Vierzehntes Kapitel.
Von der Meinung

[275] § 1. (Da unser Wissen nicht ausreicht, brauchen wir noch etwas Anderes.) Da der Verstand dem Menschen nicht blos zu wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auch zu seiner Führung im Leben gegeben ist, so würde er in grosser Verlegenheit sich befinden, wenn nur die Gewissheit wahren Wissens ihn zu leiten vermöchte. Bei dessen Dürftigkeit und Beschränktheit wäre er dann oft in der Finsterniss, und bei den meisten Handlungen seines Lebens in Verlegenheit, wenn er nichts hätte, was ihn in Mangel klaren und sichern Wissens leiten könnte. Wer nicht essen mag, bevor ihm nicht bewiesen worden, dass er davon ernährt werde; wer sich nicht bewegen mag, ehe er nicht sicher weiss, das Geschäft, was er vorhat, werde gelingen, wird wenig mehr anfangen können, als still zu sitzen und umzukommen.

§ 2. (Wozu man diesen Zustand des Zwielichts benutzen kann.) Gott hat sonach manche Dinge in das helle Tageslicht für uns gestellt, indem er uns einiges sichere Wissen gegeben hat, was freilich nur auf vergleichweise wenige Dinge beschränkt ist; wahrscheinlich ist es geschehen als Probe dessen, was geistige Wesen vermögen, und um damit in uns das Verlangen und Streben nach einem bessern Zustande zu erwecken.[275] Aber in den meisten Dingen, die uns angehn, hat Gott uns nur in die Dämmerung, so zu sagen, der Wahrscheinlichkeit gestellt, wie es nach meinem Vermuthen für den Zustand der Mittelmässigkeit und Prüfung passt, in den wir hier gestellt sind, damit unsere zu grosse Zuversicht erschüttert, und wir durch die tägliche Erfahrung belehrt werden, wie kurzsichtig wir sind und wie ausgesetzt dem Irrthume. Indem wir dies erkennen, soll es eine stete Ermahnung für uns sein, die Tage dieser Pilgerschaft fleissig und sorgfältig zur Aufsuchung und Verfolgung des Weges anzuwenden, der uns zu grösserer Vollkommenheit führen kann. Selbst wenn die Offenbarung hier nicht spräche, wäre die Annahme vernünftig, dass, nachdem der Mensch die ihm von Gott verliehenen Gaben hier verwendet, er den Lohn am Abend jenes Tages empfangen werde, wo die Sonne sich schliesst, und die Nacht allem Thun ein Ende macht.

§ 3. (Das Meinen ersetzt den Mangel des Wissens.) Das Vermögen, was Gott dem Menschen als Ersatz für den Mangel sichern Wissens, wo dieses nicht möglich ist, gegeben hat, ist das Meinen. Die Seele hält hier die Vorstellungen für übereinstimmend oder widersprechend, oder, was dasselbe ist, einen Satz für wahr oder falsch, ohne dass sie in den Gründen einen zwingenden Beweis dafür sieht. Die Seele übt manchmal dieses Meinen nur aus Noth, wenn klare Beweise und sicheres Wissen nicht zu haben sind; manchmal aber aus Trägheit, Ungeschick oder Eilfertigkeit auch da, wo Beweise und sichere Gründe zu haben wären. Man prüft oft nicht mühsam die Uebereinstimmung oder den Widerstreit zweier Vorstellungen, die man erkennen möchte; entweder ist man unfähig, die lange Reihe von Gründen aufmerksam zu verfolgen, oder es wird aus Ungeduld nur darüber hingeblickt, oder die Gründe werden ganz übersehen. Die Untersuchung des Beweises wird dann nicht vollendet, und man entscheidet über die Uebereinstimmung oder den Widerstreit der beiden Vorstellungen gleichsam nur aus der Ferne und nimmt das Eine oder das Andere an, wie es bei einem so flüchtigen Blicke am wahrscheinlichsten erscheint. Dieses Vermögen heisst das Meinen, wenn es unmittelbar für Dinge geübt wird; für die durch Worte mitgetheilten Wahrheiten[276] heisst es meist Zustimmung oder Widerspruch. Da die Seele in diesen beiden Arten am meisten Anlass hat, dieses Vermögen zu gebrauchen, so will ich die Untersuchung nach diesen Bezeichnungen, die am wenigsten dem Missverständniss unterliegen, führen.

§ 4. (Das Meinen ist ein Vermuthen über Dinge, ohne dass man sie wahrnimmt.) Somit hat die Seele zwei Vermögen in Bezug auf Wahrheit und Unwahrheit; das eine ist das Wissen, wo man sicher auffasst und vollständig von der Uebereinstimmung oder dem Widerspruch zweier Vorstellungen überzeugt ist; das andere ist aus Meinen, wo die Seele Vorstellungen verbindet oder trennt, obgleich deren Uebereinstimmung oder Gegensatz nicht sicher erkannt ist, sondern nur angenommen wird, ohne dass eine Gewissheit dafür vorhanden ist. Geschieht diese Verbindung oder Trennung, so wie die Dinge sich wirklich verhalten, so ist es ein richtiges Meinen.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 275-277.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1