Siebentes Kapitel.
Von den Grundsätzen

[209] § 1. (Sie haben ihre Gewissheit in sich selbst.) Es giebt eine Art Sätze, welche unter dem Namen von Maximen oder Axiomen für Grundsätze der Wissenschaften gelten. Weil sie in sich selbst gewiss sind, haben sie für angeboren gegolten, obgleich bisher Niemand (so viel ich weiss) versucht hat, den Grund oder die Unterlage ihrer Klarheit und zwingenden Gewalt darzulegen. Eine Untersuchung dieses Grundes ihrer Selbstgewissheit dürfte jedoch der Mühe werth sein, um zu sehen, ob sie ihnen eigenthümlich ist, und um ihren Einfluss und ihre leitende Macht auf unser Wissen zu ermitteln.

§ 2. (Worin diese Selbst-Gewissheit besteht.) Das Wissen besteht, wie gezeigt, in der Erfassung der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung von Vorstellungen; wird nun diese Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unmittelbar durch sie selbst erkannt, ohne dass eine andere Vorstellung dabei einzutreten hat, so ist die Kenntniss eine selbstverständliche. Dies erhellt, wenn man die Sätze betrachtet, denen man auf den ersten Blick, ohne alle Beweise, zustimmt. Der Grund dieser Beistimmung kommt überall von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der Vorstellungen, reiche, wie die Seele, bei einer unmittelbaren Vergleichung derselben bemerkt, der Bejahung oder Verneinung des Satzes entsprechen.

§ 3. (Diese Selbstgewissheit ist nicht auf die anerkannten Grundsätze beschränkt.) Wenn[209] sich dies so verhält, so fragt es sich zunächst, ob diese Selbstgewissheit nur den Sätzen eigen ist, die unter dem Namen von Axiomen umlaufen, und denen allein die Würde solcher eingeräumt worden ist. Hier erhellt, dass auch andere Wahrheiten, die nicht als solche Axiome gelten, doch an dieser Selbstgewissheit gleicherweise Theil nehmen; man braucht deshalb nur die einzelnen früher erwähnten Arten der Uebereinstimmung und Nicht-Uebereinstimmung durchzugehen, z.B. die Dieselbigkeit, die Beziehungen, das Zusammenbestehen und das wirkliche Dasein; man sieht dann, dass nicht blos diese wenigen Satze, die als Axiome gelten, sondern viele, ja unzählige andere Sätze auch dazu gehören.

§ 4. (1. In Bezug auf Dieselbigkeit und Verschiedenheit sind alle Sätze gleich selbst-gewiss.) Erstens beruht die unmittelbare Erkenntniss der Uebereinstimmung und Nicht-Uebereinstimmung bezüglich der Dieselbigkeit auf der Bestimmtheit der Vorstellungen in der menschlichen Seele, und daraus gehen ebenso viele selbst-gewisse Sätze hervor, als man bestimmte Vorstellungen hat. Alles Wissen überhaupt hat zu seiner Grundlage bestimmte und unterschiedene Vorstellungen, und es ist die erste Thätigkeit der Seele (ohne die das Wissen überhaupt unmöglich ist), jede ihrer Vorstellungen durch diese selbst zu kennen und von andern zu unterscheiden. Jeder bemerkt, dass er die Vorstellung, die er hat, kennt; ebenso dass er weiss, wenn eine in seinem Verstande ist, und was sie ist, und sind mehrere daselbst, so kennt er sie bestimmt und vermengt keine mit der andern. Indem sich dies immer so verhält (da es unmöglich ist, dass Jemand das nicht bemerkt, was er bemerkt), so kann er, wenn eine Vorstellung in seiner Seele ist, nicht daran zweifeln, dass sie da ist, und dass sie die Vorstellung ist, die sie ist, und dass, wenn zwei Vorstellungen in seiner Seele sind, sie bestimmt sind, und die eine nicht die andere ist. Deshalb werden alle solche Behauptungen und Verneinungen gemacht, ohne dass ein Zweifel, eine Ungewissheit oder Zögern dabei möglich ist; vielmehr wird ihnen sofort, sobald sie verstanden worden, zugestimmt, d.h. sobald man in der Seele die bestimmten Vorstellungen hat, welche den Worten in dem Satze entsprechen. Deshalb ist die Seele,[210] wenn sie irgend einen Satz aufmerksam betrachtet, um die beiden durch seine Worte bezeichneten, bejahten oder verneinten Vorstellungen als dieselben oder als verschiedene zu erfassen, sofort und untrüglich von der Wahrheit solchen Satzes überzeugt, gleichviel ob die Worte mehr oder weniger allgemeine Vorstellungen bezeichnen; z.B. ob die allgemeine Vorstellung des Seins von sich selbst bejaht wird, wie dies in dem Satze geschieht: Was ist, das ist; oder ob eine mehr besondere Vorstellung von sich bejaht wird, wie: Ein Mensch ist ein Mensch; oder: Was weiss ist, ist weiss; oder ob die allgemeine Vorstellung des Seins von dem Nicht-Sein verneint wird, welche Vorstellung (wenn ich es so nennen darf) die einzige von dem Sein verschiedene ist, wie dies in dem zweiten Satze geschieht, wonach dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann; oder wenn die Vorstellung eines besondern Seienden von einer andern verneint wird, wie: Der Mensch ist nicht ein Pferd; roth ist nicht blau. Sobald diese Worte verstanden sind, lässt die Verschiedenheit der Vorstellungen die Wahrheit des Satzes sofort erkennen, und zwar ebenso leicht bei allgemeinen, wie bei weniger allgemeinen Sätzen, da der Grund überall derselbe ist; denn die Seele bemerkt bei jeder ihrer Vorstellungen, dass diese dieselbe mit sich selbst ist, und dass zwei verschiedene Vorstellungen verschieden und nicht dieselben sind. Dies ist gleich gewiss, mögen die Vorstellungen mehr oder weniger allgemein, besondert oder umfassend sein. Deshalb sind nicht blos die zwei Sätze: Was ist, das ist, und: Es ist unmöglich, dass dasselbe Ding ist und nicht ist, ausschliesslich mit dieser Selbstgewissheit ausgestattet, sondern diese Auffassung des Seins oder Nicht-Seins findet auch bei jeder andern Vorstellung statt. Jene beiden allgemeinen Sätze sagen nur: »dasselbe ist dasselbe«, und: »dasselbe ist nicht verschieden«; diese Wahrheit erfasst man ebenso bei den einzelnen Fällen wie bei diesen allgemeinen Sätzen, und zwar bei einzelnen Fällen schon ehe man an jene allgemeinen Satze gedacht hat; ihre Kraft beruht auf der Unterscheidung der einzelnen Vorstellungen, welche in der Seele erfolgt. Auch ohne Beweis und Hülfe eines dieser beiden allgemeinen Sätze erkennt die Seele klar, und weiss gewiss, dass die Vorstellung von Weiss die[211] Vorstellung von Weiss ist, und nicht die von Blau, und dass, wenn diese Vorstellung in der Seele ist, sie da ist und nicht abwesend; deshalb kann die Betrachtung dieser beiden Axiome nichts zu der Gewissheit und Klarheit des Wissens der Seele beitragen. Und so verhält es sich (wie Jeder bei sich selbst erfahren kann) mit allen andern Vorstellungen in der Seele; man weiss von jeder, dass sie dieselbe und keine andere ist, und dass sie in der Seele ist und nicht wo anders, wenn sie darin ist; diese Gewissheit kann nicht grösser sein, und deshalb kann die Gewissheit bei keinem allgemeinen Satze grösser sein oder jene vermehren. Bei der Dieselbigkeit reicht deshalb das anschauliche Wissen so weit, wie Vorstellungen gehen. Man kann so viele selbst-gewisse Sätze bilden, als Worte für bestimmte Vorstellungen bestehen. Ich frage, ob der Satz: Ein Kreis ist ein Kreis, nicht ein ebenso selbst-gewisser Satz ist, wie der allgemeinere: Was ist, das ist; und ob umgekehrt der Satz: blau ist nicht roth, ein Satz ist, an dem die Seele etwa zweifeln kann, wenn sie die Worte verstanden hat; sie kann es so wenig wie an jenem Axiom, dass es für dasselbe Ding unmöglich ist, zu sein und nicht zu sein. Und dies gilt auch für alle andern Vorstellungen.

§ 5. (2. Für das Zusammenbestehen giebt es nur wenig selbst-gewisse Sätze.) Was zweitens das Zusammenbestehen betrifft, oder eine solche nothwendige Verbindung zweier Vorstellungen, dass, wenn die eine bei einem Gegenstände besteht, auch die andere dabei sein muss, so hat die Seele von dieser Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung nur in wenig Fällen eine unmittelbare Erkenntniss. Deshalb giebt es hier nur wenig anschauliches Wissen, und es giebt hier auch nur wenige selbst-gewisse Sätze; aber doch einige; so ist z.B. die Vorstellung des Körpers mit der Ausfüllung eines Raumes, der dem Inhalte seiner Oberfläche gleich ist, verbunden und deshalb der Satz selbstgewiss, dass zwei Körper nicht denselben Raum einnehmen können.

§ 6. (3. Bei andern Beziehungen giebt es deren.) Was drittens die Beziehungen von Zuständen anlangt, so haben die Mathematiker viele Axiome über die Beziehung der Gleichheit gebildet; z.B. Gleiches von[212] Gleichem genommen bleibt Gleiches. Dieser und andere Sätze dieser Art gelten zwar als Grundsätze bei den Mathematikern und sind unzweifelhaft wahr, indess zeigt sich bei ihrer Betrachtung, dass ihre Selbstgewissheit nicht klarer ist als die des Satzes: Eins und Eins sind Zwei, oder dass, wenn man von den fünf Fingern bei jeder Hand zwei Finger wegnimmt, die gleiche Zahl bei jeder Hand übrig bleibt. Diese und tausend andere Sätze Können über Zahlen aufgestellt werden, denen man, so wie man sie hört, beistimmen muss, und die dabei klarer sind, als jene mathematischen Axiome.

§ 7. (4. Ueber wirkliches Dasein giebt es keine selbst-gewissen Sätze.) Da viertens das wirkliche Dasein, nur mit der Vorstellung von uns selbst und von Gott, sonst aber mit keiner andern Vorstellung verknüpft ist, so hat man hierüber nicht einmal ein beweisbares, geschweige ein anschauliches Wissen. Deshalb giebt es hier keine Grundsätze.

§ 8. (Diese Grundsätze haben wenig Einfluss auf unser sonstiges Wissen.) Es fragt sich nun, welchen Einfluss diese anerkannten Grundsätze auf andere Theile unsers Wissens haben. Jene Regeln der Schulen, wonach alles Begründen »ex präcognitis et präconcessis« geschieht, scheinen die Grundlage für alles andere Wissen auf diese Grundsätze zu stellen und sie als die präcognita anzunehmen. Es ist damit wohl gemeint, 1) dass diese Grundsätze die ersten seien, welche die Seele kennen lernt, und 2) dass alles andere Wissen davon abhängt.

§ 9. (Denn sie sind nicht die zuerst gewussten Wahrheiten.) Dass sie indess nicht zu den zuerst der Seele bekannten Wahrheiten gehören, lehrt die Erfahrung und habe ich früher in Buch I. Kap. 2 dargelegt. Wer bemerkt nicht, dass ein Kind gewiss weiss, ein Fremder sei nicht seine Mutter, und dass sein Nutschbeutel nicht die Ruthe ist, und zwar lange bevor es weiss, dass kein Ding sein und zugleich nicht-sein kann. Mit wie vielen Wahrheiten über Zahlen ist nicht offenbar die Seele schon genau bekannt und deren gewiss, bevor sie an jene Grundsätze denkt, auf die sich die Mathematiker bei ihren Beweisen manchmal beziehn? Der Grund dafür ist klar; die Seele stimmt solchen Sätzen nur in Folge[213] ihrer Auffassung der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der darin enthaltenen Vorstellungen zu, je nachdem sie in verständlichen Worten von einander bejaht oder verneint werden. Ferner ist jede Vorstellung das, was sie ist, und zwei verschiedene Vorstellungen gelten nicht als dieselben; deshalb müssen solche selbstgewisse Wahrheiten bei denjenigen Vorstellungen zuerst gewusst werden, die zuerst in der Seele sind, und dies sind die von den einzelnen Dingen; erst von diesen ausschreitet der Verstand allmählich zu den allgemeinen fort, die von den gewöhnlichen und bekannten Gegenständen der Sinne entlehnt und in der Seele befestiget und mit Namen versehen worden. Diese Vorstellungen von einzelnen Dingen werden zuerst aufgenommen und unterschieden und das Wissen derselben zuerst erlangt; von diesen schreitet es zu den weniger allgemeinen und dem Einzelnen näher Stehenden fort; denn ganz allgemeine Vorstellungen sind für das Kind oder die noch ungeübtere Seele nicht so leicht und augenfällig als die Vorstellung des Einzelnen. Wenn bei Erwachsenen dies anders ist, so kommt es nur von dem häufigen und gewohnten Gebrauche allgemeiner Vorstellungen, Denn näher betrachtet, zeigen sich diese als Gebilde oder Erfindungen der Seele, die ihre Schwierigkeiten haben, und die sich nicht so leicht darbieten, als man meint. So braucht es einiger Mühe und Geschicklichkeit, um die allgemeine Vorstellung des Dreiecks (obgleich es noch keine sehr allgemeine, umfassende und schwere ist) zu bilden; es darf weder schief noch rechtwinklig, weder gleichseitig, noch gleichschenklig noch ungleichseitig sein, vielmehr dieses alles und auch keines von diesen. Es ist also etwas Unvollständiges, was nicht bestehn kann, und eine Vorstellung, in der Theile von verschiedenen und unverträglichen Vorstellungen verbunden sind. Allerdings braucht die Seele, bei ihrem unvollkommenen Zustande, solche Vorstellungen und sucht sie wegen der Beweglichkeit für den Verkehr und der Ausdehnung des Wissens, zu denen beiden sie hinneigt, so schnell als möglich zu gewinnen. Allein dennoch müssen solche Vorstellungen als Zeichen unserer Unvollkommenheit gelten, wenigstens ergiebt sich, dass die allgemeinsten Vorstellungen nicht die sind, mit denen die Seele zuerst und am leichtesten[214] bekannt wird, und auf welche das frühste Wissen sich bezieht.

§ 10. (Denn das übrige Wissen ist von ihnen nicht abhängig.) Zweitens folgt klar aus dem Gesagten, dass diese gefeierten Grundsätze nicht die Unterlage alles andern Wissens sind. Denn wenn es noch viele andere Wahrheiten ausser ihnen, von gleicher Selbst-Gewissheit, und viele andere, die man vor ihnen kennt, giebt, so können sie nicht die Grundsätze sein, aus denen alles andere Wissen sich ableitet. Ist es denn unmöglich, ohne die Hülfe dieser Grundsätze oder anderer, wie, dass das Ganze all seinen Theilen gleich sei, zu wissen, dass 1 und 2 zusammen gleich 3 sind? Viele wissen dies letztere, ohne von einem Grundsatze gehört oder daran gedacht zu haben, wodurch es bewiesen würde, und sie wissen es so gewiss, wie Andere es wissen, dass das Ganze seinen Theilen zusammen gleich ist oder sonst etwas der Art, und zwar Alle aus dem einen Grunde der Selbst-Gewissheit; da die Gleichheit dieser Vorstellungen, mit oder ohne solchen Grundsatz, offenbar und gewiss ist und keines Beweises bedarf. Selbst nachdem man erkannt hat, dass das Ganze all seinen Theilen gleich ist, weiss man nicht besser oder gewisser wie vorher, dass 1 und 2 gleich 3 sind; da, wenn etwas bei diesen Vorstellungen sich bedenklich zeigt, das Ganze und die Theile dunkler oder doch weniger bestimmt in der Seele auftreten als die 1, 2 und 3. Soll alles Wissen neben diesen allgemeinen Grundsätzen von allgemeinen, angeborenen und selbst-gewissen Sätzen abhängen, so möchte ich fragen, mit welchen Grundsätzen man beweisen will, dass 1 und 1 gleich 2; 2 und 2 gleich 4, und dass dreimal 2 gleich 6 sind? Da man dies ohne Beweis weiss, so erhellt, dass entweder nicht alles Wissen von bestimmten präcognitis oder Grundsätzen abhängen kann, oder dass jene Sätze auch zu den Grundsätzen gehören, wo dann eine grosse Menge von Zahlsätzen dazu gehören würde. Nimmt man dann noch die selbst-gewissen Sätze hinzu, welche über alle bestimmten Vorstellungen aufgestellt werden können, so sind die Grundsätze, zu denen man in den verschiedenen Jahrhunderten gelangt, unendlich oder wenigstens zahllos; eine Menge dieser angeborenen Grundsätze lernt man dann in seinem ganzen Leben nicht[215] kennen. Mögen sie nun früher oder später zum Bewusstsein kommen, so bleibt doch richtig, dass sie alle vermöge ihrer natürlichen Klarheit gewusst werden, ganz selbstständig sind und von andern Sätzen weder Licht noch einen starkem Beweis erhalten; am wenigsten erhält es der Einzelsatz von dem allgemeinen, und der einfachere von dem verwickelteren; denn das Einzelne und Bestimmtere ist bekannter und wird leichter und früher aufgefasst. Mögen indess die klarsten Vorstellungen sein, welche sie wollen, so beruht doch die Gewissheit und Klarheit aller dieser Sätze darauf, dass dieselbe Vorstellung für dieselbe gilt, und dass zwei verschiedene Vorstellungen für verschieden gelten. Hat man die Vorstellung von 1 und 2, von Gelb und Blau, so weiss man gewiss, dass die Vorstellung der 1 die von der 1 ist, und nicht die von der 2, und dass die von Gelb die von Gelb ist, und nicht die von Blau. Bestimmte Vorstellungen können nicht zusammenfliessen; das hiesse sie gleichzeitig als getrennte und als eine haben, was sich widerspräche, und hat man keine bestimmten Vorstellungen, so gebraucht man überhaupt seine Kräfte nicht, und hat überhaupt kein Wissen. Sobald also irgend eine Vorstellung von sich selbst bejaht wird, und sobald zwei völlig bestimmte Vorstellungen von einander verneint werden, so muss die Seele dem als untrüglich wahr beistimmen, so wie sie die Worte versteht, ohne Zögern und ohne dass sie Beweise braucht oder auf die in allgemeine Ausdrücke gefassten Grundsätze Acht hat.

§ 11. (Wozu diese allgemeinen Grundsätze nützen.) Soll man nun sagen, dass diese Grundsätze nutzlos seien? Keineswegs, wenn auch ihr Nutzen vielleicht nicht der ist, den man gewöhnlich annimmt. Indess wenn jeder Zweifel an dem, was diesen Grundsätzen zugeschrieben wird, leicht als ein Umstürzen der Grundlagen aller Wissenschaften verschrien wird, so verlohnt es sich vielleicht, sie in Rücksicht auf andere Theile des Wissens zu betrachten und ihren Nutzen genauer zu ermitteln. Erstens erhellt aus dem Obigen, dass sie für den Beweis oder die Verstärkung von weniger allgemeinen, aber selbstverständlichen Sätzen ohne Nutzen sind. Zweitens ist klar, dass sie nicht die Grundlagen sind oder gewesen sind, auf welchen eine[216] Wissenschaft aufgebaut worden ist. Man spricht zwar viel von Wissenschaften und von Grundsätzen, auf denen sie errichtet sind, und die Schulmänner verbreiten solche Ansicht; allein mein Unglück ist, dass ich niemals eine solche Wissenschaft angetroffen habe, und noch weniger eine, die auf den zwei Grundsätzen errichtet wäre: Was ist, das ist, und: Es ist unmöglich, dass dasselbe Ding sein und nicht sein kann. Ich würde mich freuen, wenn man mir eine auf diesen oder andern allgemeinen Grundsätzen errichtete Wissenschaft zeigen könnte, und wenn mir die Gestalt und das System einer auf diesen oder gleichen Grundsätzen erbauten Wissenschaft vorgelegt werden könnte, die nicht auch ohne dieselbe dennoch feststünde. Haben diese allgemeinen Grundsätze in der Gottesgelahrtheit und bei theologischen Fragen nicht dieselbe Gültigkeit wie bei andern Wissenschaften? Hier helfen sie allerdings den Zank zum Schweigen und den Streit zum Ende zu bringen; aber dennoch wird Niemand deshalb sagen, dass die christliche Religion auf diesen Grundsätzen errichtet und unser Wissen von ihr daraus abgeleitet sei; wir haben sie durch göttliche Offenbarung empfangen, und ohne diese würden uns jene Grundsätze schwerlich zu ihr verholfen haben. Entdeckt man eine Vorstellung, durch deren Vermittlung man die Verbindungen zweier anderer erkennt, so ist es eine Offenbarung Gottes durch die Stimme der Vernunft; man erfasst dann eine Wahrheit, die man vorher nicht kannte. Theilt uns Gott eine Wahrheit mit, so ist es eine Offenbarung durch die Stimme seines Geistes, und unser Wissen ist dann vermehrt; aber in beiden Fällen kommt das Licht oder Wissen nicht von Grundsätzen. In dem ersten Falle gewähren es die Dinge selbst; man erkennt die Wahrheit durch Auffassung ihrer Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung; in dem letztem gewährt es Gott uns unmittelbar, und wir sehen die Wahrheit dessen, was er uns sagt, in seiner nicht irrenden Wahrhaftigkeit.

Drittens nützen sie nichts zur Vermehrung der Wissenschaften und zur Entdeckung noch unbekannter Wahrheiten. Herr Newton hat in seinem nicht genug zu bewundernden Buche mehrere Sätze bewiesen, die ebenso viele neue, bis jetzt nicht gekannte Wahrheiten[217] enthalten, und die einen grossen Fortschritt in der Mathematik bilden; allein zu deren Entdeckung haben ihm nicht jene allgemeinen Grundsätze: Was ist, das ist, oder: Das Ganze ist grösser als der Theil, oder ähnliche verholfen; diese waren keineswegs der Leitfaden, der ihn zur Entdeckung dieser wahren und gewissen Sätze führte; und ebenso wenig haben sie ihm die Beweise mitgetheilt; vielmehr geschah dies durch die Auffindung der vermittelnden Vorstellungen, welche die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der in den Sätzen enthaltenen Vorstellungen zeigten. Darin liegen die bedeutendsten Schritte und Hülfen für den menschlichen Verstand behufs Ausdehnung der Wissenschaften; während die Betrachtung dieser und anderer viel gepriesener Grundsätze nicht das Mindeste dazu beiträgt. Wer diese überlieferte Bewunderung für jene Grundsätze hegt und meint, man könne keinen Schritt in dem Wissen vorwärts thun, ohne die Stütze eines Grundsatzes, und keinen Stein in dem Aufbau der Wissenschaften zusetzen ohne ein Axiom, der sollte doch zwischen der Erwerbung und der Mittheilung des Wissens so wie zwischen dem Verfahren, was eine Wissenschaft weiter führt, und dem, was die vorhandene nur Andern lehrt, unterscheiden; er würde dann sehen, dass diese allgemeinen Grundsätze nicht die Grundlagen sind, auf denen die ersten Entdecker ihren wunderbaren Bau errichteten, und nicht die Schlüssel, welche die Geheimnisse des Wissens aufschlossen und öffneten. Erst später, nachdem die Schulen gegründet waren und die Wissenschaften ihre Bekenner hatten, die Andern das Gefundene lehren sollten, machte man von diesen Grundsätzen Gebrauch, d.h. man legte gewisse Sätze zu Grunde, die selbstgewiss waren und für wahr galten; sie befestigten sich in der Seele der Schüler als unzweifelhafte Wahrheiten, von denen man gelegentlich Gebrauch machte, um in einzelnen Fällen die Wahrheiten zu beweisen, die ihnen nicht so bekannt waren, als jene allgemeinen Grundsätze, welche man ihnen eingeprägt und sorgfältig in ihrer Seele befestigt hatte, obgleich diese besondern Fälle sich bei deren Betrachtung ebenso selbstgewiss zeigten, wie die allgemeinen Sätze, die man zu ihrer Bestätigung herbeiholt. Der erste Entdecker fand diese besondern Wahrheiten ohne Hülfe jener allgemeinen Grundsätze, und dies[218] kann sich ebenso bei jedem Andern wiederholen, der sie mit Aufmerksamkeit betrachtet.

Der Nutzen dieser Grundsätze besteht also: 1) darin, dass man sie gebrauchen kann, wenn man Andern die Wissenschaften, soweit sie bereits bekannt sind, lehren will; dass sie aber zu deren Vermehrung wenig oder nichts helfen. 2) Dass sie bei Streitigkeiten helfen, um die hartnäckigen Zänker zum Schweigen zu bringen und ein Ende herbeizuführen, obgleich ihre Nothwendigkeit zu dem Behuf vielleicht in der Weise entstanden sein mag, dass die Schulen die Disputationen zum Prüfstein der Fähigkeiten und zum Kennzeichen des Wissens erhoben hatten; wer dabei das Feld behielt, wurde als Sieger anerkannt, und wer das letzte Wort hatte, dessen Gründe, ja dessen Sache galten als die besten. Indess konnte es zwischen geschickten Kämpfern leicht zu keiner Entscheidung kommen, da immer ein Mittel-Begriff bei der Hand war, um einen Satz zu beweisen, und da der Andere ebenso oft ohne oder mit Unterscheidung den Ober- oder Untersatz leugnen konnte; man führte deshalb, um dem Fortgange solchen Streits in eine endlose Kette von Schlüssen zuvorzukommen, gewisse allgemeine Sätze in den Schulen ein, von denen allerdings die meisten selbstverständlich waren, und da alle Welt sie anerkannte, so galten sie als der allgemeine Maassstab der Wahrheit und als Grundsätze (im Fall die Streitenden keine andern zwischen sich aufgestellt hatten), über die nicht hinausgegangen werden dürfe, und die jeder Theil anerkennen müsse. Indem damit diese Regeln zu Grundsätzen erhoben Wurden, über die man bei Streitigkeiten nicht hinausschreiten durfte, so nahm man sie fälschlich für den Ursprung und die Quelle, aus denen alles Wissen abflösse, und für die Grundlagen, auf welchen die Wissenschaften aufgebaut wären, weil man, wenn man beim Streiten auf einen solchen Satz stiess, innehielt, nicht weiter ging und damit die Sache entschieden war. Ich habe indess bereits gezeigt, wie sehr man hierbei sich im Irrthum befand. – Dieses Verfahren der Schulen, was als die Quelle des Wissens galt, verbreitete den Gebrauch dieser Grundsätze auch in die Unterhaltung ausserhalb der Schulen, um den Spöttern den Mund zu verschliessen, da man mit Dem nicht länger zu streiten brauchte, der diese selbstverständlichen[219] und von allen Verständigen anerkannten Grundsätze ableugnete. Ihr Nutzen besteht daher blos darin, dass sie diesem Zanken ein Ende machen. Auch in solchen Fällen lehren sie in Wahrheit nichts, was nicht bereits durch die in dem Streite benützten Mittel-Begriffe geleistet worden wäre; denn deren Verbindung kann auch ohne die Hülfe dieser Regeln erkannt und damit die Wahrheit schon erfasst sein, ehe diese Regeln vorgebracht und die Begründung auf einen ersten Grundsatz zurückgeführt worden ist. Schlechte Beweisgründe müssten schon vorher aufgegeben werden, wenn es bei diesem Streiten sich nicht um einen Kampf blos des Sieges wegen, statt der Auffindung und Gewinnung der Wahrheit handelte. So machen diese Regeln wenigstens der Hartnäckigkeit ein Ende, obgleich der Aufrichtige schon früher nachgegeben haben würde. Allein nachdem dieses Verfahren der Schulen einmal zugelassen worden war und die Leute ermuthigt hatte, selbst der Wahrheit so lange zu widerstehn, bis sie beschämt waren, d.h. bis sie sich selbst oder einem anerkannten Grundsatze widersprachen, so schämte man natürlich in der gewöhnlichen Unterhaltung sich dessen nicht, was in den Schulen als tapfer und rühmlich galt, und man hielt auch dort die einmal gewählte Entscheidung einer Frage, mochte sie falsch oder wahr sein, bis auf das Aeusserste fest, selbst nachdem man überführt worden war. Allerdings ein sonderbarer Weg für die Erlangung des Wissens und der Wahrheit, von dem die Vernünftigen und durch die Erziehung nicht Verdorbenen kaum je glauben konnten, dass er von den Verehrern der Wahrheit und den Erforschern der Religion und Natur zugelassen, und seine Einführung in die Pflegeschulen Denen gestattet werden würde, welche die Wahrheiten der Religion und Philosophie unter den Unwissenden und Unbefangenen verbreiten sollen. Ich brauche nicht zu zeigen, wie sehr eine solche Weise des Unterrichts die Gemüther der Tugend dem aufrichtigen Streben und der Liebe zur Wahrheit abwendig macht und sie zweifeln lässt, ob überhaupt Etwas der Art besteht, und es werth sei, dass man es glaube. Deshalb sind diese Grundsätze, mit Ausnahme der Orte, wo die peripatetische Philosophie in den Schulen eingeführt worden und Jahrhunderte sich erhalten hat, ohne der[220] Welt mehr als die Kunst des Streitens zu lehren, nirgends weder für die Grundlagen gehalten worden, auf denen die Wissenschaften errichtet seien, noch für die grössten Hülfsmittel zur Erweiterung derselben.

Sie sind also, wie gesagt, beim Streiten sehr nützlich, um den Zänkern den Mund zu stopfen, aber sie helfen nichts für die Entdeckung neuer Wahrheiten und für den Erwerb von Kenntnissen. Wer hat wohl je sein Wissen mit den Sätzen: Was ist, das ist, und: Es ist unmöglich, dass dasselbe Ding ist und nicht ist, begonnen, und wer hat von denselben, als Grundsätzen der Wissenschaft, ein System nützlicher Kenntnisse abgeleitet? Bei falschen Behauptungen, die sich widersprechen, kann ein solcher Grundsatz gleich einem Probirstein zeigen, wohin sie führen; deshalb sind sie geeignet, auch die Verkehrtheit oder den Irrthum in einer Begründung oder Meinung darzulegen; aber sie nützen wenig zur Aufklärung des Verstandes, und sie gewähren wenig Hülfe bei dem Erwerb von Kenntnissen. Diese würden nicht geringer, noch weniger gewiss sein, wenn man auch nie an diese Grundsätze gedacht hätte. Sie helfen allerdings, wie gesagt, bei Begründungen den Mund der Schreier stopfen, indem sie das Verkehrte ihrer Aussprüche darlegen und sie beschämen, weil sie leugnen, was alle Welt weiss, und weil sie von ihnen selbst für wahr anerkannt werden müssen; allein Jemand seinen Irrthum nachweisen und ihm eine Wahrheit mittheilen, ist nicht dasselbe, und ich möchte wohl wissen, welche Wahrheit durch diese Grundsätze mitgetheilt würde oder mit ihrer Hülfe erkannt würde, die man nicht schon vorher wüsste oder ohne sie erlernen könnte. Man mag mit ihnen begründen, so gut man kann, sie bleiben doch nur Aussagen über Dieselbigkeit, und ihr Einfluss ist, wenn sie überhaupt einen haben, nur hierauf beschränkt. Jeder besondere Satz ist nach der Dieselbigkeit und dem Unterschiede ebenso klar und gewiss, wie diese allgemeinen Sätze; diese werden nur mehr eingeprägt und benutzt, weil sie in ihrer Allgemeinheit für viele Fälle passen.

Andere, weniger allgemeine Grundsätze sind grossentheils nur Wort-Sätze und lehren nur die Beziehung und Bedeutung der Worte zu einander. Man sagt: »Das Ganze ist all seinen Theilen gleich«; aber welche wirkliche Wahrheit[221] lehrt wohl dieser Satz? Er enthält nicht mehr als das, was das Wort Totum oder das Ganze schon von selbst sagt. Wer weiss, dass die Welt aus allen ihren Theilen besteht, weiss ziemlich so viel, als »dass das Ganze all seinen Theilen gleich ist.« Nach solchem Grunde müssten auch der Satz, dass der Hügel höher ist als das Thai, und ähnliche, für Grundsätze gelten. Wenn aber die Lehrer der Mathematik Anderen diese Wissenschaft beibringen wollen, so stellen sie zwar mit Recht diese und andere Grundsätze an den Eingang ihres Systems; ihre Schüler sollen sich dadurch gleich im Beginn mit diesen allgemeinen Sätzen bekannt machen, sich an solches Denken gewöhnen und dieselben in Form von Regeln und Aussprüchen immer bei den einzelnen Fällen zur Hand haben; allein genau besehen, sind sie nicht klarer und offenbarer als der einzelne Fall, den sie bestätigen sollen; die Seele ist dann nur mit ihnen vertrauter, und schon ihr Name genügt dann, den Verstand zu befriedigen. Dies kommt, wie gesagt, mehr von ihrem realen Gebrauch und der Festigkeit, die sie in der Seele erlangt haben, als von einem Unterschied in der Gewissheit. Ehe die Gewohnheit eine solche Art zu denken und zu begründen in der Seele befestigt hatte, mag es ganz anders gewesen sein. Wenn einem Kinde ein Stück von seinem Apfel genommen wird, so kennt es diesen einzelnen Fall besser, als vermittelst des Gesetzes, dass das Ganze all seinen Theilen gleich ist; braucht einer von beiden Sätzen der Bestätigung durch den andern, so ist mehr für den allgemeinen die Bestätigung durch den einzelnen Fall nöthig, wie umgekehrt; denn das Wissen beginnt mit dem Einzelnen und dehnt sich nur allmählich zur Allgemeinheit aus. Später verfährt man allerdings umgekehrt; das Wissen wird in möglichst allgemeine Sätze gebracht, mit denen man sich bekannt macht und gewöhnt, auf diese als den Maassstab der Wahrheit und des Irrthums zurückzugehen. Indem so andere Sätze fortwährend an ihnen geprüft werden, entwickelt sich bald die Meinung, dass die besondern Sätze ihre Wahrheit und Gewissheit von ihrer Uebereinstimmung mit jenen allgemeinen ableiten, die man im Reden und Begründen sehr viel benutzt und stets anerkennt. Aus diesem Grunde mögen von so vielen selbst-gewissen[222] Sätzen die allgemeinsten allein den Namen von Grundsätzen erhalten haben.

§ 12. (Die Grundsätze können das Entgegengesetzte beweisen, wenn man nicht Acht hat.) Diese allgemeinen Grundsätze dienen auch deshalb wenig zur Begründung und Vermehrung des wahren Wissens, weil sie, wenn unsere Begriffe falsch oder lose und schwankend sind, und man sich mehr mit den Worten begnügt, statt mit den an sie geknüpften Vorstellungen der Dinge, leicht in Irrthümern und in einem solchen Gebrauch der Worte bestärken können, der zwar sehr gebräulich ist, aber zu Widersprüchen führt. Wenn man z.B. mit Descartes die Vorstellung des Körpers nur auf die Aasdehnung beschränkt, so kann man leicht beweisen, dass es keinen leeren Raum giebt, d.h. keinen Raum, der nicht einen Körper enthielte. Denn da das Wort Körper dann nur die Ausdehnung bezeichnet, so ist man überzeugt, dass der Raum nicht ohne Körper sein kann. Die Vorstellung der Ausdehnung ist klar und deutlich; man weiss, dass sie das ist, was sie ist, gleichviel ob sie Ausdehnung, Körper oder Raum genannt wird. Deshalb können allerdings diese drei Worte, da sie nur dieselbe Vorstellung bezeichnen, mit der gleichen Gewissheit von einander, wie jede einzelne von sich selbst, ausgesagt werden. Bei solcher Benutzung dieser Worte für dieselbe Vorstellung ist der Satz, dass der Raum der Körper ist, ebenso wahr und dieselbig in seiner Bedeutung wie der Satz, dass der Körper der Körper ist, welcher Satz in Worten und im Sinne dieselbig ist.

§ 13. (Ein Beispiel am leeren Raume.) Verbände nun ein Dritter mit dem Worte Körper eine andere Vorstellung als Descartes, und soll das in seiner Vorstellung gedachte Ding sowohl Ausdehnung wie Dichtheit haben, so kann man ebenso leicht beweisen, dass es einen leeren Raum ohne Körper giebt, wie Descartes das Gegentheil bewiesen hat. Denn Jener giebt dem Worte Raum nur die blosse Ausdehnung, und dem Worte Körper die zusammengesetzte Vorstellung von Ausdehnung und Widerstand oder Dichtheit in demselben Gegenstände. Diese beiden Vorstellungen sind nicht ein- und dieselben, sondern so verschieden, wie eins und zwei, weiss und schwarz, Körper und Mensch. Wird also die eine von[223] der andern ausgesagt, so ist dies kein dieselbiger Satz, sondern das Gegentheil; und der Satz: Die Ausdehnung oder der Raum ist kein Körper, ist so wahr und gewiss, wie dies durch den Grundsatz, dass nicht dieselbe Sache sein und nicht sein kann, nur bewirkt werden kann.

§ 14. (Sie beweisen das Dasein äusserer Dinge nicht.) So zeigt sich, dass diese beiden Sätze nämlich die: Es giebt ein Leeres, und: Es kann kein Leeres geben, durch die beiden zuverlässigen Grundsätze: Was ist, das ist; und: Dasselbe Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein, gleich gut bewiesen werden können. Allein durch keinen kann bewiesen werden, dass Körper bestehn, und von welcher Art sie bestehn; hier sind wir nur auf unsere Sinne angewiesen, mit denen man dies so weit als möglich ermitteln muss. Diese allgemeinen selbstgewissen Grundsätze enthalten nur das feste, klare und bestimmte Wissen von unsern Vorstellungen in einer allgemeinem und umfassendem Form, und sie können deshalb über das ausserhalb der Seele Vorgehende keine Auskunft geben. Ihre Gewissheit stützt sich nur auf das Wissen, dass jede Vorstellung sie selbst und von den andern verschieden ist. Hierüber ist kein Irrthum möglich, so lange sie in der Seele sind, obgleich man sich wohl irrt und irren kann, wenn man nur die Namen ohne die Vorstellungen behält oder sie im Gebrauche verwechselt. Da jene Grundsätze nur bis zu dem Laute, aber nicht bis zu dem Sinn der Worte reichen, so führen sie in solchen Fällen nur noch tiefer in Irrthum und Verwirrung. Ich erwähne dies, um zu zeigen, dass diese Grundsätze, die für die grossen Wächter der Wahrheit ausgeschrieen werden, nicht vor Irrthum schützen, wenn man die Worte unaufmerksam und schwankend gebraucht.

Was ich über den geringen Werth dieser Grundsätze für die Vermehrung des Wissens und über ihre Gefahr bei schwankenden Vorstellungen hier gesagt habe, soll nicht zur Beseitigung derselben führen, wie man mir vorgeworfen hat. Ich gebe zu, dass sie wahr und selbst-gewiss sind und deshalb nicht bei Seite gelegt werden dürfen. Wo sie einen Einfluss wirklich haben, da wäre es vergeblich, ihn vermindern zu wollen; allein man kann dennoch ohne Schaden für Wahrheit und Wissen annehmen, dass ihr Nutzen nicht der Wichtigkeit entspricht,[224] mit der sie behandelt werden, und ich warne vor ihrem schlechten Gebrauch, durch den man sich nur tiefer in dem Irrthum verstrickt.

§ 15. (Bei zusammengesetzten Vorstellungen ist ihr Gebrauch gefährlich.) Mag nun ihr Nutzen für Wort-Sätze so gross sein, wie man wolle, so gewähren sie doch nicht die geringste Erkenntniss von der Natur der ausser uns bestehenden Substanzen über die Erfahrung hinaus. Die Folgerungen aus diesen zwei sogenannten Grundsätzen sind allerdings klar, und man kann sie ohne Gefahr und Schaden zum Beweise von Dingen benutzen, die überhaupt keines Beweises bedürfen und an sich selbst klar sind, d.h. wo die Vorstellungen bestimmt und die sie bezeichnenden Worte bekannt sind. Wenn man aber diese beiden Sätze, nämlich: Was ist, das ist, und: Es ist unmöglich, dass dieselbe Sache sein und nicht sein kann, zum Beweis von Sätzen benutzen will, bei denen es sich um zusammengesetzte Vorstellungen handelt, wie Mensch, Pferd, Gold, Tugend, so entstehen grosse Gefahren, und sie lassen meist die Unwahrheit für klare Wahrheit, und die Ungewissheit für erwiesene Gewissheit nehmen. Die Folgen sind dann Irrthümer, Hartnäckigkeit und alles Schlechte, was aus falschen Gründen hervorgeht; nicht, weil diese Grundsätze bei Sätzen mit zusammengesetzten Vorstellungen weniger wahr und beweisend sind wie bei einfachen Vorstellungen, sondern weil man irrthümlich meint, dass wenn man die Worte in den Sätzen beibehält, sie auch für dieselben Dinge gelten, obgleich die mit den Worten bezeichneten Vorstellungen gewechselt sind. Deshalb können diese Grundsätze zur Vertheidigung von Sätzen gebraucht werden, die sich in Wort und Sinn widersprechen, wie das obige Beispiel mit dem leeren Räume ergeben hat. Deshalb kann man mit diesen Grundsätzen, wenn man, wie meist geschieht, die Worte für die Dinge nimmt, das Entgegengesetzte beweisen, wie ich noch weiter darlegen werde.

§ 16. (Ein Beispiel an dem Menschen.) Will man z.B. über den Menschen Etwas mittelst dieser obersten Grundsätze beweisen, so zeigt sich, dass diese Grundsätze nicht über Wort-Beweise hinauskommen und keinen sicheren, allgemeinen und wahren Satz und kein Wissen über[225] einen Gegenstand von uns darbieten. Wenn ein Kind sich die Vorstellung eines Menschen bildet, so gleicht sie wahrscheinlich dem Bilde, das der Maler aus der äussern Erscheinung zusammenstellt; eine solche Gesammtvorstellung macht des Kindes Vorstellung vom Menschen aus, und da in England dazu die weisse oder Fleischfarbe gehört, so kann das Kind beweisen, dass der Neger kein Mensch ist; denn es fehlt ihm die in seiner Vorstellung enthaltene weisse Farbe; deshalb kann das Kind vermittelst des Grundsatzes, dass dasselbe Ding nicht zugleich sein und nicht sein kann, beweisen, dass der Neger kein Mensch ist. Die Grundlage hierbei ist nicht jener Grundsatz, von dem das Kind vielleicht niemals etwas gehört hat, sondern die klare und bestimmte Auffassung seiner eignen Vorstellungen von Schwarz und Weiss, die es nach seiner Ueberzeugung nie verwechseln kann, wenn es auch jenen Grundsatz nicht kennt. Ebenso kann man diesem Kinde und jedem Andern, der die gleiche Vorstellung von dem Menschen hat, nicht beweisen, dass der Mensch eine Seele habe, da seine Vorstellung eine solche Bestimmung nicht enthält. Deshalb hilft der Grundsatz: Was ist, das ist, hierbei nichts; sondern es hängt von der Beobachtung und den Verbindungen ab, die man zur Bildung seiner mit Mensch bezeichneten Vorstellung benutzt.

§ 17. Sodann kann ein Anderer, der in der Bildung und Verbindung der: Mensch genannten Vorstellung weiter gegangen ist und zu der äussern Gestalt noch das Lachen und ein vernünftiges Denken hinzugefügt hat, beweisen, dass Neugeborene und Wechselbälge keine Menschen sind, und zwar vermittelst des Grundsatzes, dass dasselbe Ding nicht zugleich sein und nicht sein kann, und ich habe ganz vernünftige Leute getroffen, die wirklich dieser Meinung waren.

§ 18. Drittens bildet vielleicht ein Anderer die Gesammtvorstellung, Mensch genannt, nur aus der Vorstellung eines Körpers überhaupt mit dem Vermögen zur Sprache und zur Vernunft, ohne die Gestalt mit aufzunehmen; dann kann er beweisen, dass der Mensch keine Hände zu haben braucht und vier Füsse haben kann, da diesen Bestimmungen in seiner Vorstellung des Menschen nichts entgegensteht, und nach dieser jeder Körper, der sprechen kann und Vernunft hat, ohne Rücksicht auf[226] seine Gestalt, ein Mensch ist. Dieser Dritte hat ein sicheres Wissen von solch einer Vorstellung und ist deshalb sicher, dass das, was ist, auch ist.

§ 19. (Bei klaren und deutlichen Vorstellungen haben diese Grundsätze für die Beweise wenig Nutzen.) Recht betrachtet, erhellt also, dass, wo die Vorstellungen bestimmt, ihre Namen bekannt sind, und ihre Bedeutungen nicht gewechselt werden, man diese Grundsätze wenig oder gar nicht braucht, um die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der Vorstellungen zu beweisen. Wer die Wahrheit oder Unwahrheit solcher Sätze nicht auch ohne die Hülfe dieser und ähnlicher Grundsätze erkennen kann, wird bei diesen Grundsätzen wenig Hülfe finden; denn man muss von ihm annehmen, dass er auch die Wahrheit dieser Grundsätze ohne Beweise nicht erkennen kann, wenn er die Wahrheit anderer nicht ohne Beweis fassen kann, die ebenso selbst-gewiss sind, wie jene. Aus diesem Grunde bedarf und gestattet bei dem anschaulichen Wissen ein Theil nicht mehr Beweis als der andere. Wer dies nicht annimmt, nimmt die Grundlage alles Wissens und aller Gewissheit hin weg, und wer eines Beweises bedarf, um dem Satz zuzustimmen, dass zwei gleich zwei seien, braucht auch einen Beweis für den Satz: Was ist, das ist. Wer einen Beweis dafür braucht, dass zwei nicht drei sind, dass weiss nicht schwarz, und dass ein Dreieck kein Kreis u.s.w. ist und dass überhaupt zwei verschiedene Vorstellungen nicht ein- und dieselbe sind, wird auch einen Beweis dafür verlangen, dass es unmöglich sei, dass dasselbe Ding ist und nicht ist.

§ 20. (Der Gebrauch derselben ist bei verworrenen Vorstellungen gefährlich.) Wenn daher diese Grundsätze da, wo man bestimmte Vorstellungen hat, wenig nützen, so können sie da leicht schaden, wo die Vorstellungen schwankend sind und wo man Worte gebraucht, ohne bestimmte Vorstellungen damit zu verbinden, oder wo die Worte nur eine löse und veränderliche Bedeutung haben und bald Dieses, bald Jenes bedeuten. Die daraus hervorgehenden Irrthümer und Unwahrheiten werden dann durch das Ansehn dieser Grundsätze (die dann als Beweise dienen für Sätze, deren[227] Ausdrücke schwankende Vorstellungen bezeichnen) nur bestätigt und befestigt.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872, S. 209-228.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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