich, während ich dies schreibe, dass ich die Farbe des Papiers verandern und durch Zeichnung der Buchstaben voraussagen kann, welche neue Vorstellung es den nächsten Augenblick zeigen soll, und zwar blos dadurch, dass ich meine Feder darüber führe. Dies zeigt sich nicht (ich mag mir es einbilden, so viel ich will), wenn meine Hand still hält, oder wenn ich meine Feder mit geschlossenen Augen bewege; ebenso muss ich, wenn diese Schriftzeichen einmal gemacht sind, sie so sehen, wie sie sind, d.h. ich muss die Vorstellungen solcher Buchstaben haben, wie ich sie gemacht habe. Daraus erhellt, dass sie nicht blos ein Spiel meiner Einbildungskraft sind; denn die nach dem Belieben meiner Gedanken ausgeführten Schriftzeichen wollen ihnen nicht gehorchen, und verschwinden nicht, wenn ich es mir einbilde, sondern erregen den Sinn fortwährend und regelmässig so, wie die Gestalten gemacht worden sind. Dazu kommt, dass ihr Anblick einen Andern zum Aussprechen solcher Laute bestimmt, wie ich vorher gewollt habe, und so kann man nicht bezweifeln, dass diese Worte, die ich geschrieben, wirklich ausser mir bestehn, da sie eine lange Reihe von Lauten veranlassen, die meine Ohren erregen; dies konnte weder von meiner Einbildung kommen, noch konnte mein Gedächtniss sie in dieser Ordnung behalten.

§ 8. (Diese Gewissheit ist so gross, als unser Zustand verlangt.) Will trotzdem Jemand so zweifelsüchtig sein, seinen Augen nicht trauen und behaupten, dass Alles, was wir während unsers ganzen Lebens sehen und hören, fühlen und schmecken, denken und thun, nur eine Reihe täuschender Erscheinungen eines Traumes, ohne Wirklichkeit seien, und so das Dasein aller Dinge und unser ganzes Wissen in Zweifel ziehn, so möchte ich ihm vorhalten, dass, wenn Alles ein Traum ist, er dann auch nur träume, wenn er diese Zweifel erhebt, und dass deshalb ein wachender Mensch nicht nöthig habe, ihm[255] darauf zu antworten. Indess mag er, wenn es ihm beliebt, träumen; ich antwortete ihm folgendermassen: Die Gewissheit, dass die Dinge wirklich bestehn, wenn das Zeugniss der Sinne dafür spricht, ist nicht allein so gross, als unser Zustand erreichen kann, sondern auch so gross, als unsere Lage erfordert. Denn unsere Vermögen sind nicht für die ganze Ausdehnung des Seins eingerichtet, und auch nicht für ein vollkommenes, klares, umfassendes Wissen der Dinge, was allen Zweifels und aller Bedenken ledig ist, sondern sie dienen der Erhaltung von uns, in denen sie sind; sie sind den Bedürfnissen des Lebens angepasst, und sie erfüllen diesen Zweck gut genug, wenn sie uns nur von den Dingen sichere Kenntniss geben, die uns angemessen oder unangemessen sind. Denn wer eine brennende Kerze sieht und die Kraft der Flamme, als er den Finger hineingehalten, erprobt hat, wird an dem Dasein von Etwas ausser ihm nicht zweifeln, was ihn beschädigt und grossen Schmerz verursacht hat. Diese Gewissheit genügt, wenn man keine grössere Gewissheit für die Regelung seines Handelns verlangt, als die, welche so gross ist wie die von dem eigenen Handeln selbst. Und wenn es unserm Träumenden gefällt, die Probe zu machen, ob die glühende Hitze eines Glas-Schmelzofens nicht die blosse Einbildung eines schläfrigen Menschen sei, so wird er, wenn er die Hand hineinsteckt, vielleicht zu einer grössern Gewissheit, als er vielleicht wünschen mag, aufgeweckt werden, dass es noch etwas über die blosse Einbildung hinaus giebt. Deshalb ist diese Gewissheit so gross, als man verlangen kann; denn sie ist so gewiss wie unser Schmerz und unsere Lust, d.h. wie unser Elend und unser Glück, über das hinaus uns weder Sein noch Wissen etwas angeht. Diese Gewissheit von dem Dasein der äussern Dinge genügt für die Erlangung des von ihnen kommenden Guten und Vermeidung des Uebels, und dies ist die Hauptsache, weshalb man sich mit ihnen bekannt macht.

§ 9. (Sie reicht aber nicht weiter als die wirkliche Wahrnehmung.) Kurz, wenn die Sinne wirklich dem Verstande eine Vorstellung zuführen, so kann man sicher sein, dass dann Etwas wirklich ausser uns besteht, was die Sinne erregt, was durch sie dem Auffassungsvermögen sich kund giebt und die Vorstellung,[256] die man hat, wirklich hervorbringt. Deshalb kann man diesem Zeugniss nicht misstrauen und darf nicht zweifeln, ob eine solche Ansammlung von einfachen Bestimmungen, wie man sie durch die Sinne vereint bemerkt hat, wirklich zusammen besteht. Indess erstreckt sich dieses Wissen nicht über das gegenwärtige Zeugniss der Sinne hinaus, so weit sie sich auf die einzelnen Dinge richten, welche die Sinne erregen. Wenn ich z.B. eine solche Sammlung einzelner Bestimmungen, wie man sie »Mensch« zu nennen gewohnt ist, vor einer Minute zusammen bestehend gesehn habe, so kann ich nicht sicher sein, dass dieser Mensch auch jetzt noch besteht, da zwischen seinem Sein die Minute vorher und jetzt keine nothwendige Verbindung vorhanden ist; auf tausenderlei Weise kann er aufgehört haben zu sein, seit meine Sinne mir sein Dasein bezeugten. Und wenn dies für den gestern gesehenen Menschen heute gilt, so gilt es noch mehr für den vor längerer Zeit gesehenen Menschen, den ich vielleicht das letzte Jahr nicht gesehen habe; noch weniger kann ich des Daseins eines Menschen sicher sein, den ich noch niemals gesehen habe. Es mag daher sehr wahrscheinlich sein, dass Millionen Menschen jetzt bestehn, während ich allein bin und dies schreibe; allein ich habe darüber nicht die Gewissheit, die man eigentlich Wissen nennt, obgleich die grosse Wahrscheinlichkeit mich über allen Zweifel erhebt, und ich vernünftiger Weise vielerlei thun kann im Vertrauen, dass es jetzt Menschen (und auch Menschen meiner Bekanntschaft, mit denen ich es zu thun habe) giebt; allein es ist dennoch nur Wahrscheinlichkeit und keine Gewissheit.

§ 10. (Es ist verkehrt, für jede Sache einen Beweis zu verlangen.) Deshalb ist es sehr närrisch und nutzlos für einen Menschen von beschränktem Wissen, der gelehrt worden ist, über die verschiedene Gewissheit und Wahrscheinlichkeit der Dinge zu urtheilen und danach sich zu bestimmen, wenn er Beweise und Gewissheit in Dingen verlangt, die deren nicht fähig sind, und wenn er umgekehrt seine Zustimmung zu ganz vernünftigen Sätzen verweigert und gegen klare und offenbare Wahrheiten handelt, weil sie nicht so klar erwiesen werden können, um selbst den leisesten (ich will nicht sagen Grund, sondern) Vorwand für einen[257] Zweifel zu beseitigen. Wer im gewöhnlichen Leben nichts anerkennen will, als was voll bewiesen ist, hätte in dieser Welt nur die einzige Gewissheit, dass er schnell umkommen würde. Die Heilsamkeit des Essens und Trinkens genügte ihm nicht, um es zu wagen, und ich möchte wohl wissen, was er thun könnte, wenn es nur aus Gründen geschehen sollte, die keinen Zweifel und Einwand gestatteten.

§ 11. (Das vergangene Sein kennt man durch das Gedächtniss.) So wie dann, wenn unsere Sinne wirklich mit einem Gegenstande beschäftigt sind, wir wissen, dass er wirklich da ist, so sind wir durch unser Gedächtniss sicher, dass Dinge, die sicher unsere Sinne erregt haben, bestanden haben. So hat man das Wissen von dem gewesenen Sein der Dinge, wovon die Sinne früher Kunde gegeben haben und wovon das Gedächtniss noch die Vorstellungen bewahrt. So lange dies gut geschieht, hat man keinen Zweifel hierüber; allein auch dieses Wissen reicht nicht über die von unsern Sinnen empfangene Kunde hinaus. So sehe ich jetzt Wasser, und ich zweifle deshalb nicht, dass dieses Wasser ist, und dies bleibt wahr, wenn ich mich entsinne, dass ich es gestern gesehn, und es bleibt ein unzweifelhafter Satz für mich, dass ich es am 10. Juli 1688 gesehn habe, so lange mein Gedächtniss denselben bewahrt, und ebenso bleibt wahr, dass eine Anzahl zierlicher Farben damals bestanden hat, welche ich zu derselben Zeit an einer Wasserblase erblickt habe. Allein wenn jetzt das Wasser sammt der Blase meinem Gesichtskreise weit entrückt ist, so ist es mir so wenig gewiss bekannt, dass das Wasser jetzt besteht, wie dass die Blasen mit ihren Farben noch bestehn; denn es ist so wenig nothwendig, dass das Wasser heute ist, weil es gestern war, wie dass die Farben und Wasserblasen heute seien, weil sie gestern waren; obgleich allerdings das Erstere viel wahrscheinlicher ist, da Wasser in seiner Dauer als sehr beständig beobachtet worden ist, während die Wasserblasen mit ihren Farben schnell vergehen.

§ 12. (Das Dasein des Geistes ist nicht zu erkennen.) Ich habe bereits dargelegt, wie unsere Vorstellungen über Geister beschaffen sind, und woher sie kommen. Allein trotzdem, dass wir diese Vorstellungen[258] in der Seele haben, und wir dies wissen, so lässt sich daraus doch nicht erkennen, dass solche Wesen ausserhalb uns bestehn, und dass es endliche Geister giebt, und überhaupt dass Geister ausser Gott bestehn. Auf Grund der Offenbarung und anderer Umstände kann man mit Sicherheit an solche Wesen glauben; allein unsere Sinne können sie nicht wahrnehmen, und deshalb fehlen uns die Mittel, ihr Dasein im Einzelnen zu erkennen. Denn aus der blossen Vorstellung von endlichen Geistern kann man nicht entnehmen, dass sie wirklich bestehn; so wenig, wie Jemand aus seinen Vorstellungen von Feen und Centauren entnehmen kann, dass dergleichen Wesen bestehn. – Deshalb muss man sich für das Dasein endlicher Geister wie für manches Andere mit der Gewissheit des Glaubens begnügen; sichere allgemeine Sätze über diese Dinge gehen über den Bereich unsers Wissens. Es mag wahr sein, dass alle von Gott erschaffenen Geister noch jetzt bestehn, allein man kann dies nicht sicher wissen; man kann solchen Sätzen als höchst wahrscheinlich zustimmen, aber ein Wissen kann man, fürchte ich, davon nicht gewinnen. Man kann daher Andern keine Beweise dafür geben, noch für sich selbst nach allgemeiner Gewissheit in Dingen suchen, wo der Mensch keines andern Wissens fähig ist, als das, was die Sinne über Einzelnes bieten.

§ 13. (Einzelsätze über das Dasein kann man wissen.) Hiernach giebt es zweierlei Sätze: 1) Eine Art von Sätzen betrifft einen, der Vorstellung entsprechenden seienden Gegenstand. Wenn ich z.B. die Vorstellung eines Elephanten oder des Phönix oder der Bewegung oder eines Engels habe, so ist die erste und natürlichste Frage: Ob etwas der Art bestehe? Dieses Wissen betrifft nur Einzelnes, und von keinem Dinge ausser Gott kann das Dasein eher gewusst werden, als die Sinne Kunde geben. 2) In der zweiten Art von Sätzen wird die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unserer allgemeinen Vorstellungen oder deren Abhängigkeit von einander ausgedrückt. Solche Sätze können allgemein oder gewiss sein. Wenn ich z.B. die Vorstellung von Gott und von mir selbst habe, so bin ich gewiss, dass ich Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen habe; auch ist dieser Satz für alle Menschen gewiss, wenn ich aus[259] der Vorstellung von mir die allgemeine der menschlichen Gattung gemacht habe. Allein so gewiss dieser Satz ist, dass die Menschen Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen haben, so beweist er doch nicht, dass wirklich Menschen in der Welt vorhanden sind, sondern er ist nur wahr für den Fall, dass es Menschen giebt. Diese Gewissheit solcher allgemeinen Sätze ist von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung abhängig, die man an diesen allgemeinen Vorstellungen entdeckt.

§ 14. (Ebenso kann man allgemeine Sätze in Bezug auf allgemeine Vorstellungen wissen.) Im ersten Falle ist unser Wissen die Folge, dass Dinge bestehen, welche durch die Sinne in der Seele Vorstellungen hervorbringen; im zweiten Falle ist das Wissen die Folge der Vorstellungen (gleichviel welche), die in der Seele diese allgemeinen und gewissen Sätze hervorbringen. Viele davon heissen »ewige Wahrheiten«, und diese sind auch wirklich der Art; »nicht, weil sie der Seele« aller Menschen eingeschroben sind oder weil sie schon als Sätze in des Menschen Seele bestehen, ehe er noch die allgemeinen Vorstellungen gewonnen und sie durch Bejahung oder Verneinung verbunden oder getrennt hat; vielmehr muss überall, wo Wesen, wie die Menschen, mit deren Fähigkeiten bestehn und die deshalb mit Vorstellungen, wie wir sie haben, versehen sind, man schliessen, dass, wenn sie ihr Denken auf diese Vorstellungen richten, sie die Wahrheit gewisser Sätze erkennen, die aus der erkannten Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der eignen Vorstellung hervorgehn. Solche Sätze heissen deshalb ewige Wahrheiten, nicht weil sie von Ewigkeit gebildete Sätze sind, die dem Verstande vorausgehen, der sie vielmehr erst bildet; auch nicht, weil sie der Seele durch ein Muster eingeprägt sind, das ausserhalb der Seele und vor ihr bestände, sondern weil sie, wenn sie einmal aus allgemeinen Vorstellungen gebildet und wahr sind, immer wahr sein werden, wenn sie in vergangenen oder kommenden Zeiten von einer Seele, die diese Vorstellung hat, wieder gebildet werden. Denn da die Worte immer dieselben Vorstellungen bezeichnen, und dieselben Vorstellungen immer dieselben Beziehungen zu einander behalten, so müssen Sätze über allgemeine Vorstellungen,[260] die einmal wahr sind, Wahrheiten in Ewigkeit bleiben.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 251-261.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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