Sechzehntes Kapitel.
Von den Graden des Zustimmens

[281] § 1. (Unsere Zustimmung soll sich nach den Gründen der Wahrscheinlichkeit richten.) Die Gründe für die Wahrscheinlichkeit sind in dem vorigen Kapitel dargelegt worden; sie bilden die Grundlage für die Zustimmung und also auch das Maass, nach dem sich die Grade derselben bestimmen oder bestimmen sollten. Nur muss man sich gegenwärtig halten, dass alle Gründe für die Wahrscheinlichkeit nicht weiter wirken, wenn man die Wahrheit sucht und ein richtiges Urtheil verlangt, als sie hervortreten; wenigstens bei den ersten Urtheilen und Versuchen, die die Seele unternimmt. Allerdings ruhen die Meinungen der Menschen, an denen sie oft fest halten, nicht immer auf einem wirklichen Ueberblick der Gründe, die zuerst den Ausschlag geben; denn in vielen Fällen ist es selbst für ein gutes Gedächtniss schwer, wenn nicht unmöglich, alle Gründe zu behalten, welche nach gehöriger Erwägung zur Annahme[281] einer Meinung bestimmt haben. Es genügt, wenn nur einmal der Gegenstand sorgfältig und redlich erwogen worden ist, wenn da alle Umstände von Einfluss auf die Frage möglichst ermittelt worden sind, und nach bestem Vermögen die Rechnung der Gründe aufgemacht worden ist. Hat man so einmal gefunden, auf welcher Seite die Wahrscheinlichkeit ist, so wird dann nur die Entscheidung in dem Gedächtniss bewahrt, wie eine entdeckte Wahrheit, und man begnügt sich in der Folge mit diesem Zeugniss des Gedächtnisses.

§ 2. (Diese liegen nicht immer klar vor; dann hat man sich mit der Erinnerung zu begnügen, dass früher die Zustimmung als begründet erkannt worden ist.) Dies ist Alles, was die Meisten für die Regelung ihrer Meinungen und Urtheile thun können. Ohnedem müsste man alle Gründe der Wahrscheinlichkeit, und zwar in der richtigen Ordnung und Folge, wie sie früher erwogen worden, genau im Gedächtniss behalten, die doch schon für eine Frage oft ein Buch füllen würden; oder man müsste tagtäglich jede Ansicht von Neuem prüfen; was Beides unmöglich ist. Man muss sich deshalb in dem einzelnen Falle auf das Gedächtniss verlassen, und man muss seine Meinung festhalten, wenn man auch der Gründe sich nicht mehr bewusst ist, ja sie vielleicht vergessen hat. Ohnedem müssten die meisten Menschen entweder vollständige Skeptiker werden oder ihre Meinungen jeden Augenblick wechseln und immer Dem zustimmen, der zuletzt die Frage erwogen hätte und seine Gründe vorbrächte, da man die Antworten nicht gleich bei der Hand haben kann.

§ 3. (Die üblen Folgen, wenn bei dem frühem Urtheil nicht richtig verfahren worden.) Dieses Festhalten an früheren Urtheilen und Folgerungen ist oft der Anlass, dass Irrthümer und falsche Ansichten hartnäckig festgehalten werden; wobei indess der Fehler nicht darin liegt, dass man sich auf sein Gedächtniss in Bezug auf frühere Urtheile verlässt, sondern dass man damals zu voreilig geurtheilt hat. Gar Viele, wenn nicht die Meisten, halten ihre Ansichten in vielen Dingen für richtig, blos weil sie niemals eine andere Ansicht gehabt haben, und weil sie ihre Ansicht nie untersucht oder in[282] Zweifel gestellt haben. Dies will sagen: Sie glauben richtig zu urtheilen, weil sie niemals geurtheilt haben. Dennoch halten gerade Solche ihre Ansicht am hartnäckigsten fest, und Die, welche ihre Lehrsätze am wenigsten geprüft haben, bilden sich am meisten darauf ein. Bei dein, was man einmal weiss, kann man sicher sein, dass es so ist, und dass es keine unbekannten Gründe giebt, die das Wissen über den Haufen werfen oder zweifelhaft machen können; aber in Sachen der Wahrscheinlichkeit ist man nicht immer sicher, dass man alle Einzelheiten, die auf die Frage einfliessen, vor sich habe, und dass ein noch unbeachteter Umstand nicht dahinter stecke, der die Wahrscheinlichkeit auf die andere Seite bringen und das Uebergewicht von der jetzigen Seite dorthin übertragen könnte. Wer hat die Müsse, die Geduld und die Mittel, alle Gründe in Bezug auf seine Ansichten so zusammen zu bringen, dass er sie klar und voll überschauen könnte und dass keiner fehlte, der weitem Aufschluss geben könnte? Dennoch muss ein Entschluss für oder gegen gefasst werden. Das Leben und die Sorge für die richtigen Angelegenheiten desselben vertragen keinen Aufschub, und sie beruhen meist auf Entscheidungen über Dinge, wo ein sicheres und erwiesenes Wissen nicht möglich ist, aber man doch die eine oder andere Richtung wählen muss.

§ 4. (Der rechte Gebrauch davon besteht in gegenseitiger Liebe und Nachsicht.) Wenn sonach die meisten, wo nicht alle Menschen ihre Ansichten auf keine sichern und unzweifelhaften Gründe stützen können, und es von grosser Unwissenheit, Leichtsinn oder Thorheit zeugt, wenn man sofort seine frühere Ansicht aufgiebt, weil ein Gegenstand aufgestellt wird, auf den man nicht sofort antworten und ihn widerlegen kann; so geziemt es wohl Jedem bei diesem Gegensatz der Meinungen Frieden zu halten und die Pflichten der Nachsicht und Freundschaft zu erfüllen; denn man kann nicht erwarten, dass Jeder seine Meinung gleich bereitwillig aufgeben und die andere mit blinder Ergebung an eine Autorität, die der Verstand nicht anerkennen kann, annehmen solle. Trotz vieler Irrthümer kann man doch nur den Verstand zum Führer nehmen, und man kann nicht dem Willen und Befehlen Anderer sich blind unterwerfen.[283] Wenn der Gegner, den man zu seiner Ansicht bekehren will, zu prüfen pflegt, ehe er zustimmt, so muss man ihm Müsse zur Durchsicht der Rechnung lassen, damit er Vergessenes zurückrufen und das Einzelne prüfen und sehen könne, welche Seite vorzuziehen sei. Hält er unsere Gründe nicht für so gewichtig, um diese Mühe sich aufzulegen, so thut er nur, was wir selbst schon gethan haben, und wir würden es übel nehmen, wenn Ändere uns das vorschreiben wollten, was wir prüfen sollten. Hat aber unser Gegner seine Meinungen auf Treu und Glauben angenommen, wie kann man da erwarten, er werde die Sätze aufgeben, welche Zeit und Gewohnheit in ihm so befestigt haben, dass er sie für selbstverständlich und völlig gewiss hält, oder die ihm als Eingebungen gelten, welche von Gott oder seinen Gesandten ihm gekommen? Wie kann man erwarten, dass solche Ueherzeugungen durch die Gründe und das Ansehn eines Fremden oder Gegners erschüttert werden könnten? namentlich wenn der Verdacht eines Interesses oder eine besondere Absicht sich dabei eindrängt, was immer geschieht, wenn die Menschen sich übel behandelt glauben. Man sollte vielmehr mit der gemeinsamen Unwissenheit Mitleid haben, und nur auf dem Wege eines sanften und ehrlichen Unterrichts sie zu beseitigen suchen, ohne Andere deshalb für hartnäckig und verkehrt zu halten, weil sie ihre Ansichten nicht aufgeben und unsere nicht an nehmen wollen; wenigstens die nicht, die man ihnen aufzwingen will, obgleich wir wahrscheinlich nicht minder hartnäckig sein würden, wenn wir ihre Ansichten annehmen sollten. Denn wo ist der Mann, der den unangreifbaren Beweis der Wahrheit für Alles besitzt, was er für wahr hält, und den Beweis für die Unwahrheit von dem, was er verdammt? Oder der sagen kann, dass er seine und Anderer Meinungen bis auf den Grund geprüft habe? In diesem schwankenden Zustande des Handelns und der Blindheit, in dem die Menschen sich befinden, wo man ohne wahres Wissen doch glauben, und oft auf sehr leichte Gründe hin glauben muss, sollte man eifriger und sorgfältiger sein, um sich selbst zu unterrichten, als Andern Gewalt anzuthun. Wenigstens ist sicherlich Der, welcher seine eigenen Meinungen nicht bis auf den Grund geprüft hat, ungeeignet,[284] Andern Vorschriften zu machen und Andern das als Wahrheit aufzudrängen, was er selbst noch nicht untersucht, und wovon er die Gründe der Wahrscheinlichkeit für Annahme oder Verwerfung noch nicht erwogen hat. Wer ehrlich und wahrhaft geprüft, und in den Lehren, die er bekennt und befolgt, alle Zweifel überwunden hat, könnte noch mit mehr Recht die Nachfolge der Andern verlangen; allein solcher sind nur wenige, und sie finden es so wenig gerechtfertigt, schulmeisterlich ihre Meinungen auszubreiten, dass man Unverschämtheit oder Herrschsucht bei ihnen nicht zu fürchten braucht. Wären die Menschen überhaupt selbst besser unterrichtet, so würden sie wahrscheinlich Andere weniger belästigen.

§ 5. (Die Wahrscheinlichkeit in Bezug auf Thatsachen und in Bezug auf wissenschaftliche Fragen.) Wenn ich zu den Gründen und verschiedenen Graden der Zustimmung zurückkehre, so zeigt sich, dass die Sätze, die man als wahrscheinlich annimmt, von zweierlei Art sind; die eine betrifft das Dasein des Einzelnen oder, wie man gewöhnlich sagt, Thatsachen, die man wahrnehmen kann, und die deshalb bezeugt werden können; die andere betrifft Gegenstände, worüber die Sinne keine Kunde geben, und bei denen daher auch ein solches Zeugniss nicht stattfinden kann.

§ 6. (Wenn die Erfahrung aller Andern mit der eignen übereinstimmt, so entsteht eine Zuversicht, die dem Wissen nahe kommt.) Was die Thatsachen anbetrifft, so wird erstens in dem Falle, dass eine Thatsache in Uebereinstimmung mit unserer und Anderer gleichmässigen Beobachtung durch die übereinstimmenden Aussagen aller Berichtserstatter bezeugt wird, diese Thatsache bereitwillig geglaubt und dem sichern Wissen gleichgestellt; man urtheilt und handelt dann danach, und zweifelt daran so wenig, als wäre sie vollständig bewiesen. Wenn z.B. alle Engländer bei passender Gelegenheit versichern, dass es vergangenen Winter in England gefroren habe, oder dass man dort im Sommer Schwalben gesehen habe, so wird man daran so wenig zweifeln, als daran, dass 7 und 4 gleich 11 sind. Hiernach ist der erste und höchste Grad der Wahrscheinlichkeit da vorhanden, wo die allgemeine Uebereinstimmung aller Menschen aller Zeiten, so weit[285] man weiss, mit der eignen gleichmässigen und ausnahmslosen Erfahrung übereinstimmt, und diese die Wahrheit einer Thatsache, welche tadellose Zeugen bekunden, bestätigt. Dahin gehören alle anerkannten Zustände und Eigenschaften von Körpern und die ursachlichen Vorgänge in dem gewöhnlichen Laufe der Natur. Man nennt dies den aus der Natur der Sache hergenommenen Grund; denn wo die eigenen und Anderer stete Beobachtungen immer dieselben Vorgänge bemerkt haben, da schliesst man mit Recht auf eine Wirkung fester und regelmässiger Ursachen, wenn sie auch nicht in den Bereich unsers Wissens fallen. Dahin gehört, dass das Feuer den Menschen erwärmt, das Blei schmilzt, und die Farbe und Festigkeit des Holzes und der Steinkohle ändert; ferner, dass Eisen im Wasser untersinkt und im Quecksilber schwimmt. Diese und ähnliche Sätze über einzelne Thatsachen stimmen mit all unsern Erfahrungen in solchen Fällen und gelten (wenn Andere sie erwähnen) als Dinge, die regelmässig so befunden und von Niemand bestritten werden. Deshalb gilt eine Erzählung, die etwas der Art berichtet, oder ein Ausspruch, dass es sich wieder so ereignen werde, für durchaus wahr. Diese Wahrscheinlichkeit kommt der Gewissheit so nahe, dass sie gleich vollständigen Beweisen unser Denken bestimmt und unser Handeln beeinflusst. Man macht in seinen Angelegenheiten da keinen Unterschied zwischen solcher Wahrscheinlichkeit und sicherem Wissen, und der hierauf gestüzte Glaube steigt bis zur Gewissheit.

§ 7. (Ein zuverlässiges Zeugniss und eigne Erfahrung erwecken meistentheils den Glauben.) Der nächste Grad von Wahrscheinlichkeit ist dann vorhanden, wenn die eigene Erfahrung und die Uebereinstimmung aller Andern, die dessen erwähnen, ergiebt, dass ein Ding meistentheils so ist, und wenn der einzelne Fall von vielen unverdächtigen Zeugen bekundet wird. So berichtet z.B. die Geschichte aller Zeiten, und meine eigene Erfahrung, so weit sie reicht, bestätigt es, dass die meisten Menschen ihren besondern Vortheil dem allgemeinen Nutzen vorziehn; wenn daher alle Geschichtsschreiber über Tiberius sagen, dass er so gehandelt habe, so ist dies höchst wahrscheinlich. In[286] einem solchen Falle kann die Zustimmung mit Recht zu einem Grade steigen, den man Zuversicht nennen kann.

§ 8. (Ehrliches Zeugniss kann, wenn die Natur der Sache nicht dagegen ist, ebenfalls zuversichtlichen Glauben erwecken.) Bei Dingen, wo keine Notwendigkeit besteht, z.B. ob ein Vogel hier oder dorthin fliegt, ob es links oder rechts von Jemand donnert u.s.w., wird die Zustimmung zu einer einzelnen Thatsache ebenfalls durch die übereinstimmende Aussage unverdächtiger Zeugen bestimmt. Dass es z.B. in Italien eine Stadt giebt, die Rom heisst; dass vor ungefähr 1700 Jahren dort ein Mann mit Namen Julius Cäsar gelebt hat; dass dieser ein Feldherr gewesen und eine Schlacht gegen einen andern Heerführer, Namens Pompejus, gewonnen hat, da spricht der Natur der Dinge nach weder Etwas dafür noch dagegen; da es aber von glaubwürdigen Geschichtsschreibern berichtet wird, und Keiner dem widersprochen hat, so muss man es glauben, und zweifelt so wenig daran, als an dem Dasein und Handeln seiner eigenen Bekannten, die man selbst gesehen hat.

§ 9. (Wenn Erfahrungen und Zeugnisse einander widersprechen, so entstehen mannichfache Grade der Wahrscheinlichkeit.) So weit ist die Sache einfach. Die Wahrscheinlichkeit bei solchen Gründen ist so überzeugend, dass sie naturgemäss das Urtheil bestimmt, und sie lässt dem Glauben so wenig Freiheit, einzutreten oder nicht, als eingeführter Beweis das Wissen oder Nichtwissen frei lässt. Die Schwierigkeiten beginnen erst, wenn die Zeugnisse der gewöhnlichen Erfahrung sich widerstreiten, und die Berichte der Geschichte und Zeugen sich mit dem gewöhnlichen Lauf der Natur oder unter einander nicht vertragen. Dann gehören Fleiss, Aufmerksamkeit und Genauigkeit dazu, um ein richtiges Urtheil zu bilden, und die Zustimmung nach dem Verhältniss der Gewissheit und Wahrscheinlichkeit abzumessen. Sie steigt und fällt nach den zwei Unterlagen aller Glaubwürdigkeit, je nachdem nämlich die gewöhnlichen Beobachtungen gleicher Fälle und die Zeugnisse in dem besondern Falle die Sache unterstützen oder schwächen. Hier sind die entgegenstehenden Beobachtungen, Umstände, Berichte, so wie die Unterschiede in der Befähigung, dem Temperament, den Absichten,[287] den Versehen u.s.w. der Berichterstatter so mannichfach, dass man die verschiedenen Grade der Zustimmung hier auf keine festen Regeln bringen kann. Man kann nur im Allgemeinen sagen, dass, je nachdem die Gründe für und gegen nach gehöriger Prüfung und nach genauer Abwägung der einzelnen Umstände im Ganzen mehr oder weniger einer Seite das Uebergewicht zu geben scheinen, sie geeignet sind, in der Seele die verschiedenen Zustände hervorzurufen, die man Glauben, Vermuthen, Rathen, Zweifeln, Schwanken, Misstrauen, Unglauben u.s.w. nennt.

§ 10. (Ueberlieferte Zeugnisse beweisen um so weniger, je weiter sie zurückgehen.) So viel über die Zustimmung zu Thatsachen, wo Zeugnisse benutzt werden. Hier ist auch noch einer Regel des Englischen Rechts zu erwähnen, wonach die beglaubigte Abschrift einer Urkunde ein gutes Beweismittel ist, während die Abschrift von einer Abschrift, wenn sie auch noch so gut beglaubigt und durch noch so viele glaubwürdige Zeugen bestätigt wird, für den Richter nicht als ein Beweis gilt. Diese Regel wird allgemein als vernünftig anerkannt und entspricht der Weisheit und Vorsicht, die man bei Ermittelung von Thatsachen anzuwenden hat; ich habe sie deshalb noch niemals tadeln hören. Wenn dieses Verfahren bei der Entscheidung über Recht und Unrecht zulässig ist, so folgt daraus auch, dass jedes Zeugniss um so weniger Beweiskraft hat, je weiter es von der ursprünglichen Wahrheit absteht, wobei ich unter dieser Wahrheit das Sein der Sache selbst verstehe. Wenn ein glaubwürdiger Mann versichert, sie zu wissen, so ist dies ein guter Anhalt; wenn aber ein anderer glaubwürdiger Mann es nur auf dessen Bericht bezeugt, so ist dies Zeugniss schon schwächer, und ein Dritter, der das Hörensagen vom Hörensagen versichert, ist noch weniger zu beachten. Deshalb schwächt bei überlieferten Wahrheiten jeder grössere Abstand die Kraft der Beweise; durch je mehr Hände die Ueberlieferung gewandert ist, desto schwächer wird ihre Kraft und Gewissheit. Ich musste dies erwähnen, da Viele die ganz entgegengesetzte Regel befolgen und die Meinungen durch ihr Alter an Kraft zunehmen lassen. Was vor tausend Jahren den verständigen Zeitgenossen des Berichterstatters[288] nicht als wahrscheinlich vorgekommen sein würde, soll jetzt über alle Zweifel gewiss und erhaben sein, nur weil es seitdem von Einem dem Andern mitgetheilt worden ist. Hiernach werden Sätze, die bei ihrem ersten Auftreten offenbar falsch oder höchst zweifelhaft waren, durch diese umgekehrte Regel der Wahrscheinlichkeit zu urkundlichen Wahrheiten, und was, als es aus dem Munde des ersten Urhebers kam, wenig Glauben fand, ist durch sein Alter ehrwürdig geworden und gilt als unbestreitbar.

§ 11. (Indess hat die Geschichte grossen Nützen.) Ich will damit die Glaubwürdigkeit und den Nutzen der Geschichte nicht verkleinern: in vielen Fällen kommt alles Licht nur von ihr, und sie gewährt zum grossen Theil nützliche Wahrheiten, welche als völlig gewiss gelten. Nichts ist schätzbarer als die Berichte aus dem Alterthume; ich wollte, wir hätten deren mehr und mehr unverdorbene. Allein gerade diese Wahrheit beweist, dass die Wahrscheinlichkeit nicht höher, als sie bei ihrem ersten Ursprung war, steigen kann. Was nur die Aussage eines Zeugen für sich hat, fällt oder steht mit dessen Zeugniss, mag es gut, schlecht oder gleichgültig sein, und wenn es auch dann Hunderte, Einer dem Andern nacherzählt und anführt, so wird das Zeugniss damit nicht stärker, sondern nur schwächer. Die Leidenschaften, der Eigennutz, die Unaufmerksamkeit, die Missverständnisse und tausend andere sonderbare Umstände oder eigensinnige Launen, welche die Menschen beeinflussen (und die man nicht ausfindig machen kann), lassen den Einen die Worte und die Meinung des Andern falsch wiedergeben. Wer nur einigermassen die Aufgaben der Schriftsteller geprüft hat, weiss, wie wenig Verlass darauf ist, wenn man die Originale nicht haben kann, und wie deshalb Angaben von Angaben noch weniger zuverlässig sind. So viel ist sicher, dass, was in einem Zeitalter aus schwachen Gründen behauptet worden, durch öftere Wiederholung für spätere Zeiten nicht zuverlässiger werden kann; sondern es wird, je weiter es von seinem Ursprung sich entfernt, um so schwächer; es hat in dem Munde oder in der Feder des spätem Berichterstatters allemal weniger[289] Kraft als bei Denen, von welchen er es erfahren hat.

§ 12. (In Dingen, wo die Sinne keine Auskunft geben können, ist die Analogie die Hauptregel der Wahrscheinlichkeit.) Die bis jetzt betrachtete Wahrscheinlichkeit betrifft nur Thatsachen und nur solche Dinge, die der Beobachtung oder dem Zeugniss unter liegen; die zweite Art betrifft dagegen die Meinungen, welche die Menschen in verschiedenen Graden der Zustimmung hegen, obgleich hier der Gegenstand nicht in das Bereich der Sinne fällt und deshalb auch nicht bezeugt werden kann. Dahin gehören 1) das Dasein, die Natur und Wirksamkeit der endlichen Geister ausser uns, also der hohem Geister, der Engel, Teufel u.s.w.; ferner das Dasein stofflicher Dinge, die entweder wegen ihrer Kleinheit oder zu grossen Entfernung durch die Sinne nicht bemerkt werden; z.B. die etwanigen Pflanzen, Thiere und verständigen Bewohner der Planeten oder anderer Aufenthaltsorte in dem grossen Weltall. 2) Die Art der Wirksamkeit der Natur in den meisten Dingen, wo man zwar die sichtbaren Wirkungen bemerkt, aber die Ursachen nicht kennt und die Art und Weise ihrer Wirksamkeit nicht erfasst. So sieht man, dass Thiere erzeugt werden, sich ernähren und bewegen; dass der Magnet Eisen anzieht, und die Theile einer Kerze allmählich schmelzen, in Flamme sich verwandeln und Licht und Hitze um sich verbreiten. Diese und ähnliche Wirkungen sieht man, aber die wirkenden Ursachen und die Art, wie sie wirken, kann man nur errathen und vermuthen. Denn diese Dinge liegen ausserhalb der menschlichen Sinne und können durch diese nicht geprüft oder von Jemand bekundet werden. Ihre Wahrscheinlichkeit hängt also lediglich von den uns bekannten Wahrheiten und von ihrem Verhältniss zu andern Theilen unserer Erkenntniss und Beobachtungen ab. Die Analogie ist hier unser einziges Hülfsmittel, und von ihr werden alle Gründe für die Wahrscheinlichkeit entlehnt. So bemerkt man, dass das blosse heftige Reiben zweier Körper an einander Hitze, ja selbst Feuer hervorbringt; deshalb kann man wohl vermuthen, dass das, was man Hitze und Feuer nennt, in einer heftigen Bewegung unsichtbarer kleiner Theilchen des brennenden[290] Stoffes bestehe. Ebenso bemerkt man, dass die verschiedenen zurückgeworfenen Strahlen halbdurchsichtiger Körper in den Augen den Schein verschiedener Farben hervorbringen, und dass die verschiedene Stellung und Haltung der Oberflächen von Körpern, wie von Sammet, gewässerter Seide u.s.w. dasselbe bewirkte, und man hält es deshalb für wahrscheinlich, dass die Farben und der Glanz der Körper nur eine verschiedene Anordnung und Zurückwerfung ihrer kleinsten unsichtbaren Theilchen ist. So findet man ferner, dass in allen wahrnehmbaren Theilen der Schöpfung eine allmähliche Stufenfolge von dem einen zu dem andern besteht, ohne eine grosse erkennbare Kluft dazwischen; all die mannichfachen Dinge sind in der Welt so eng an einander gekettet, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Arten der Geschöpfe nicht leicht zu entdecken sind. Man kann deshalb mit Recht annehmen, dass die Dinge auch aufwärts zur Vollkommenheit in allmählichen Abstufungen sich erheben. Es ist schwer zu sagen, wo das Empfinden und die Vernunft beginnen, und wo das Unempfindliche und Unvernünftige endet, und wer ist so scharfsinnig, um die niedrigste Art lebender Wesen anzugeben und das Erste der leblosen Dinge? So weit man sehen kann, fallen und steigen die Dinge, gleich der Grösse bei einem Kegel; seine Durchmesser sind bei etwas erheblichen Abständen deutlich verschieden; aber an Stellen, die sich ganz nahe stehen, sind sie kaum zu unterscheiden. So ist auch der Unterschied zwischen gewissen Menschen und gewissen Thieren sehr gross; allein vergleicht man den Verstand und die Fähigkeiten anderer Menschen und anderer Thiere, so ist der Unterschied so gering, dass man kaum den Verstand des Menschen für klarer und weitreichender halten, kann als jener. Wenn sonach eine allmähliche und gelinde Abnahme abwärts von den Menschen in diesem Theile der Schöpfung besteht, so macht die Regel der Analogie es wahrscheinlich, dass sie auch für die Dinge über uns und jenseit unserer Beobachtung besteht, und dass es verschiedene Klassen geistiger Wesen giebt, die an Vollkommenheit in verschiedenen Graden uns übertreffen und bis zur unendlichen Vollkommenheit des Schöpfers in leisen Abstufungen und nahe liegenden Unterschieden aufwärts steigen. Diese Art von Wahrscheinlichkeit,[291] welche die beste Führerin bei den Versuchen der Vernunft und Aufstellung von Hypothesen ist, hat ihren Nutzen und ihre Bedeutung; diese Benutzung der Analogie führt oft zur Entdeckung von Wahrheiten und nützlichen Erfindungen, die ohnedem verborgen geblieben wären.

§ 13. (Ein Fall, wo entgegengesetzte Erfahrungen das Zeugniss nicht erschüttern.) Die allgemeine Erfahrung und der gewohnte Lauf der Dinge hat mit Recht grossen Einfluss, ob man einem Satze zustimmen soll oder nicht; indess giebt es einen Fall, wo das Ungewöhnliche der Thatsache ein ehrliches Zeugniss dafür nicht abschwächt. Wo nämlich übernatürliche Ereignisse den Zwecken Dessen entsprechen, der die Macht hat, den Lauf der Natur zu ändern, da können sie unter Umständen deshalb sogar mehr Glauben finden, je mehr sie über oder gegen die tägliche Erfahrung laufen. Dies ist der Fall bei Wundern, die, wenn sie gehörig bezeugt sind, nicht nur selbst Glauben finden, sondern auch andere Wahrheiten glaubhaft machen, die solcher Bestätigung bedürfen.

§ 14. (Das blosse Zeugniss der Offenbarung gewährt die höchste Gewissheit.) Neben den bisher erwähnten giebt es noch eine Art von Sätzen, die den höchsten Grad der Zustimmung auf blosses Zeugniss verlangen, mag die Sache mit der gemeinen Erfahrung und dem gewohnten Lauf der Dinge stimmen oder nicht; und zwar weil das Zeugniss von Dem ausgeht, der nicht täuschen noch getäuscht werden kann, nämlich von Gott selbst. Ein solches gewährt eine Gewissheit, die über alle Zweifel und einen Beweis, der über alle Einwendung erhaben ist. Es heisst mit seinem besondern Namen die Offenbarung, und unsere Zustimmung zu ihr Glauben. Sie bestimmt unser Denken so unbedingt und schliesst alles Schwanken so vollständig aus, wie dies bei unserm Wissen geschieht. Man kann so wenig an seinem eignen Dasein zweifeln als an der Wahrheit einer von Gott gekommenen Offenbarung. Deshalb ist der Glaube ein anerkanntes und sicheres Prinzip für unsere Zustimmung und Gewissheit, was keinen Raum zu Zweifeln und Zögern gestattet. Es muss nur sicher sein, dass die Offenbarung eine göttliche ist, und dass man sie recht versteht.[292] Denn ohnedem verfiele man allen Tollheiten der Schwärmerei und allen Irrthümern falscher Grundsätze, wenn man Glauben und Vertrauen in das setzte, was keine göttliche Offenbarung wäre. Deshalb kann in solchen Fällen unsere Zustimmung vernünftiger Weise nicht weiter gehen als die Gewissheit, dass wirklich eine Offenbarung vorliegt, und dass ihre überlieferten Worte den bestimmten Sinn haben. Beruht die Annahme ihrer als Offenbarung oder ihres Sinnes nur auf wahrscheinlichen Gründen, so kann die Zustimmung nicht stärker sein als die Gewissheit oder die Bedenken, welche aus der mehr oder weniger scheinbaren Wahrscheinlichkeit der Beweise hervorgehn. Indess werde ich über den Glauben und seinen Vorrang vor andern Gründen der Ueberzeugung später ausführlicher handeln, wenn ich ihn als Gegensatz der Vernunft behandele, wie dies gewöhnlich geschieht, obgleich der Glaube in Wahrheit nur eine Zustimmung ist, die sich auf die höchste Vernunft gründet.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 281-293.
Lizenz:
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
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