Elftes Kapitel.
Von dem Unterscheiden und andern Thätigkeiten des Verstandes

[158] § 1. (Es giebt kein Wissen ohne Unterscheidungsvermögen.) Als ein weiteres Vermögen der Seele zeigt sich das, vermöge dessen sie zwischen ihren verschiedenen Vorstellungen unterscheidet. Die verworrene Vorstellung von Etwas im Allgemeinen genügt[158] nicht; hätte die Seele nicht eine bestimmte Auffassung von den einzelnen Gegenständen und deren Eigenschaften, so wäre sie nur weniger Kenntnisse fähig, wenn auch die uns umgebenden Körper ebenso, wie jetzt, uns erregten, und die Seele fortwährend mit Denken beschäftigt wäre. Auf diesem Unterscheidungsvermögen beruht die Beweiskraft und Gewissheit mehrerer, selbst sehr allgemeinen Sätze, die für angeborne Wahrheiten gegolten haben, indem man die wahre Ursache dieser allgemeinen Zustimmung zu denselben übersah und sie in natürlichen Eindrücken suchte, obgleich doch nur dieses Unterscheidungsvermögen es der Seele ermöglicht, zwei Vorstellungen als dieselben oder verschieden aufzufassen. Doch mehr hiervon später.

§ 2. (Der Unterschied zwischen Witz und Scharfsinn.) Ich will hier nicht untersuchen, wie weit der Mangel dieses Unterscheidungsvermögens in der Stumpfheit oder Fehlerhaftigkeit der Sinnesorgane, oder in dem Mangel an Schärfe, Aufmerksamkeit und Hebung des Verstandes oder in dem heftigen und flatterhaften Naturell einzelner Temperamente liegen mag; es genügt, dass dieses Unterscheiden zu den Thätigkeiten gehört, welche die Seele in sich wahrnehmen und beobachten kann. Seine Wichtigkeit für alles andere Wissen erhellt daraus, dass, soweit Jenes Vermögen bei der Unterscheidung der einzelnen Dinge schwach oder frisch gebraucht wird, auch unsere Begriffe verworren sind, und unser Urtheil gestört oder irre geleitet wird. Darauf, dass man die Vorstellungen des Gedächtnisses schnell bei der Hand hat, beruht die schnelle Bewegung der Gedanken; darauf, dass man sie unverworren hat und ein Ding scharf von dem andern zu unterscheiden vermag, wenn der Unterschied auch noch so klein ist, beruht zum grossen Theile die Genauigkeit des Urtheils und die Klarheit des Denkens, durch die der Eine sich vor dem Andern auszeichnet. Daraus erklärt sich vielleicht, weshalb Menschen mit viel Witz und schnellem Gedächtniss nicht immer das klarste Urtheil und den eingehendsten Scharfsinn besitzen. Witz beruht mehr auf der Zusammenstellung von Vorstellungen und deren schneller und mannichfacher Verbindung; soweit dabei Aehnlichkeit und Uebereinstimmung gefunden wird, werden daraus[159] gefällige und angenehme Bilder in der Phantasie geformt. Dagegen liegt das Urtheilen auf der entgegengesetzten Seite; es trennt sorgfältig die eine Vorstellung von der anderen, so weit sie sich unterscheiden; es lässt sich dabei durch Aehnlichkeiten und Verwandtschaft nicht irreführen, und eine Sache nicht für die andere nehmen. Diese Thätigkeit ist den Anspielungen und bildlichen Ausdrücken ganz entgegengesetzt, auf denen zum grössten Theil das Unterhaltende und Gefällige des Witzes beruht, womit er die Einbildungskraft anregt und aller Welt willkommen ist. Seine Schönheit tritt sofort hervor, und die Vernunft braucht dabei nicht mühsam zu untersuchen, wie weit er wahr und begründet ist. Die Seele sieht dabei nicht weiter, sondern ruht zufrieden aus bei der Annehmlichkeit des Bildes und der Heiterkeit der Phantasie; es wäre verletzend, den Witz nach den verschiedenen Regeln der Wahrheit und Vernunft prüfen zu wollen, und daraus erhellt, dass er aus Etwas besteht, was sich damit nicht ganz verträgt.

§ 3. (Nur die Klarheit verhindert die Verwirrung.) Für die gute Unterscheidung der Vorstellungen hilft vorzüglich deren Klarheit und Bestimmtheit; haben sie diese Eigenschaften, so wird es kein Missverständniss oder Verwirrung geben, wenn auch die Sinne (wie mitunter geschieht) sie von demselben Gegenstand bei verschiedenen Gelegenheiten verschieden der Seele zuführen sollten und so zu irren scheinen. Wenn auch ein Mensch im Fieber von dem Zucker einen bittern Geschmack statt des süssen zu andern Zeiten haben sollte, so wird doch die Vorstellung des Bittern in seiner Seele ebenso klar und von der des Süssen verschieden sein, als wenn er nur Galle geschmeckt hätte. Es entsteht für die beiden Vorstellungen von Süss und Bitter dadurch, dass derselbe Gegenstand einmal bitter, das andere Mal süss schmeckt, keine grössere Verwirrung, als wenn die zwei Vorstellungen des Weiss und Süss oder des Weiss und Rund durch dasselbe Stück zu gleicher Zeit hervorgebracht werden. Die Vorstellungen von Orange und Blau, welche derselbe Aufguss von dem Holz gegen Steinschmerzen hervorbringt, sind nicht weniger bestimmt als die derselben Farben, welche andern Gegenständen entnommen sind.[160]

§ 4. (Vergleichen.) Die Vergleichung der Vorstellungen in Bezug auf Ausdehnung, Grad, Zeit, Ort und andere Umstände ist eine andere Thätigkeit der Seele; von ihr hängt der grosse Stamm von Vorstellungen ab, die man unter Beziehungen befasst; deren grosse Ausdehnung ich später darzulegen Gelegenheit haben werde.

§ 5. (Die Thiere vergleichen nur mangelhaft.) Es ist nicht leicht zu bestimmen, wie weit die Thiere an diesem Vermögen Theil haben; nach meiner Ansicht besitzen sie es nur in einem schwachen Grade; wenn sie auch einzelne genügend bestimmte Vorstellungen haben, so ist es doch wohl ein besonderer Vorzug des menschlichen Verstandes, die verschiedenen Vorstellungen, die er hat, als verschiedene aufzufassen und demzufolge zu übersehen und zu bedenken, in welchen Beziehungen sie mit einander verglichen werden können, während die Thiere wohl ihre Vorstellungen nicht weiter mit einander vergleichen, als die sinnlichen, den Gegenständen anhaftenden Eigenschaften gehen. Dagegen haben jedenfalls die Thiere die weitere, dem Menschen einwohnende Kraft nicht, welche sich auf Vergleichung der Begriffe bezieht und zur Begründung allgemeiner Sätze benutzt wird.

§ 6. (Das Verbinden.) Eine weitere Thätigkeit der Seele in Bezug auf ihre Vorstellungen ist das Verbinden; dabei stellt sie die mehreren einfachen, durch Sinnes- und Selbstwahrnehmung gewonnenen Vorstellungen zusammen und verbindet sie zu einer zusammengesetzten. Unter dieses Verbinden fällt auch das Ausdehnen der Vorstellungen; die Verbindung erscheint hier zwar nicht so auffällig als in den zusammengesetzten Vorstellungen, allein trotzdem ist es doch nur ein Zusammenstellen von mehreren Vorstellungen, wenn auch von derselben Art. So bildet man durch Hinzufügung mehrerer Einheiten zu einander die Vorstellung eines Dutzend und durch die Aneinanderfügung mehrerer Ruthen die einer Meile.

§ 7. (Die Thiere verbinden nur wenig.) Auch hier dürften die Thiere tief unter den Menschen stehen. Sie nehmen allerdings auf und behalten auch manche Verbindungen, einfacher Vorstellungen; so bildet vielleicht die Gestalt, der Geruch und die Stimme des Herrn die zusammengesetzte Vorstellung, die sein Hund von ihm[161] hat, oder es sind vielmehr so viel einzelne Merkmale, an denen er ihn erkennt; allein von selbst mögen, sie wohl nie Vorstellungen zu zusammengesetzten verbinden. Selbst da, wo man vielleicht zusammengesetzte Vorstellungen bei ihnen annimmt, ist es doch nur eine einfache, die sie bei der Erkenntniss der Gegenstände leitet, da sie dazu wahrscheinlich das Gesicht weniger benutzen, als man glaubt. So hat man mir versichert, dass eine Hündin junge Füchse ernährt, mit ihnen spielt und sie liebt, genau wie ihre eigenen Jungen, sobald man es dahin gebracht hat, dass diese Füchse so lange an ihr gesaugt haben, bis sie die Milch verdaut haben. Ebenso scheinen die Thiere, welche viel Junge auf einmal werfen, deren Zahl nicht zu kennen, da sie zwar sehr besorgt sind, wenn eines davon ihnen weggenommen wird, so lange sie es sehen oder hören; nimmt man aber eins oder zwei heimlich in Abwesenheit der Eltern oder unvermerkt hinweg, so scheinen sie sie nicht zu vermissen und nicht zu bemerken, dass die Zahl derselben vermindert ist.

§ 8. (Das Benennen.) Wenn die Kinder durch wiederholtes Wahrnehmen feste Vorstellungen gewonnen haben, so lernen sie allmählich Zeichen dafür gebrauchen, und wenn sie erst mit ihren Sprachwerkzeugen artikulirte Laute bilden können, so benutzen sie die Worte zur Bezeichnung ihrer Vorstellungen. Diese Wortzeichen entlehnen sie bald von Andern, bald machen sie sie selbst, wie man an den neuen und ungewöhnlichen Namen sehen kann, welche Kinder im Anfange ihres Sprechens den Sachen geben.

§ 9. (Das Abtrennen.) Wenn so die Worte als äussere Zeichen für die innern Vorstellungen dienen und diese Vorstellungen den einzelnen Dingen entlehnt werden, so würden die Worte zahllos werden, wenn jede Einzel-Vorstellung, die wir aufnehmen, ein besonderes Wort erhalten sollte. Um dies zu verhindern, macht die Seele aus diesen besondern Vorstellungen allgemeine und zwar dadurch, dass sie sie als Erscheinungen in der Seele auffasst, getrennt von allen andern bestehenden Dingen und von den Nebenumständen der wirklichen Dinge, wie Zeit, Ort oder andern begleitenden Vorstellungen. Man nennt dies das Abtrennen; die der einzelnen[162] Sache entlehnte Vorstellung wird dadurch zur allgemeinen Vertreterin aller Dinge derselben Art, und ihr Name wird zu einem allgemeinen Worte, das auf alles Bestehende angewendet werden kann, was solcher abgetrennten Vorstellung entspricht. Solche absichtlich entkleidete Erscheinungen in der Seele, wobei man nicht mehr fragt, wie, wann und mit welchen andern sie in die Seele gekommen sind, häuft der Verstand auf (mit Worten, die mit ihnen gemeinhin verknüpft sind) als die Zeichen, nach denen die wirklichen Dinge in Arten geordnet und danach benannt werden, je nachdem sie mit diesen Mustern stimmen. Wenn die Seele somit heute dieselbe Farbe im Kalk oder Schnee antrifft, die sie gestern von der Milch gehabt hat, so fasst sie diese Erscheinung allein auf und macht sie zu einem Vertreter für alle gleicher Art; und wenn sie ihr den Namen Weiss gegeben hat, so bezeichnet dieser Laut dieselbe Eigenschaft, wo sie auch vorgestellt oder angetroffen werden mag. Auf diese Weise werden die allgemeinen Vorstellungen und Worte gebildet.

§ 10. (Die Thiere haben dies Vermögen nicht.) Man kann schwanken, ob die Thiere auf diese oder jene Weise ihre Vorstellungen verbinden und erweitern, aber sicher fehlt ihnen das Vermögen des Abtrennens gänzlich. Der Besitz allgemeiner Vorstellungen unterscheidet den Menschen vom Thiere vollständig und ist ein Vorzug, welchen die Thiere nie erreichen. Bei ihnen ist offenbar keine Spur vorhanden, dass sie allgemeine Zeichen für allgemeine Vorstellungen benutzten, und daraus kann man abnehmen, dass ihnen das Vermögen des Abtrennens oder der Bildung allgemeiner Vorstellungen abgeht; sonst müssten sie sich der Worte oder anderer allgemeiner Zeichen bedienen.

§ 11. Auch liegt der Grund davon nicht etwa darin, dass sie nicht die passenden Organe für artikulirte Töne hätten; Manche können ja solche Töne zu Stande bringen und deutlich genug Worte aussprechen; aber sie machen niemals einen solchen Gebrauch davon. Umgekehrt drücken Menschen, die wegen eines Fehlers ihrer Organe nicht sprechen können, ihre allgemeinen Vorstellungen durch reichen statt allgemeiner Worte aus, ein Vermögen, was den Thieren, wie man sieht, abgeht. Hierin mag also der[163] Unterschied der Thiere von dem Menschen enthalten sein; durch diesen eigenthümlichen Gegensatz sind sie völlig getrennt; er dehnt sich zuletzt zu einer weiten Kluft aus, obgleich man, wenn die Thiere Vorstellungen haben und keine blossen Maschinen sind (wie Manche behaupten), denselben eine Art von Verstand nicht ansprechen kann. Manche von ihnen denken nach meiner Meinung in gewissen Fällen so gut, wie sie Sinne haben; aber Jenes nur innerhalb der Vorstellungen, die sie von ihren Sinnen empfangen haben. Selbst die höchsten Klassen derselben sind in diese engen Schranken eingeschlossen und können sie durch ein Vermögen des Abtrennens nicht erweitern.

§ 12. (Blödsinnige und Wahnsinnige.) Ob den Blödsinnigen einzelne oder alle diese Vermögen ganz oder bis zu einem Grade abgehen, würde durch genaue Beobachtung ihrer Schwächen sich feststellen lassen; denn wer die in seiner Seele eintretenden Vorstellungen nur stumpf auffassen oder schlecht behalten kann, wer sie nicht leicht erwecken oder verbinden kann, hat wenig Stoff für sein Denken. Wer nicht unterscheiden, vergleichen und abtrennen kann, wird schwerlich die Worte verstehen und sich ihrer bedienen lernen oder nur leidlich urtheilen und überlegen; nur über gegenwärtige und durch die Sinne ihm gut bekannte Gegenstände wird er es einigermassen vermögen. Fehlt daher eines jener Vermögen oder ist es gestört, so hat dies für den Verstand und das Wissen die entsprechenden Folgen.

§ 13. Bei Blödsinnigen liegt also der Fehler in der geringen Beweglichkeit, Thätigkeit und Schnelligkeit ihrer geistigen Vermögen; deshalb fehlt ihnen der Verstand; dagegen leiden die Wahnsinnigen an dem entgegengesetzten Uebermaass; sie haben nicht die Fähigkeit zu denken eingebüsst, aber sie haben einzelne Vorstellungen falsch verbunden und halten sie für Wahrheiten; sie irren, wie Leute, die aus falschen Gesetzen richtig folgern. Die Uebermacht ihrer Einbildungen lässt sie ihre innern Gebilde für Wirklichkeiten nehmen und daraus richtige Folgerungen ziehen. So verlangt ein Wahnsinniger, der sich für einen König hält, die dem entsprechende Achtung, Aufmerksamkeit und Folgsamkeit, und Andere, die glauben, sie seien von Glas, brauchen die nöthige Vorsicht, welche solche zerbrechliche Körperverlangen.[164]

Deshalb kann ein mässiger und sonst verständiger Mann in einem einzelnen Punkte so verrückt sein, wie irgend einer im Irrenhause, sobald durch plötzliche heftige Eindrücke oder lange ausschliessliche Beschäftigung mit einem Gedanken ungehörige Vorstellungen sich so fest bei ihm verbunden haben, dass sie sich nicht mehr trennen lassen. In dem Wahnsinn und der Verrücktheit giebt es indess Grade; die Verbindung verkehrter Vorstellungen ist bei dem Einen grösser, als bei dem Andern. Der Unterschied zwischen Blödsinnigen und Wahnsinnigen liegt also darin, dass die Wahnsinnigen die Vorstellungen falsch verbinden, damit falsche Sätze bilden, aber nach diesen richtig schliessen und verfahren, während Blödsinnige keine oder wenig Sätze bilden und wohl gar nicht vernünftig denken.

§ 14. (Mein Verfahren.) Dies werden die nächsten Vermögen und Thätigkeiten sein, welche die Seele beim Verstehen gebraucht; sie übt sie zwar bei allen ihren Vorstellungen überhaupt aus; indess habe ich bisher sie nur in Beziehung auf einfache Vorstellungen dargelegt und die Erklärung dieser Vermögen der der einfachen Vorstellungen nachfolgen lassen, ehe ich zu den zusammengesetzten Vorstellungen übergehe, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens werden manche dieser Vermögen zunächst und hauptsächlich an einfachen Vorstellungen geübt, und man wird deshalb, wenn man so der Natur in ihrem Verfahren folgt, sie in ihrem Entstehen, Fortschreiten und allmählichen Vervollkommnen aufspüren und verfolgen können. Zweitens kann man, wenn man diese Vermögen in ihrer Wirksamkeit bei einfachen Vorstellungen beobachtet hat, die bei den meisten Menschen klarer und bestimmter als die zusammengesetzten Vorstellungen zu sein pflegen, dann desto besser prüfen und erkennen, wie die Seele bei den zusammengesetzten Vorstellungen, wo viel leichter Missverständnisse möglich sind, trennt, benennt, vergleicht und ihre übrigen Vermögen ausübt. Drittens sind es diese Thätigkeiten der Seele in Bezug auf Vorstellungen aus der Sinneswahrnehmung, welche, wenn sie an sich betrachtet werden, eine andere Art von Vorstellungen ergeben, die aus der anderen Quelle unseres Wissen, der Selbstwahrnehmung, sich ableiten. Auch deshalb eignen sie sich zur Betrachtung[165] nach den einfachen Sinnesvorstellungen. Das Verbinden, Vergleichen, Trennen u.s.w. habe ich hier nur erwähnt, da ich an einem andern Orte ausführlicher darüber zu handeln Gelegenheit haben werde.

§ 15. (Dies sind die Anfänge des menschlichen Wissens.) Somit habe ich eine kurze und, ich meine, wahre Darstellung der ersten Anfänge des menschlichen Wissens gegeben und gezeigt, woher die Seele ihre ersten Gegenstände hat, und auf welchen Wegen sie ihre Vorstellungen allmählich sammelt und aufhäuft, aus denen das ganze Wissen sich bildet, dessen sie fähig ist. Ich berufe mich auf die Erfahrung und Beobachtung, ob ich die Wahrheit getroffen; denn der beste Weg zu ihr ist, dass man die Dinge prüft, wie sie wirklich sind, und nicht folgert, sie seien so, wie man sie sich einbildet, oder wie Andere es uns gelehrt haben.

§ 16. (Berufung auf die Erfahrung.) Offen gestanden, erscheint mir dies als der einzige Weg, wie die Vorstellungen der Dinge in den Verstand gelangen; sollten Andere angeborene Vorstellungen oder eingeflösste Grundsätze besitzen, so mögen sie sich deren erfreuen, und wenn sie dessen gewiss sind, so kann ein Anderer ihnen diesen Vorzug nicht abstreiten, den sie vor ihren Mitmenschen voraus haben. Ich kann nur das sagen, was ich in mir finde, und was den Begriffen gemäss ist, welche, wenn man den ganzen Lebenslauf der Menschen nach Verschiedenheit des Alters, des Landes und der Erziehung betrachtet, auf den Grundlagen ruhen dürften, die ich hier gelegt habe und mit dieser Methode in allen ihren Theilen und Abstufungen übereinstimmen.

§ 17. (Ein dunkler Raum.) Ich will nicht belehren, sondern erforschen; ich muss deshalb nochmals bekennen, dass die innere und äussere Wahrnehmung die einzigen Wege sind, die ich für das Wissen der Seele auffinden kann. Sie sind die einzigen Fenster, durch welche Licht in diesen dunklen Raum dringt; denn mir scheint der Verstand einer gegen das Licht ganz verschlossenen Kammer zu gleichen; nur eine kleine Oeffnung ist geblieben, um die äussern sichtbaren Bilder oder Vorstellungen von den Aussendingen einzulassen; blieben die in einen solchen Raum eindringenden Bilder darin, und zwar in einer Ordnung, dass sie sich leicht[166] finden liessen, so würde er in hohem Maasse dem Verstande des Menschen rücksichtlich aller sichtbaren Gegenstände und deren Vorstellungen gleichen.

Dies sind meine Ansichten über die Mittel, wie der Verstand die einfachen Vorstellungen erlangt und fest hält, so wie über die Arten derselben und die sie betreffenden Thätigkeiten. Ich werde nun einige dieser einfachen Vorstellungen mit ihren Besonderungen ein wenig näher betrachten.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 158-167.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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