Erstes Kapitel.
Von den Vorstellungen im Allgemeinen und deren Ursprunge

[100] § 1. (Vorstellungen sind der Gegenstand des Denkens.) Jedermann weiss, wenn er auf sein Denken achtet, dass das, womit seine Seele während des Denkens befasst ist, die darin enthaltenen Vorstellungen sind; deshalb haben unzweifelhaft die Menschen in ihrer Seele mancherlei Vorstellungen, wie dergleichen z.B. mit den Worten: Weisse, Härte, Süssigkeit, Denken, Bewegung, Mensch, Elephant, Armee, Trunkenheit und anderen bezeichnet werden. Es gehört zu den wichtigsten[100] Fragen, wie die Seele zu ihnen gelangt. Es ist, wie ich weiss, ein angenommener Satz, dass den Menschen Vorstellungen angeboren, und ursprüngliche Zeichen gleich mit dem Beginn ihres Daseins eingeprägt seien. Ich habe diese Meinung in dem vorgehenden Buche bereits untersucht, und ich hoffe, dem dort Gesagten wird noch leichter beigestimmt werden, wenn ich gezeigt haben werde, woher der Verstand alle seine Vorstellungen entnimmt, und auf welchem Wege und in welchem Maasse sie in ihn eintreten. Ich rechne dabei auf die Beobachtungen und Erfahrungen eines Jeden.

§ 2. (Alle Vorstellungen kommen von der sinnlichen und Selbst-Wahrnehmung.) Wir wollen also annehmen, die Seele sei, wie man sagt, ein weisses, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgend welche Vorstellungen; wie wird sie nun damit versorgt? Woher kommt sie zu dem grossen Vorrath, welche die geschäftige und ungebundene Phantasie des Menschen darauf in beinah endloser Mannichfaltigkeit verzeichnet hat? Woher hat sie all den Stoff für die Vernunft und das Wissen? Ich antworte darauf mit einem Worte: Von der Erfahrung. All unser Wissen ist auf diese gegründet, und von ihr leitet es sich im letzten Grunde ab. Unser Beobachten, entweder der äussern wahrnehmbaren Dinge oder der innern Vorgänge in unserer Seele ist es, was den Verstand mit dem Stoff zum Denken versieht. Sie sind die beiden Quellen des Wissens, aus der alle Vorstellungen, die wir haben oder natürlicherweise haben können, entspringen.

§ 3. (Die Gegenstände der Sinne sind die eine Quelle der Vorstellungen.) Zunächst führen die Sinne in Berührung mit einzelnen sinnlichen Gegenständen verschiedene Vorstellungen von Dingen der Seele zu, je nach dem Wege, auf dem diese Gegenstände die Sinne erregen. So gelangen wir zu den Vorstellungen des Gelben, Weissen, Heissen, Kalten, Weichen, Harten, Bittern, Süssen und allen sogenannten sinnlichen Eigenschaften. Mit diesem »Zuführen« meine ich, dass die Sinne von äussern Gegenständen das der Seele zuführen, was die Vorstellung in ihr hervorbringt. Diese grosse Quelle unserer meisten Vorstellungen, die ganz von unsern Sinnen, abhängen und durch sie in den Verstand[101] übergeführt werden, nenne ich die Sinnes-Wahrnehmung.

§ 4. (Die Wirksamkeit unserer Seele ist die andere Quelle von Vorstellungen.) Zweitens ist die andere Quelle, aus der die Erfahrung den Verstand mit Vorstellungen versieht, die Wahrnehmung der Vorgänge in unserer eigenen Seele, wenn sie sich mit den erlangten Vorstellungen beschäftigt. Wenn die Seele auf diese Vorgänge blickt und sie betrachtet, so versehen sie den Verstand mit einer andern Art von Vorstellungen, die von Aussendingen nicht erlangt werden können; dahin gehören das Wahrnehmen, das Denken, Zweifeln, Glauben, Begründen, Wissen, Wollen und alle jene verschiedenen Thätigkeiten der eigenen Seele. Indem wir uns deren bewusst sind und sie in uns betrachten, so empfängt unser Verstand dadurch ebenso bestimmte Vorstellungen, wie von den unsere Sinne erregenden Körpern. Diese Quelle von Vorstellungen hat Jeder ganz in sich selbst, und obgleich hier von keinem Sinn gesprochen werden kann, da sie mit äusserlichen Gegenständen nichts zu thun hat, so ist sie doch den Sinnen sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt werden. Allein da ich jene Quelle schon Sinneswahrnehmung nenne, so nenne ich diese: Selbstwahrnehmung, da die von ihr gebotenen Vorstellungen von der Seele nur durch Wahrnehmung ihres eigenen Thuns in ihr gewonnen werden können, unter Selbstwahrnehmung verstehe ich in dem Folgenden die Kenntniss, welche die Seele von ihrem eigenen Thun und seiner Weise nimmt, wodurch die Vorstellungen von diesen Thätigkeiten in dem Verstand entstehen. Diese beiden Dinge, d.h. die stofflichen, als die Gegenstände der Sinne, und die Vorgänge innerhalb unserer Seele als die Gegenstände der Selbstwahrnehmung sind für mich der alleinige Ursprung aller unserer Vorstellungen. Ich brauche hier das Wort: Vorgänge in einem weitem Sinne, wo es nicht blos die Thätigkeit der Seele in Bezug auf ihre Vorstellungen, sondern auch eine Art von Gefühlen umfasst, die mitunter aus ihnen entstehen, wie z.B. die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, welche aus einem Gedanken entspringt.

§ 5. (All unsere Vorstellungen gehören zu einer von diesen beiden Arten.) Der Verstand[102] scheint mir keine Spur von Vorstellungen zu haben, die nicht aus einer dieser beiden Quellen hervorgehen. Die äussern Gegenstände versehen die Seele mit den Vorstellungen der sinnlichen Eigenschaften, wozu alle jene verschiedenen Wahrnehmungen gehören, welche sie in uns hervorbringen, und die eigene Seele versieht den Verstand mit den Vorstellungen ihrer Wirksamkeit. Wenn wir die volle Uebersicht derselben und ihrer verschiedenen Arten, Verbindungen und Beziehungen erlangt haben, so wird sich zeigen, dass sie den ganzen Vorrath unseres Vorstellens umfassen, und dass nichts in unserer Seele ist, was nicht auf diesen beiden Wegen in sie gelangt. Ein Jeder prüfe seine Gedanken und untersuche seinen Verstand, und er mag mir dann sagen, ob die ursprünglichen Vorstellungen darin andere sind, als die von den Gegenständen seiner Sinne oder von der Wirksamkeit seiner Seele, als Gegenstande der Selbstwahrnehmung genommen, kommen. Wie gross auch die Masse der darin enthaltenen Vorstellungen sein mag, so wird er bei genauer Besichtigung sehen, dass er in seiner Seele nur solche, aus einer dieser beiden Quellen geflossenen Vorstellungen hat, obgleich sie vielleicht von dem Verstande in endloser Mannichfaltigkeit verknüpft und erweitert sein mögen, wie wir später sehen werden.

§ 6. (Dies zeigt sich bei Kindern.) Betrachtet man aufmerksam den Zustand eines neugeborenen Kindes, so hat man wenig Anlass, es mit einer Fülle von Vorstellungen versehen anzunehmen, welche der Stoff seines künftigen Wissens sind; vielmehr gelangt es allmählich zum Besitz derselben. Allerdings prägen die Vorstellungen nahe liegender und häufig vorkommender Eigenschaften sich ein, ehe das Gedächtniss über die Zeit und Ordnung derselben ein Register zu halten beginnt; indess kommen doch manche seltenere Eigenschaften so spät auf diesem Wege in die Seele, dass die meisten Menschen sich wohl entsinnen können, wenn sie mit ihnen bekannt geworden. Wäre es der Mühe werth, so könnte man leicht ein Kind so behandeln, dass es selbst von den gewöhnlichen Vorstellungen nur wenig besässe, ehe es gross geworden. Jetzt sind alle Kinder nach ihrer Geburt von Gegenständen umgeben, die sie ohne Unterlass und verschieden erregen; eine Mannichfaltigkeit von Vorstellungen[103] drücken sich der Seele des Kindes ein, mag man darauf Acht haben oder nicht. Licht und Farben sind überall geschäftig bei der Hand, sobald das Kind die Augen öffnet; Töne und einzelne fühlbare Eigenschaften reizen seine Sinne und erzwingen sich einen Eingang in seine Seele; würde aber ein Kind an einem Ort gehalten, wo es nur Schwarzes und Weisses sähe) bis es gross geworden, so würde es, wie wohl Jeder einräumen wird, von Purpur und Grün ebenso wenig eine Vorstellung haben, als Jemand von dem Geschmack einer Auster oder Ananas, die er nie gegessen hat.

§ 7. (Die Menschen sind damit verschieden versehen je nach den verschiedenen Gegenständen, die ihnen vorkommen.) Die Menschen werden deshalb mit mehr oder weniger einfachen Vorstellungen von aussen versehen, je nach der grossen oder geringen Mannichfaltigkeit der Gegenstände, mit denen sie verkehren, oder je nachdem sie mehr oder weniger auf die Vorgänge in ihrer Seele achten. Denn wenn auch Der, welcher auf diese Vorgänge achtet, einfache und klare Vorstellungen von ihnen erlangen muss, so wird er doch, wenn er seine Gedanken nicht darauf richtet und sie nicht aufmerksam betrachtet, von den Vorgängen in seiner Seele und allem dabei Vorkommenden so wenig klare und deutliche Vorstellungen haben, als Der von den Einzelnheiten einer Landschaft oder den Bewegungen einer Wanduhr, welcher seine Augen nicht hinwendet und nicht alle Theile aufmerksam betrachtet. Das Gemälde oder die Uhr können so gestellt sein, dass sie alle Tage ihm aufstossen, aber er wird dennoch nur eine verworrene Vorstellung aller Theile, aus denen sie bestehen, haben, wenn er sie nicht aufmerksam im Einzelnen betrachtet.

§ 8. (Die Vorstellungen der Selbstwahrnehmung kommen später, weil sie Aufmerksamkeit erfordern.) Hier haben wir den Grand, weshalb Kinder ziemlich spät die Vorstellungen von ihren inneren Vorgängen gewinnen; manche haben selbst ihr ganzes Leben lang von den meisten dieser Vorgänge keine klare und vollständige Vorstellung; denn sie finden zwar fort während statt, aber sie machen, wie schwankende Erscheinungen, keinen so tiefen Eindruck, um in der Seele eine klare, deutliche und dauernde Vorstellung zurückzulassen,[104] ehe nicht der Verstand sich nach innen auf sich wendet, auf seine eigene Thätigkeit achtet und sie zu dem Gegenstand seiner Betrachtung macht. Neugeborene Kinder sind von einer Welt neuer Gegenstände umgeben, die ihre Sinne ohne Unterlass erregen und die Seele auf sich ziehen, die gern das Neue beachtet und steh an dem mannichfachen Wechsel der Gegenstände erfreut. So werden die ersten Jahre meist im Herumschauen auf äussere Gegenstände verbracht; das Geschäft des Menschen ist in dieser Zeit, sich mit dem, was drausssen ist, bekannt zu machen; so wächst er In einem beständigen Wahrnehmen der Aussendinge auf und giebt selten genauer auf die Vorgänge in seinem Innern Acht, bis er zu reifem Jahren kommt; ja, Manche selbst dann nicht.

§ 9. (Die Seele beginnt Vorstellungen zu haben, wenn sie wahrzunehmen beginnt.) Fragt man, wann ein Mensch die ersten Vorstellungen erlange, so heisst dies fragen, wann er wahrzunehmen anfange; denn Wahrnehmen und Vorstellungen haben ist dasselbe. Ich weiss, man ist der Meinung, dass die Seele immer denke, und dass sie, so lange sie bestehe, ohne Unterlass wirklich gegenwärtige Vorstellungen habe, und dass das wirkliche Denken von der Seele so untrennbar sei, wie die Ausdehnung von dem Körper. Wäre. dies richtig, so fiele die Frage nach dem Anfange des Vorstellens mit der nach dem Anfange der Seele zusammen, denn nach dieser Auffassung müsste die Seele und ihr Vorstellen, wie der Körper und seine Ausdehnung, beide zugleich zu bestehen anfangen.

§ 10. (Die Seele denkt nicht immer; dafür fehlt der Beweis.) Ob die Seele vorher oder gleichzeitig oder etwas später zu bestehen anfängt, als die ersten Grundlagen des Organismus oder der Anfang des Lebens in dem Körper, mögen die entscheiden, die dies besser verstehen. Ich für meine Person gestehe, dass ich eine von jenen dummen Seelen habe, die sich nicht immer in der Betrachtung von Vorstellungen bemerkt, und die das stete Denken für die Seele ebenso wenig nöthig hält, wie die stete Bewegung für einen Körper; da das Erfassen von Vorstellungen (nach meinem Verstande) für die Seele dasselbe ist, wie die Bewegung für den Körper; nicht ihr Wesen, sondern eine ihrer Verrichtungen. Mag[105] daher das Denken noch so sehr als die eigentliche Thätigkeit der Seele angesehen werden, so braucht die Seele doch nicht als immer denkend und in Thätigkeit angenommen zu werden. Es mag dies das Vorrecht des unendlichen Urhebers und Erhalters der Dinge sein, der niemals schlummert noch schläft; aber es passt nicht zu einem endlichen Wesen, wenigstens nicht für die menschliche Seele. Wir wissen durch Erfahrung, dass wir manchmal denken, und folgern daraus mit Recht, dass in uns Etwas ist, was die Kraft zu denken hat; allein ob diese Substanz ununterbrochen denkt oder nicht, kann man nur durch Erfahrung erkennen. Denn wenn man sagt, dass das wirkliche Denken der Seele wesentlich und untrennbar von ihr sei, so setzt man nur das, was eben in Frage steht; dies ist kein vernünftiger Beweis, der doch nöthig ist, wo es sich nicht um selbstverständliche Grundsätze handelt. Ob aber der Satz: Die Seele denkt immer, zu den selbstverständlichen Grundsätzen gehöre, denen Jeder bei dem ersten Hören zustimme, darüber berufe ich mich auf alle Menschen. Es ist in Frage, ob ich vergangene Nacht gedacht habe oder nicht; es handelt sich also um eine Thatsache, und man nimmt die Sache schon als ausgemacht an, wenn man als Beweis dafür eine Hypothese bringt, um deren Beweis es sich eben handelt. Ich brauche dann nur anzunehmen, dass alle Uhren, so lange der Pendel sich bewegt, denken, um zu beweisen und zwar zweifellos, dass meine Uhr die ganze letzte Nacht gedacht habe. Wer sich aber nicht täuschen will, muss seine Hypothese auf Thatsachen stützen und durch wirkliche Erfahrungen begründen und in den Thatsachen nichts als ausgemacht annehmen, blos seiner Hypothese wegen, d.h. weil er es so voraussetzt. Solche Beweise laufen darauf hinaus, dass ich die vorige ganze Nacht gedacht habe, weil ein Anderer annimmt, dass ich immer denke, obgleich ich dies an mir nicht bemerken kann. Indess setzen Menschen, die in ihre Meinung verliebt sind, nicht nur das in Frage stehende als ausgemacht voraus, sondern bringen auch entstellte Thatsachen herbei. Wie könnte man mir sonst den Schluss zur Last legen, dass ein Ding nicht ist, weil man es im Schlafe nicht bemerkt. Ich behaupte ja nicht, dass keine Seele in dem Menschen sei, weil er sich derselben im[106] Schlafe nicht bewusst ist; sondern: Man kann weder im Wachem noch im Schlafe denken, ohne es zu bemerken. Unser Wahrnehmen ist nicht für Alles nothwendig, ausgenommen für unser Denken; dazu ist es nothwendig, und wird es immer bleiben, bis man denken kann, ohne es zu wissen.

§ 11. (Die Seele ist sich ihres Denkens nicht immer bewusst.) Ich gebe zu, dass bei einem wachenden Menschen die Seele niemals ohne Denken ist, weil dies die Bedingung des Wachseins ist; altem ob das Schlafen, ohne zu träumen, nicht ein Zustand des ganzen Menschen ist, seiner Seele wie seines Körpers, mag der wachende Mensch überlegen, da es schwer zu begreifen ist, dass ein Wesen denken sollte, ohne es zu wissen. Thut die Seele dies bei einem schlafenden Menschen, ohne es zu wissen, so frage ich, ob sie während eines solchen Denkens Lust oder Schmerz empfindet und des Glückes oder Unglücks fähig ist? Sicherlich ist es ein solcher Mensch so wenig, wie sein Bett oder die Erde, auf der er liegt; denn glücklich oder elend zu sein, ohne es zu wissen, scheint mir unverträglich und unmöglich. Ist es möglich, dass die Seele, während der Körper schläft, denkt, Lust und Kummer, Vergnügen und Schmerz für sich hat, wovon der Mensch kein Wissen hat, und woran er nicht Theil nimmt, so ist auch der Sokrates im Schlafe nicht dieselbe Person mit dem Sokrates im Wachen; seine Seele, wenn er schläft, und der Mensch Sokrates, der aus Seele und Körper besteht, sind dann zwei verschiedene Personen, da der wachende Sokrates nicht weiss und sich nicht kümmert um dieses Glück oder Elend seiner Seele, das sie für sich empfindet, während er schläft und nichts davon bemerkt; gleich als handele es sich um das Glück oder Elend eines Menschen in Indien, den er nicht kennt. Denn wenn man alles Bewusstsein um unser Handeln und Empfinden, insbesondere um Lust und Schmerz, und die sie begleitende Theilnahme ganz hinwegnimmt, so dürfte es schwer sein, anzugeben, worin dann die Dieselbigkeit einer Person noch bestehen soll.

§ 12. (Wenn Jemand im Schlafe denkt, ohne es zu wissen, so sind der schlafende und wachende Mensch zwei verschiedene Personen.) Man sagt, die Seele denkt während des gesunden Schlafes.[107] Wenn sie denkt und vorstellt, kann sie sich sicherlich auch Lust und Schmerz vorstellen, wie Anderes, und sie muss nothwendig sich ihrer eigenen Vorstellungen bewusstsein. Allein sie hat dies Alles für sich; der schlafende Mensch weiss nichts davon. Kastor's Seele soll also danach während seines Schlafes sich aus seinem Körper zurückgezogen haben; dies kann für meinen Gegner keine unmögliche Annahme sein, da sie ja allen Thieren das Leben ohne eine denkende Seele zugestehen. Meine Gegner können es daher nicht für unmöglich oder widersprechend halten, dass der Körper ohne die Seele leben kann, und dass die Seele bestehen, denken oder vorstellen, ja selbst Glück und Elend ohne den Körper empfinden kann. Die Seele Kastor's soll deshalb, wie gesagt, während er schläft, für sich besonders bestehen und für sich denken. Sie mag als Schauplatz ihres Denkens den Körper eines andern Menschen, z.B. des Pollux wählen, der ohne Seele schläft; denn wenn Kastor's Seele denken kann, während Kastor schläft und er nichts davon weiss, so ist es gleichgültig, welche Stelle sie zu ihrem Denken auswählt. So haben wir die Körper von zwei Menschen mit nur einer Seele zwischen ihnen, die wechselsweise schlafen und wachen mögen; die Seele denkt in dem wachenden Menschen, wovon der schlafende nichts weiss und nicht die leiseste Wahrnehmung hat. Nun frage ich, ob Kastor und Pollux so mit einer Seele für Beide, die in dem Einen denkt und auffasst, was der Andere nie weiss, noch was ihn kümmert, nicht ebenso zwei verschiedene Personen sind, als Kastor und Hercules oder Sokrates und Plato gewesen sind. Könnte dann nicht der Eine sehr glücklich, der Andere sehr elend sein? Gerade so machen Die aus der Seele und dem Menschen zwei Personen, die die Seele denken lassen, wovon der Mensch nichts weiss; denn ich nehme an, dass Niemand die Dieselbigkeit einer Person in die Verbindung der Seele mit genau bestimmten einzelnen Stofftheilen setzt; denn dann könnte bei dem fortwährenden Ab- und Zutreten der Stofftheilchen in unserm Körper kein Mensch zwei Tage, ja selbst zwei Augenblicke lang dieselbe Person sein.

§ 13. (Der Beweis, dass Personen denken, die, ohne zu träumen, schlafen, ist unmöglich.)[108] So erschüttert jedes schläfrige Nicken die Lehre, dass die Seele immer denkt, wenigstens kann man Die, welche einmal, ohne zu träumen, schlafen, nie überzeugen, dass ihr Denken während vielleicht vier Stunden geschäftig gewesen ist, ohne dass sie es gewusst haben. Selbst wenn man sie mitten in dieser schlafenden Betrachtung aufweckt, können sie darüber keine Auskunft geben.

§ 14. (Träume, derer man sich nicht entsinnt, beweisen nichts.) Man erwidert vielleicht, dass die Seele selbst in dem gesundesten Schlafe denke; nur das Gedächtniss behalte es nicht. Indess ist es schwer zu begreifen, dass die Seele eines Schlafenden in diesem Augenblick denkend thätig sein und in dem nächsten, wo er aufwacht, nicht das Geringste von dem Gedachten sich soll zurückrufen können; deshalb sind hierfür bessere Beweise nöthig, als blosse Behauptungen, wenn man es glauben soll. Denn wer kann wohl, blos weil es ihm gesagt worden, sich ohne Schwierigkeit vorstellen, dass die meisten Menschen täglich an vier Stunden während ihres Lebens etwas denken, dessen sie sich, wenn man sie selbst mitten in diesen Gedanken fragt, durchaus nicht entsinnen können? Die meisten Menschen werden, glaube ich, während eines grossen Theils ihres Schlafens nichts träumen. Ich habe einen Mann gekannt, der eine gelehrte Erziehung erhalten und kein schlechtes Gedächtniss hatte; dieser sagte mir, dass er nicht eher geträumt habe, als bis er das Fieber bekommen, von dem er erst neuerlich genesen war; also hat er bis zu dem 25. oder 26sten Jahre seines Lebens nicht geträumt. Ich glaube, es giebt mehr solcher Beispiele, und Jedermann wird Bekannte haben, die ihm Beispiele dafür beibringen können, dass Menschen die Nächte meistentheils ohne Träume verbringen.

§ 15. (Nach dieser Annahme müssten die Gedanken eines schlafenden Mannes die vernünftigsten sein.) Ein häufiges Denken, ohne auch nur einen Augenblick darum zu wissen, ist eine sehr ungewöhnliche Art zu denken; in solchem Zustande ist die Seele wenig oder gar nicht besser als ein. Spiegel, der fortwährend mannichfache Bilder oder Vorstellungen empfängt, aber nicht behält. Sie verschwinden und verlöschen, ohne eine Spur zu hinterlassen; der Spiegel ist[109] nicht besser für solche Bilder, wie die Seele für solche Gedanken. Man erwidert vielleicht, »dass bei einem wachenden Menschen die Stofftheilchen beim Denken benutzt und gebraucht werden, und das das Gedächtniss von diesen Gedanken, von den Eindrücken auf das Gehirn und von den Spuren, die das Denken dort zurückgelassen habe, komme; dagegen denke bei dem nicht bewussten Denken eines schlafenden Menschen die Seele für sich, ohne die Organe des Körpers zu benutzen, und deshalb träten diese Gedanken nicht in das Gedächtniss.« – Ich will dagegen nicht die Widersinnigkeit nochmals geltend machen, dass mit dieser Annahme der Mensch in zwei Personen aufgelöst wird; allein wenn die Seele ohne Hülfe ihres Körpers Vorstellungen aufnehmen und betrachten kann, so kann man doch auch annehmen, dass sie dieselben ohne Hülfe des Körpern behalten kann; sonst hätte die Seele für sich und die blossen Geister nur wenig Vortheil von ihrem Denken. Wenn der Seele das Gedächtniss für ihre Gedanken abgeht, wenn sie dieselben nicht für ihren Gebrauch aufbewahren und gelegentlich zurückrufen kann; wenn sie das Vergangene nicht überdenken und ihre früheren Erfahrungen, Ueberlegungen und Betrachtungen sich nicht zu Nutze machen kann, was hilft ihr da ihr Denken? Wenn man die Seele zu einem denkenden Wesen dieser Art macht, so ist sie um nichts besser, als wenn man sie nur zu den feinsten Theilen des Stoffes herabsetzt. Zeichen, auf Staub geschrieben, welche der nächste Windhauch verlöscht, oder Eindrücke auf einen Haufen Atome oder. Lebensgeister, sind dann ebenso nützlich und machen ihren Gegenstand ebenso edel, als Gedanken, die in der Seele bei dem Denken erlöschen, und die, einmal das dem Gesicht gekommen, für immer verschwunden sind und kein Gedächtniss von sich zurücklassen. Die Natur schafft keine ausgezeichneten Wesen blos zu niedrigen oder gar keinem Gebrauche, und man kann schwer begreifen, dass der allweise Schöpfer eine so wunderbare Kraft, wie das Denken, die der Vortrefflichkeit seines unbegreiflichen Wesens am nächsten kommt, geschaffen haben sollte, um so leer und nutzlos verwendet zu werden, dass sie wenigstens den vierten Theil ihres irdischen Daseins denken sollte, ohne sich desselben zu erinnern und ohne[110] sich oder Anderen damit zu nützen oder irgend einem Theile der Schöpfung Vortheil zu bringen. Selbst die Bewegung des vernunft- und gefühllosen Stoffes in irgend einem Theile eines Weltalls wird nicht so nutzlos erschaffen und so ganz weggeworfen sein.

§ 16. (Nach dieser Hypothese müsste die Seele Vorstellungen haben, die weder von der Sinnes-noch Selbst-wahrnehmung kämen; allein solche zeigen sich nicht.) Wir haben allerdings mitunter Vorstellungen während des Schlafes, die im Gedächtniss bleiben, allein wer mit Träumen bekannt ist, weiss, wie maasslos und unzusammenhängend sie in der Regel sind, und wie sie wenig der Vollkommenheit und Ordnung eines vernünftigen Wesens entsprechen. Ich möchte nun gern wissen, ob, wenn die Seele so für sich, als wäre sie vom Körper getrennt, denkt, sie dabei weniger vernünftig verfährt, als in Verbindung mit ihm? Sind ihre getrennten Gedanken weniger vernünftig, dann müssen meine Gegner anerkennen, dass die Seele ihr vollkommeneres und vernünftigeres Denken dem Körper verdankt; ist dies aber nicht der Fall, so ist es unbegreiflich, dass unsere Träume meist so sinnlich und unvernünftig sind, und dass die Seele von ihren vernünftigem Selbstgesprächen und Ueberlegungen nichts behalten sollte.

§ 17. (Wenn ich nicht weiss, ob ich denke, so kann es auch kein Anderer wissen.) Wenn man so zuversichtlich behauptet, dass die Seele immer denkt, so sollte man: doch sagen, welcher Art die Vorstellungen in der Seele eines Kindes sind, ehe sie, oder genau, wenn sie sich mit dem Körper verbindet, und ehe sie noch eine Wahrnehmung gehabt hat. Die Träume des Schlafenden sind, meines Erachtens, nur aus Vorstellungen des wachenden Menschen gebildet, obgleich verkehrt genug verbunden. Es wäre sonderbar, wenn die Seele eigene Vorstellungen hätte, die sie nicht aus der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung abgeleitet hätte (wie es in solchem Falle sein müsste), und wenn sie dennoch von ihrem eigenen Denken (so ihr eigen, dass der Mensch. selbst nichts davon merkt) im Augenblick des Erwachens nichts zurückbehalten könnte, um den Menschen mit neuen Entdeckungen zu erfreuen. Wie erklärte es sich[111] wohl, dass die Seele in ihrer Zurückgezogenheit auf sich selbst während des Schlafes viele Ständen denkt und doch niemals auf einen jener Gedanken trifft, der nicht der Wahrnehmung entlehnt ist, und dass sie nur solche sich bewahrt, die von dem Körper veranlasst sind und deshalb einem Geiste weniger angemessen sein können? Es wäre sonderbar, dass die Seele während des ganzen menschlichen Lebens niemals einen solchen rein angeborenen Gedanken und solche Vorstellungen zurückrufen könnte, die sie hatte, ehe sie Etwas von dem Körper borgte, und dass sie in das Wissen des wachenden Menschen nur Vorstellungen bringt, welche einen Beigeschmack vom Fasse haben und der Verbindung mit dem Körper offenbar entsprossen sind. Denkt die Seele immer und hatte sie ebenso Vorstellungen vor ihrer Verbindung mit dem Körper, und ehe sie Vorstellungen vom Körper erhielt, so muss man annehmen, dass sie während des Schlafens sich dieser angeborenen Vorstellungen erinnert. Während dieser Zeit, wo sie sich aus der Verbindung mit dem Körper zurückgezogen hat und sie bei sich selbst denkt, müssten die Gedanken, mit denen sie sich beschäftiget, wenigstens manchmal jene natürlichen und ihr entsprechenderen sein, die sie aus sich selbst nimmt und die nicht vom Körper und dessen Wirksamkeit abgeleitet sind. Allein da der wachende Mensch sich niemals solcher Gedanken erinnert, so müsste man danach auch annehmen, dass die Seele sich der Vorstellungen erinnert, ohne dass der Mensch es thut, oder dass das Gedächtniss sich nur auf solche Vorstellungen erstreckt, die von dem Körper oder von der Wirksamkeit der Seele auf den Körper abhängen.

§ 18. (Woher weiss man, dass die Seele immer denkt? Wenn es kein selbstverständlicher Grundsatz ist, so bedarf er eines Beweises.) Ich möchte auch gern wissen, wie man, wenn man so zuversichtlich behauptet, die Seele, oder was dasselbe ist, der Mensch denke immer, zu dieser Kenntniss gelangt ist? ja, wie die Vertheidiger dieser Ansicht wissen, dass sie selbst denken, wenn sie dasselbe nicht bemerken. Ich fürchte, dafür fehlt der Beweis; ein Wissen, ohne dass man es bemerkt, scheint mir eine verworrene Vorstellung, die nur einer Hypothese zur Liebe angenommen ist, und die nicht zu[112] den klaren Wahrheiten gehört, welche entweder selbstverständlich sind oder der allgemeinen Erfahrung wegen nicht abgeleugnet werden können. Das Aeusserste, was man sagen kann, ist, es sei möglich, dass die Seele immer denke, ohne die Gedanken immer im Gedächtniss zu behalten; ich sage dagegen, es ist ebenso möglich, dass die Seele nicht immer denkt, und viel wahrscheinlicher, dass sie manchmal nicht denkt, als dass sie oft und lange hintereinander denken sollte, ohne sich dessen selbst den Augenblick, nachdem sie gedacht, bewusst zu sein.

§ 19. (Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Mensch mit Denken beschäftigt wäre und doch den nächsten Augenblick es nicht mehr wüsste.) Lässt man die Seele denken, und den Menschen es nicht wissen, so macht man, wie gesagt, aus einem Menschen zwei Personen, und wenn man die Art, wie man sich dabei ausdruckt, genau betrachtet, so sollte man meinen, es sei wirklich so gemeint. Denn Alle, die sagen, dass die Seele immer denke, sagen, soviel ich mich entsinne, niemals, dass der Mensch immer denke. Kann nun die Seele denken, und der Mensch nicht? oder ein Mensch denken und sich dessen nicht bewusstsein? Man würde dies bei Andern für leeres Gerede halten. Zu sagen: Der Mensch denkt immer, aber ist sich dessen nicht immer bewusst, heisst ebenso viel, als sein Körper ist ausgedehnt, hat aber keine Theile; denn es ist ebenso unverständlich, zu sagen, ein ausgedehnter Körper hat keine Theile, als ein Wesen denkt, ohne es zu wissen, und ohne zu bemerken, dass es denkt. Man kann dann ebenso gut zur Aufrechthaltung solcher Hypothesen sagen, dass ein Mensch immer hungert, aber dies nicht immer empfindet, obgleich der Hunger gerade so in diesem Gefühle besteht, wie das Denken in dem Bewusstsein, dass man denkt. Sagt man, ein Mensch sei sich seines Denkens immer bewusst, so frage ich, woher man dies weiss? Bewusstsein ist die Wahrnehmung dessen, was in der eignen Seele vorgeht. Kann nun ein Anderer behaupten, dass ich von Etwas das Bewusstsein habe, wenn ich selbst es nicht bemerke. Niemandes Wissen kann hier über seine Erfahrung hinausgehen. Man wecke einen Menschen aus seinem tiefen Schlafe und frage ihn, was er eben jetzt gedacht habe. Sollte dieser selbst von nichts, was er gedacht hatte,[113] wissen, so muss der Andere in merkwürdiger Weise Gedanken errathen können, wenn er ihm versichern kann, dass er dennoch gedacht habe; vielleicht könnte er ihn noch eher versichern, dass er nicht geschlafen habe. Dergleichen geht über Philosophie, und nur die Offenbarung kann einen Andern die Gedanken in meiner Seele erkennen lassen, wo ich selbst keine bemerke. Man muss ein durchdringendes Gesicht haben, wenn man sicher sehen kann, dass ich denke, während ich selbst es nicht bemerken kann, und erkläre, dass ich nicht denke. Dabei kann man auch wieder sehen, dass Hunde und Elephanten nicht denken, wenn sie alle möglichen Kennzeichen desselben zeigen, und nur nicht sagen können, dass sie denken. Dergleichen dürfte selbst die Rosenkreuzer überbieten, da man noch leichter sich selbst für Andere unsichtbar, als Anderer Gedanken sich selbst sichtbar machen kann, die ihnen selbst nicht sichtbar sind. Indess braucht man nur die Seele als ein Wesen, was immer denkt, zu definiren und die Sache ist abgemacht. Soll diese Definition gelten, so weiss ich nicht, wie manche Menschen sich vor dem Zweifel schützen wollen, dass sie überhaupt keine Seele haben, da sie sehen, dass sie einen guten Theil ihres Lebens ohne Denken verbringen. Keine mir bekannte Definition, keine Annahme irgend einer Sekte vermag eine beständige Erfahrung zu widerlegen; nur die Sucht, mehr zu wissen, als man wahrnimmt, veranlasst so viel nutzlosen Streit und so viel Lärm in der Welt.

§ 20. (Nur aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung kommen alle Vorstellungen, wie sich bei Kindern klar zeigt.) Ich kann daher nicht annehmen, das die Seele denkt, ehe die Sinne sie mit Vorstellungen versehen haben, über welche sie denken kann; je mehr diese zunehmen und sich ausdehnen, desto mehr gelangt die Seele durch Uebung zur Steigerung ihres Denkvermögens, theils in dessen einzelnen Richtungen, theils in Verbindung derselben und im Nachdenken über die eignen Thätigkeiten. Die Seele vermehrt so sowohl ihren Vorrath, wie die Leichtigkeit im Erinnern, bildlichem Vorstellen, Begründen und andere Arten des Denkens.[114]

§ 21. Wer sich durch Erfahrung und Beobachtung unterrichten lässt und seine eignen Hypothesen nicht zu Naturgesetzen erhebt, wird bei einem neugebornen Kinde wenig finden, was auf eine, an vieles Denken gewöhnte Seele deutete, und noch weniger, was von Nachdenken zeugte. Demnach ist es schwer glaublich, dass die vernünftige Seele so viel denken und doch so wenig vernünftig denken sollte. Wenn man sieht, wie neugeborne Kinder den grössten Theil der Zeit verschlafen, und nur wachen, wenn der Hunger nach der Brust verlangt oder ein Schmerz (die lästigste aller Empfindungen), oder sonst ein heftiger Eindruck auf den Körper die Seele zum Wahrnehmen und Aufmerken nöthigt, so wird man vielleicht die Annahme begründet finden, dass die Frucht im Mutterleibe nicht viel von dem Zustand einer Pflanze abweicht, und dass sie den grössten Theil ihrer Zeit ohne Wahrnehmung und Gedanken verbringt und wenig an einem Orte thut, wo sie nicht nach Nahrung zu suchen braucht und von einer immer gleich zarten und gleich temperirten Flüssigkeit umgäben ist; wo den Augen das Licht fehlt, die verschlossenen Ohren für Töne wenig empfänglich sind, und wo wenig oder gar kein Wechsel in den Gegenständen stattfindet, der die Sinne anregen könnte.

§ 22. Folgt man einem Kinde von seiner Geburt ab, und beobachtet man die Veränderungen, die die Zeit hervorbringt, so findet man, dass, je mehr die Seele durch die Sinne mit Vorstellungen versorgt wird, es mehr und mehr erwacht, und das es mehr denkt, je mehr es Stoff dafür hat. Nach einiger Zeit lernt es die Gegenstände kennen, die, weil es mit ihnen am vertrautesten ist, die dauerndsten Eindrücke auf es gemacht haben. So lernt es allmählig die Personen kennen, mit denen es täglich verkehrt, und unterscheidet sie von Fremden; dies sind die Beispiele und die Folgen davon, dass es die von den Sinnen ihm zugeführten Vorstellungen festhalten und unterscheiden lernt. So kann man beobachten, wie die Seele allmählig darin fortschreitet und geübter wird, diese Vorstellungen zu erwecken, zu verbinden, zu trennen, die Gründe aufzusuchen und über Alles dies nachzudenken, wie ich später weiter ausführen werde.[115]

§ 23. Fragt man also, wann ein Mensch mit seinem Vorstellen beginne, so wird die richtige Antwort sein, dann, wenn er die ersten Wahrnehmungen macht. Da keine Vorstellungen sich in der Seele zeigen, ehe die Sinne solche eingeführt haben, so verstehe ich, wie die Vorstellungen des Verstandes gleichzeitig sind mit der Sinneswahrnehmung, d.h. mit einem solchen Eindruck oder Bewegung an einem Theile des Körpers, welche eine Vorstellung in dem Verstande herbeiführt. Mit diesen Eindrücken, die unsere Sinne von äusseren Gegenständen erleiden, scheint die Seele sich zu beschäftigen und die Thätigkeiten zu üben, die man Vorstellen, Erinnern, Betrachten, Begründen u.s.w. nennt.

§ 24. (Der Ursprung all unsers Wissens.) Mit der Zeit beginnt die Seele, auf ihr eignes Thun in Betreff der durch die Sinne gewonnenen Vorstellungen zu achten; dadurch sammelt sie eine neue Art von Vorstellungen, die ich die Vorstellungen aus der Selbstwahrnehmung nenne. Somit sind es die Eindrücke auf unsere Sinne durch äussere Gegenstände, welche der Seele äusserlich sind, und die eignen Thätigkeiten, die von innern, der Seele selbst angehörigen Kräften ausgehen, und die, wenn an sich selbst betrachtet, ebenfalls zu Gegenständen der Betrachtung werden, die, wie gesagt, der Ursprung all unsres Wissens sind. Das erste Vermögen des menschlichen Verstandes ist daher die Empfänglichkeit der Seele für Eindrücke, die ihr entweder durch die Sinne von äussern Gegenständen oder durch ihre eigne Thätigkeit, wenn sie darauf sich richtet, zugehen. Dies sind für den Menschen die ersten Schritte zur Erkenntniss der Dinge und die Grundlage für alle Begriffe, die wir auf natürlichem Wege in dieser Welt erlangen können. Alle jene erhabenen Gedanken, die über die Wolken aufsteigen und den Himmel selbst erreichen, haben hier ihren Ursprung und ihren Boden; in all den weiten Räumen, in denen die Seele wandert, in den hochstrebenden Gedankenbauten, zu denen sie sich aufschwingt, bringt sie nicht das kleinste Stück über jene Vorstellungen hinzu, die ihr die Sinne oder die innere Wahrnehmung für ihr Denken geboten haben.

§ 25. (Bei der Aufnahme einfacher Vorstellungen ist die Seele meistens nur leidend.) In[116] diesem Theile verhält sich der Verstand rein leidend, und es hängt nicht von seinen Kräften ab, ob er diesen Stoff seines Wissens erlangt oder nicht. Die Sinnesgegenstände drängen meist, ohne dass die Seele will oder nicht, ihre besonderen Vorstellungen ihr auf, und ebenso werden die Thätigkeiten der Seele uns nicht ganz ohne einige dunkle Vorstellungen von ihnen lassen. Niemand kann sich seiner Thätigkeit, wenn er denkt, ganz unbewusst bleiben. Wenn diese einfachen Vorstellungen sich der Seele angeboten haben, so kann der Verstand sie nicht mehr von sich ablehnen, sie nicht ändern, wenn sie sich eingeprägt haben, und sie weder vertilgen noch selbst neue machen; so wenig wie ein Spiegel die Bilder oder Vorstellungen verweigern, verändern oder auslöschen kann, welche die vor ihm gesetzten Gegenstände an ihm hervorbringen. Je nachdem die uns umgebenden Gegenstände unsere Organe erregen, muss die Seele diese Eindrücke aufnehmen und kann die Auffassung der damit verknüpften Vorstellungen nicht von sich abhalten.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 100-117.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
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Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

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