Funfzehntes Kapitel.
Von der Wahrscheinlichkeit

[277] § 1. (Wahrscheinlichkeit ist der Schein der Uebereinstimmung aus trügerischen Gründen.) Der Beweis ist ein Darlegen der Uebereinstimmung oder des Gegensatzes zweier Vorstellungen vermittelst eines oder mehrerer Gründe, die eine gleichmässige, unveränderliche und sichtbare Verbindung mit einander haben; die Wahrscheinlichkeit ist dagegen blos der Schein einer solchen Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung vermittelst Gründe, deren Verbindung nicht fest und unveränderlich ist, oder wo dies wenigstens nicht eingesehen wird, sondern nur in den meisten Fällen so zu sein scheint, um die Seele zu bestimmen, dass sie einen Satz eher für wahr als für falsch oder umgekehrt hält. So erkennt man z.B. bei dem Beweise die feste unveränderliche Verbindung der Gleichheit zwischen den drei[277] Winkeln eines Dreiecks und jenen vermittelnden, die ihre Gleichheit mit zwei rechten darlegen; durch ein solches anschauliches Wissen der Uebereinstimmung oder des Gegensatzes der vermittelnden Vorstellungen, was bei jedem weitem Schritt Statt hat, geht die Reibe der Gründe mit einer Gewissheit fort, welche klar die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung dieser drei Winkel, der Gleichheit nach, mit zwei rechten darlegt, und damit ist die Sicherheit, dass es sich so verhält, erlangt. Ein Anderer dagegen, der sich nie um diesen Beweis gekümmert hat, hört von einem glaubwürdigen Manne, der Mathematiker ist, dass diese 3 Winkel gleich 2 rechten seien, und stimmt dem bei, d.h. er hält es für wahr. Sein Grund ist die Wahrscheinlichkeit, weil die Umstände so sind, dass sie meist die Wahrheit mit sich führen, indem der Mann, auf dessen Zeugniss er es glaubt, nicht Etwas gegen oder ohne seine Ueberzeugung, namentlich in diesen Dingen, zu behaupten pflegt. Deshalb ist die Ursache seiner Zustimmung zu diesem Satz und für die Uebereinstimmung der betreffenden Vorstellungen nicht die Gewissheit davon, sondern die bekannte Glaubwürdigkeit des Mannes überhaupt oder die Annahme einer solchen für diesen Fall.

§ 2. (Sie ersetzt den Mangel des Wissens.) Unser Wissen ist, wie ich gezeigt, beschränkt, und nicht von jedem Dinge, dem man begegnet, kann man die gewisse Wahrheit gewinnen; deshalb kann man von den meisten Sätzen bei dem Denken, Ueberlegen, Sprechen, ja selbst bei dem Handeln, keine volle Gewissheit von ihrer Wahrheit haben. Indess nähern sich manche Fälle der Gewissheit so, dass man keinen Zweifel an ihnen hegt, vielmehr ihnen so sicher zustimmt und so entschlossen danach handelt, als wären sie untrüglich bewiesen, und unser Wissen vollständig und gewiss. Allein es giebt hier Abstufungen von dem Punkte der Gewissheit und des Bewiesenen bis hinab zur Unwahrscheinlichkeit und bis zu der Grenze der Unmöglichkeit; ebenso noch Abstufungen der Zustimmung von der vollen Ueberzeugung und dem Vertrauen bis hinab zur Vermuthung, dem Zweifel und dem Misstrauen. Ich werde daher nunmehr (nachdem ich die Grenzen des menschlichen Wissens und der Gewissheit dargelegt) die verschiedenen[278] Grade und Ursachen der Wahrscheinlichkeit, der Zustimmung und des Glaubens untersuchen.

§ 3. (Die Wahrscheinlichkeit lässt uns Dinge für wahr halten, ehe wir wissen, dass es sich so verhält.) Die Wahrscheinlichkeit ist der Schein der Wahrheit; das Wort bezeichnet einen solchen Satz, für den Gründe vorliegen, um ihn für wahr zu halten. Die Bestimmung, die man diesen Sätzen giebt, heisst Glaube, Zustimmung oder Meinung; es wird dabei ein Satz für wahr angenommen in Folge von Gründen, die uns veranlassen, ihn für wahr zu halten, obgleich wir es nicht gewiss wissen. Der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewissheit, zwischen Glauben und Wissen liegt also darin, dass bei dem Wissen in all seinen Theilen Anschauung vorhanden ist; jede Vorstellung an sich und jeder Schritt hat eine sichtbare und gewisse Verbindung; aber bei dem Glauben ist dies nicht so; dieser ruht auf etwas der geglaubten Sache Aeusserlichem, was an beiden Seiten sich nicht offenbar anschliesst und deshalb die Uebereinstimmung oder den Gegensatz der betreffenden Vorstellungen nicht klar darlegt.

§ 4. (Die Gründe für das Wahrscheinliche sind zweierlei Art; die Uebereinstimmung mit der eignen Erfahrung oder das Zeugniss von Anderer Erfahrung.) Bei der Wahrscheinlichkeit, die den Mangel des Wissens ersetzen und uns leiten soll, wo dieses fehlt, handelt es sich immer um Sätze, für die man keine Gewissheit hat, sondern nur einen Anlass, sie für wahr zu halten. Dieser Anlass ist zweierlei Art: Erstens die Uebereinstimmung mit dem eignen Wissen. Beobachten und Erfahrungen; zweitens das Zeugniss Anderer, die ihre Beobachtungen und Erfahrungen betheuern. Bei letzteren ist zu beachten: 1) die Zahl; 2) die Rechtlichkeit; 3) das Geschick der Zeugen; 4) die Absicht des Verfassers, wenn das Zeugniss einem Buche entlehnt ist; 5) die Uebereinstimmung des Ganzen in seinen Theilen und mit den berichteten Nebenumständen; 6) entgegenstehende Zeugnisse.

§ 5. (Hier müssen immer die Grunde für und gegen geprüft werden, ehe man sich entscheidet.) Da der Wahrscheinlichkeit die anschauliche Gewissheit abgeht, welche den Verstand untrüglich bestimmt[279] und das sichere Wissen erzeugt, so muss man, wenn man vernünftig verfahren will, alle Gründe der Wahrscheinlichkeit prüfen und sehen, ob sie mehr für oder gegen einen Satz sprechen, ehe man zustimmt oder widerspricht, und man muss erst nach gehöriger Erwägung aller den Satz annehmen oder verwerfen, und zwar mit dem Grade des Fürwahrhaltens, der dem Uebergewicht der Gründe auf der einen oder andern Seite entspricht. Zum Beispiel: Sehe ich einen Menschen auf dem Eise gehen, so ist dies keine Wahrscheinlichkeit, sondern Gewissheit; erzählt mir aber Jemand, dass er in England an einem kalten Wintertage einen Menschen auf dem Eise habe gehen sehen, so stimmt dies so mit dem gewöhnlichen Lauf der Natur, dass ich es für wahr zu halten geneigt bin, wenn nicht ein Verdacht gegen die Erzählung vorhanden ist. Wird dasselbe aber Jemand innerhalb der Wendekreise erzählt, der bis dahin vom Eise nie etwas gehört hat, so ruht die Wahrscheinlichkeit nur auf dem Zeugniss, und die Sache findet mehr oder weniger Glauben, je nach der Zahl, der Glaubwürdigkeit und Uninteressirtheit der Zeugen; obgleich ein Mensch, dessen Erfahrungen ganz dagegen sprechen und der nie von dergleichen gehört hat, kaum dem ehrlichsten Zeugen hier Glauben schenken wird. So ging es dem holländischen Gesandten bei dem König von Siam. Er erzählte dem neugierigen König von Holland, und unter Anderm auch, dass im Winter das Wasser durch die Kälte mitunter so hart werde, dass Menschen darauf gehen könnten und selbst Elephanten davon getragen werden würden, wenn es deren dort gäbe. Der König erwiderte darauf: Bisher habe ich das, was Sie mir an Sonderbarkeiten erzählt haben, geglaubt, da ich Sie für einen ehrlichen Mann halte; aber jetzt sehe ich, dass Sie lügen.

§ 6. (Die Gründe können sehr mannichfach sein.) Auf diesen Gründen beruht die Wahrscheinlichkeit aller Sätze. Je nachdem unser Wissen, unsere sichern Beobachtungen, häufigen und gleichmässigen Erfahrungen und viele und glaubwürdige Zeugnisse mehr oder weniger damit übereinstimmen, ist der Satz mehr oder weniger wahrscheinlich. Es giebt allerdings noch einen andern Grund für die Wahrscheinlichkeit, der es[280] zwar an sich nicht ist, aber doch oft für einen solchen gilt und benutzt wird, und von dem die Meisten sich in ihrem Fürwahrhalten bestimmen lassen, indem sie ihm mehr Glauben, als etwas Anderem, schenken; nämlich die Meinung Anderer. Allein es ist gefährlich, sich darauf zu verlassen, und man kann dadurch leicht irregeleitet werden; denn es giebt mehr Falschheit und Irrthum als Wahrheit und Kenntniss unter den Menschen. Wären die Meinungen und Ueberzeugungen Anderer, trotzdem, dass man sie kennt und achtet, ein Grund für die Zustimmung, so müsste man in Japan ein Heide, in der Türkei ein Mohamedaner, in Spanien ein Katholik, in England ein Protestant und in Schweden ein Lutheraner werden. Ueber diesen falschen Grund der Zustimmung werde ich noch ausführlicher später zu sprechen haben.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 277-281.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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