Fünftes Kapitel.
Von der Wahrheit im Allgemeinen

[190] § 1. (Was die Wahrheit ist.) Was ist die Wahrheit? Danach hat man viele Jahrhunderte geforscht; alle Welt sucht danach oder thut so, und es verdient deshalb die Frage, worin sie besteht, die sorgfältigste Untersuchung, damit man ihre Natur kennen lerne und sehe, wie die Seele sie von der Unwahrheit unterscheidet.

§ 2. (Sie besteht in der richtigen Verbindung oder Trennung von Zeichen, d.h. von Vorstellungen oder Worten.) Die Wahrheit scheint mir in ihrem eigentlichen Sinne die Verbindung oder Trennung von Zeichen zu sein, je nachdem die damit bezeichneten Dinge mit einander übereinstimmen oder nicht unter Verbindung oder Trennung von Zeichen meine ich hier das, was mit einem anderen Namen Satz genannt wird. Deshalb gehört die Wahrheit eigentlich nur den Sätzen an, und deren giebt es zwei Arten: nämlich Sätze in Gedanken und in Worten, so wie man sich zweier Arten von Zeichen bedient, nämlich der Vorstellungen und der Worte.

§ 3. (Was beide Arten ausmacht.) Um einen klaren Begriff von der Wahrheit zu erlangen, muss die Wahrheit der Gedanken von der Wahrheit der Worte getrennt und jede für sich betrachtet werden, obgleich dies sehr schwer ist, weil man auch bei Behandlung der Gedanken-Sätze sich der Worte bedienen muss, wodurch sie nicht mehr blosse Gedanken-Sätze bleiben, sondern Wort-Sätze werden; denn Gedanken-Sätze befassen nur die Vorstellungen, wie sie, abgetrennt von Worten, in der Seele bestehen, und sie verlieren sofort diese Natur, wenn sie in Worte gefasst werden.

§ 4. (Gedanken-Sätze lassen sich schwer behandeln.) Die getrennte Behandlung der Gedanken- und Wort-Sätze wird dadurch noch erschwert, dass die meisten, wo nicht alle Menschen in ihrem Denken und inneren Ueberlegen für sich Worte statt der Gedanken benutzen, wenigstens wenn es sich um zusammengesetzte[190] Vorstellungen handelt. Dies zeigt, wie unvollkommen und unsicher diese Art Vorstellungen sind, und wie man daraus abnehmen kann, von welchen Dingen man deutliche und feste Vorstellungen hat und von welchen nicht. Beobachtet man an sich selbst die Weise des Denkens und Ueberlegens, so zeigt sich, dass bei Sätzen, die über Weiss und Schwarz, Süss und Bitter, ein Dreieck und einen Kreis gebildet werden, man oft die Vorstellungen für sich benutzen kann, ohne an deren Worte zu denken. Will man dagegen Sätze über verwickeltere Vorstellungen bilden, wie über den Menschen, oder über Vitriolöl, oder über Tapferkeit oder Ruhm, so benutzt man die Worte statt der Vorstellungen, weil letztere meist unvollständig, verworren und unbestimmt sind und man daher an die Worte sich hält, die klarer, sicherer und bestimmter sind und daher beim Denken sich leichter als die blossen Vorstellungen einstellen. So benutzt man die Worte statt der Vorstellungen selbst bei dem Nachdenken und der Bildung von Sätzen innerhalb seiner selbst. Bei den Substanzen ist das, wie erwähnt, die Folge von der Unvollkommenheit ihrer Vorstellungen; man bezeichnet da mit dem Worte das Wesen, obgleich man keinen Begriff davon hat. Bei den Zuständen ist es die Folge der vielen einfachen Vorstellungen, aus denen sie gebildet werden; denn da sie zusammengesetzt sind, so stellt sich der Name leichter ein als die Gesammtvorstellung, wo Zeit und Aufmerksamkeit nöthig ist, um sie genau zurückzurufen und vollständig zu erfassen, selbst wenn man es schon früher gethan haben sollte. Ganz unmöglich ist dies aber bei Personen, die zwar ein gutes Gedächtniss für die meisten gebräuchlichen Worte ihrer Muttersprache haben, aber in ihrem ganzen Leben sich nicht um die dazu gehörenden bestimmten Vorstellungen gekümmert haben. Einige verworrene und dunkle Begriffe haben, hier ausgeholfen, und man spricht zwar viel über Religion und Gewissen, über Kirche und Glauben, über Macht und Recht, über Verstopfung und schlechte Laune, über Tiefsinn und Zorn; allein es würde von den Gedanken und Ausführungen dieser Leute wenig übrig bleiben, wenn sie dabei nur an die betreffenden Gegenstände selbst denken und die Worte bei Seite legen sollten, mit denen[191] sie nicht blos Andere, sondern auch sich selbst verwirren.

§ 5. (Sie bestehen nur in der Verbindung oder Trennung der Vorstellungen selbst, ohne ihre Worte.) Um indess auf unsern Gegenstand, die Wahrheit, zurückzukommen, so können also, wie gesagt, zwei Arten von Sätzen gebildet werden: 1) in Gedanken, wo die Vorstellungen im Denken ohne Gebrauch der Worte verbunden oder getrennt werden und deren Uebereinstimmug oder Nichtübereinstimmung erfasst wird, und 2) in Worten, wo Worte, als Zeichen von Vorstellungen, in bejahenden und verneinenden Aussprüchen verbunden oder getrennt werden. Hierbei werden gleichsam diese Lautzeichen verbunden oder getrennt. Die Sätze bestehen hier also in der Verbindung und Trennung der Zeichen, und die Wahrheit besteht darin, dass diese Verbindung und Trennung so geschieht, wie die bezeichneten Dinge mit einander stimmen oder nicht stimmen.

§ 6. (Wann Gedanken-Sätze eine wirkliche Wahrheit, und wann sie nur eine Wort-Wahrheit enthalten.) Jeder kann an sich selbst bemerken, dass die Seele, wenn sie die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellungen bemerkt oder annimmt, sie dieselben im Stillen in eine Art bejahender oder verneinender Sätze zusammenstellt; und dies meine ich mit den Ausdrücken: Verbinden und Trennen. Diese Thätigkeit der Seele, die so häufig bei einem denkenden und verständigen Manne vorkommt, ist indess leichter durch eigene Beobachtung des inneren Vorganges selbst zu begreifen, als durch Worte zu erklären. Wenn man sich zwei Linien vorstellt, nämlich die Seite und die Diagonale eines Quadrates, von welchen die Diagonale einen Zoll lang ist, so kann man sich auch diese Linie in eine Anzahl gleicher Theile getheilt vorstellen, z.B. in 5, 10, 100, 1000 oder sonst viele Theile, und man kann sich diese Linie so gleichgetheilt vorstellen, dass eine gewisse Anzahl dieser Theile der Seite des Quadrats gleich ist. Wenn man nun bemerkt oder annimmt, dass diese Art der Theilbarkeit der Diagonale mit ihrer Vorstellung derselben stimmt oder nicht stimmt, so verbindet oder trennt man beide, nämlich die Vorstellung der Diagonale[192] und die Vorstellung dieser Art ihrer Theilbarkeit, und bildet so in Gedanken einen Satz, der wahr oder falsch ist, je nachdem diese Art von Theilbarkeit sich mit der Diagonale wirklich verträgt oder nicht. Wenn so Vorstellungen zusammengestellt werden, je nachdem sie oder die Gegenstände übereinstimmen oder nicht, so nenne ich dies die Gedanken-Wahrheit. Da gegen ist die Wort-Wahrheit etwas mehr; da werden die Worte von einander bejaht oder verneint, je nachdem ihre Vorstellungen stimmen oder nicht. Dies kann wieder zweifach geschehen: entweder rein in Worten und nichtssagend, wovon ich in Kapitel 8 handeln werde, oder wirklich und belehrend, welches der Gegenstand des wirklichen Wissens ist, von dem ich bereits gehandelt habe.

§ 7. (Der Einwurf, dass die Wort-Wahrheit nur eine Chimäre sei.) Hier kann derselbe Zweifel bei der Wahrheit, wie früher bei dem Wissen, sich erheben, und man kann sagen, dass, wenn die Wahrheit nur die Verbindung oder Trennung von Worten zu Sätzen, je nachdem ihre Vorstellungen in der Seele eines Menschen stimmen oder nicht, sei, das Wissen der Wahrheit nicht den Werth habe, den man darein setze, und die auf sie verwendete Mühe und Zeit sei verloren; denn sie laufe dann nur auf die Uebereinstimmung der Worte mit den Ausgeburten des menschlichen Gehirns hinaus. Wer kenne nicht die tollen Vorstellungen, welche die Köpfe vieler Menschen erfüllt haben, und wer wisse, zu was das Gehirn eines Menschen alles fähig sein möge? Schliesse man also damit ab, so kenne man nach dieser Regel nur die Wahrheit der Worte für die Geschöpfe der Einbildungskraft und besitze nur diejenige Wahrheit, welche für Harpien und Centauren ebenso wie für Menschen und Pferde gelte; da jene ebenfalls Vorstellungen in dem Kopfe seien und mit einander übereinstimmen können oder nicht, mithin auch wahre Sätze über sie gebildet werden können; deshalb sei denn der Satz, dass alle Centauren lebende Wesen seien, ebenso wahr wie der, dass alle Menschen lebende Wesen seien. Die Gewissheit des einen sei so gross als die des andern, da in beiden gewisse Worte nach der Uebereinstimmung der Vorstellungen in der Seele zusammengestellt seien, und die Uebereinstimmung der Vorstellung eines lebendigen Wesens[193] mit der eines Centauren so klar und offenbar sei, wie die Vorstellung eines lebendigen Wesens mit der eines Menschen; so dass beide Sätze mithin gleich wahr und gewiss seien. Wozu nütze aber solche Wahrheit?

§ 8. (Antwort, dass die wirkliche Wahrheit Vorstellungen betrifft, die mit den Dingen übereinstimmen.) Das in dem vorhergehenden Kapitel überwirkliches und eingebildetes Wissen Gesagte möchte als Antwort auf diesen Einwurf genügen, um die wirkliche Wahrheit von der chimärischen zu unterscheiden, oder (wenn man will) von der blossen Wort-Wahrheit, da in beiden Fällen die Grundlage dieselbe ist; indess möchte ich wiederholen, dass die Worte zwar nur Vorstellungen bezeichnen, aber vermittelst dieser auch die Dinge bezeichnen sollen; deshalb wird bei deren Verbindung zu Sätzen deren Wahrheit nur Wort-Wahrheit sein, wenn sie Vorstellungen bezeichnen, die mit den bestehenden Dingen nicht übereinstimmen. Deshalb kann man bei der Wahrheit, wie bei dem Wissen, die wirkliche von der Wort-Wahrheit unterscheiden; bei letzterer sind die Worte nur gemäss den Vorstellungen verbunden, ohne Rücksicht, ob diese wirkliches Dasein in der Natur haben oder wenigstens dessen fähig sind. Die Wahrheit ist nur dann eine wirkliche, wenn die Zeichen nicht blos den Vorstellungen entsprechend verbunden sind, sondern diese auch wirklich in der Natur bestehen können, was man bei Substanzen nur aus der Erfahrung abnehmen kann.

§ 9. (Die Unwahrheit besteht in der Verbindung von Worten gegen die Uebereinstimmung ihrer Vorstellungen.) Die Wahrheit ist die wörtliche Bezeichnung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen in der Weise, wie sie besteht; die Unwahrheit ist die Bezeichnung dieser Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung in einer anderen Weise, als sie besteht. So weit, als dabei die Vorstellungen mit ihren Urbildern übereinstimmen, ist die Wahrheit eine wirkliche. Das Wissen um diese Wahrheit besteht in dem Wissen der Vorstellungen, welche die Worte bezeichnen, und in dem Erfassen der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellung, wie sie in den Worten ausgedrückt ist.[194]

§ 10. (Allgemeine Sätze sind ausführlicher zu behandeln.) Da die Worte als die grossen Kanäle für Wahrheit und Wissen gelten, und man bei Mittheilung und Empfang der Wahrheit und in den Verhandlungen darüber die Worte und die Sätze gebraucht, so werde ich ausführlicher untersuchen, worin die Gewissheit der wirklichen Wahrheit, die in Sätze gefasst ist, besteht, und wo sie zu finden ist; auch werde ich zeigen, welche Art allgemeiner Sätze die Gewissheit von ihrer wirklichen Wahrheit oder Unwahrheit gewähren kann. Ich beginne mit den allgemeinen Sätzen, die unser Denken am meisten beschäftigen und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Allgemeine Wahrheiten gelten als die, welche unser Wissen am meisten vermehren und durch ihren umfassenden. Inhalt vieles Einzelne auf einmal erkennen lassen, unseren Blick erweitern und den Weg zur Erkenntniss abkürzen.

§ 11. (Die moralische und die metaphysische Wahrheit.) Neben der bisher behandelten Wahrheit im strengen Sinne giebt es noch zwei andere Arten: 1) die moralische Wahrheit, wenn man von den Dingen so spricht, wie man überzeugt ist, sollten auch die ausgesprochenen Sätze mit der Wirklichkeit nicht stimmen; 2) die metaphysische Wahrheit, welche das wirkliche Dasein der Dinge ist, entsprechend den Vorstellungen, die mit deren Namen verknüpft sind. Obgleich diese Wahrheit in dem wahren Sein der Dinge zu bestehen scheint, so enthält sie doch, näher betrachtet, stillschweigend einen Satz, wodurch die Seele das einzelne Ding mit der vorher mit einem Namen verknüpften. Vorstellung verbindet. Dies wird für diese beiden Arten der Wahrheit genügen, da sie theils früher schon berücksichtigt worden sind, theils zur Erledigung meiner jetzigen Aufgabe wenig beitragen.[195]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 190-196.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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