Sechzehntes Kapitel.
Von der Zahl

[213] § 1. (Die Zahl ist die einfachste und allgemeinste Vorstellung.) Von allen Vorstellungen, die man hat, wird keine der Seele auf mehr Wegen zugeführt und ist mehr einfach, als die der Einheit oder der Eins. Sie hat nicht den Schatten von Mannichfaltigkeit oder Zusammensetzung an sich; jeder Gegenstand, der die Sinne erregt, jede Vorstellung in dem Verstande, jeder Gedanke in der Seele führt diese Vorstellung mit sich. Sie ist deshalb nicht allein die der Seele bekannteste, sondern auch in Bezug auf ihre Zusammenstimmung zu allen andern Dingen die allgemeinste unserer Vorstellungen. Die Zahl gilt für Menschen, Engel, Handlungen, Gedanken und jedes Ding, das sein oder vorgestellt werden kann.

§ 2. (Ihre Besonderung erfolgt durch Vermehrung.) Wenn man diese Vorstellung in der Seele wiederholt und diese Mehreren zusammennimmt, so gelangt man zu den zusammengesetzten Besonderungen derselben. So gewinnt man durch Zunahme von Eins zu Eins die zusammengesetzte Vorstellung des Paares; durch Zusammenstellung von 12 Einheiten erlangt man die zusammengesetzte Vorstellung eines Dutzend und in gleicher Weise auch die von einem Schock, einer Million und jeder andern Zahl.

§ 3. (Jede Besonderung ist in sich bestimmt.) Die einzelnen Besonderungen der Zahl sind von allen andern die bestimmtesten; auch die geringste Veränderung um eine Einheit macht jede zusammengesetzte Zahl ebenso offenbar verschieden von ihrer nächsten wie von ihrer entferntesten; deshalb ist die 2 so verschieden von der 1 wie die 100; und die 2 ist so bestimmt von der 3 unterschieden, wie die ganze grosse Erde von einem Kornwurm. Die Besonderungen anderer einfachen Vorstellungen[213] verhalten sich nicht so; man kann die einander nächsten Vorstellungen trotz ihrer Verschiedenheit nicht so leicht und mitunter gar nicht unterscheiden; so wird man schwerlich den Unterschied zwischen der Weisse dieses Papieres und dem daran grenzenden nächsten Grad erkennen; ebenso wenig kann man sich den kleinsten Ueberschuss in der Ausdehnung klar vorstellen.

§ 4. (Deshalb sind die Beweise durch Zahlen die schärfsten.) Die Klarheit und der Unterschied jeder Zahlbesondernng, selbst von ihrer nächsten, dürfte die Beweise durch Zahlen, wenn auch nicht überzeugender und genauer wie die Beweise bei Ausdehnungen, aber doch allgemeiner anwendbar und bestimmter in ihrem Gebrauche machen. Die Zahlen sind bestimmter und leichter unterscheidbar als die verschiedenen Ausdehnungen, bei denen man die Gleichheit oder den Ueberschuss nicht so leicht bemerkt und in ihrer Grösse erfasst; denn man kann bei dem Räume durch kein Denken zu einem bestimmten Kleinsten kommen, wie die Einheit, über die man nicht hinaus kann; deshalb sind die Grösse und das Verhältniss der kleinsten Unterschiede beim Räume nicht erkennbar, während dies bei den Zahlen offenbar sich anders verhält; da, wie gesagt, hier die 90 von der 91 ebenso leicht unterschieden werden kann wie von der 9000, obgleich die 91 ihr am nächsten steht. Bei der Ausdehnung kann dagegen nicht jedes Mehr über einen Fuss oder einen Zoll von diesen selbst immer unterschieden werden. Von Linien, die gleich lang erscheinen, kann doch die eine um einen nicht angebbaren Theil grösser sein als die andere, und man kann den Winkel nicht angeben, der der nächst grössere über den rechten ist.

§ 5. (Die Zahlen bedürfen der Bezeichnung durch Worte.) Durch Wiederholung der 1 und Verbindung beider bildet man daraus die Sammel-Vorstellung, die man mit 2 bezeichnet. Wer so verfährt und zu der letzten Sammel-Zahl immer wieder eine Einheit hinzufügt und ihr einen Namen giebt, kann zählen oder hat die Vorstellung verschiedener Ansammlungen von Einsen, die von einander verschieden sind; und zwar so weit, als er für jede dieser Zahlen Namen hat und er diese Reihe von Zahlen mit ihren Namen behalten kann.[214] Alles Zählen besteht nur in Hinzufügung einer Eins mehr und in Belegung der neuen zusammengefassten Vorstellung mit einem besondern Namen oder Zeichen, um sie unter den vorgehenden und den nachfolgenden zu erkennen und von jeder grössern oder kleinem Menge von Einsen zu unterscheiden. Wer mithin Eins zu. Eins hinzufügen und so zur 2 und dann weiter in seinem Zählen gehen und für jede so zunehmende Zahl den bestimmten Namen behalten kann, und umgekehrt durch Abziehen der Eins von einer grössern Zahl diese vermindern kann, der ist der Vorstellungen aller Zahlen innerhalb des Umfanges seiner Sprache oder so weit fähig, als er Namen dafür hat, wenn auch vielleicht nicht weiter. Denn die verschiedenen Besonderungen der Zahl bestehen in der Seele nur in so vielen Verbindungen von Einsen, die sonst nichts Mannichfaltiges enthalten und nur durch das Mehr oder Weniger sich unterscheiden; deshalb scheinen bei ihnen mehr wie bei andern Arten von Vorstellungen Namen oder Zeichen für die einzelnen Verbindungen nöthig. Ohne solche Namen oder Zeichen kann man, die Zahlen kaum zum Rechnen gebrauchen, namentlich wenn es sich um eine Zahl von sehr vielen Einheiten handelt; fehlt hier der Name oder das Zeichen, was diese bestimmte Zahl bezeichnet, so kann sie kaum etwas Anderes als ein verworrener Haufen sein.

§ 6. Deshalb können die früher genannten Amerikaner (obgleich sie sonst schnelle und gute Geistesanlagen haben) auf keine Weise, wie wir, bis 1000 zählen; sie haben keine bestimmte Vorstellung von dieser Zahl, obgleich sie bis 20 sehr gut rechnen können. Ihre Sprache ist dürftig und nur den wenigen Bedürfnissen eines kargen und einfachen Lebens angepasst; sie kennen weder Handel noch Mathematik und haben daher für das Tausend kein Wort. Sprach man mit ihnen von solchen grossen Zahlen, so zeigten sie auf die Haare ihres Kopfes, um die grosse Menge zu bezeichnen, die sie nicht bestimmter ausdrücken könnten, und dieses Unvermögen wird nur von dem Mangel an Namen dafür hergekommen sein. Die Tuupinambos hatten kein Wort für die Zahlen aber die 5; jede grössere Zahl deuteten sie durch das Aufzeigen ihrer Finger und der Finger anderer Anwesenden[215] an. Wir selbst würden wohl ein gut Stück weiter in Worten zählen, als jetzt gewöhnlich geschieht, wenn wir passende Worte zu der Bezeichnung der grösseren Zahlen hätten; denn indem wir jetzt diese hohem Zahlen als Millionen von Millionen der Millionen bezeichnen, kann man kaum über 18 oder höchstens 24 Dezimalstellen gehen, wenn man nicht Verwirrung veranlassen will. Wie sehr bestimmte Worte das gute Rechnen und den Besitz brauchbarer Vorstellungen von Zahlen unterstützen, erhellt, wenn man die hier folgenden Zahlengruppen in eine Linie bringt, als Zeichen einer Zahl; z.B.:

Nonillionen

857324

Octillionen

162486

Septillionen

345896

Sextillionen

437918

Quintillionen

423147

Quadrillionen

248106

Trillionen

235421

Billionen

261734

Millionen

368149

Einheiten

623137.

Die gewöhnliche Art, diese Zahl im Englischen auszusprechen, geschieht durch wiederholtes Aussprechen von Millionen von Millionen von Millionen von Millionen von Millionen von Millionen (womit die Zahl der letzten sechs Zahlgruppen ausgesprochen sein würde). Auf diese Weise kann man offenbar nur sehr schwer eine bestimmte Vorstellung von dieser Zahl erhalten. Wenn aber jede dieser sechs Zahlenreihen eine gebräuchliche Benennung hätte, so würde nach meiner Meinung diese Zahl und noch grössere Zahlen leichter sich unterscheiden lassen und leichter aufgefasst werden und Anderen deutlicher mitgetheilt werden können. Ich erwähne dies nur, um zu zeigen, wie nothwendig bei dem Zählen bestimmte Worte für die Zahlen sind, ohne aber deshalb selbst solche Worte einführen zu wollen.

§ 7. (Weshalb Kinder nicht frühzeitiger zählen.) Den Kindern fehlen somit entweder die Worte für die verschiedenen anwachsenden Zahlen, oder sie vermögen noch nicht, zerstreute Vorstellungen in eine zu fassen, sie zu ordnen und so im Gedächtniss zu behalten, wie es zum Rechnen nöthig ist; deshalb fangen sie erst später zu zählen an und Kommen dabei nicht eher mit Sicherheit weiter, als bis sie einen genügenden[216] Vorrath anderer Vorstellungen gesammelt haben. So kann man beobachten, wie Kinder oft ganz gut sprechen, Gründe aufstellen und klare Vorstellungen von Vielerlei haben können, ohne doch bis zwanzig zählen zu können. Manche können selbst ihr ganzes Leben lang, aus Mangel an Gedächtniss für das Behalten der verschiedenen Zahlverbindungen und deren Namen und für die Abhängigkeit langer Zahlenreihen und deren Verhältnisse zu einander, nicht rechnen lernen und über eine mässige Reihe von Zahlen nicht hinauskommen. Denn wer bis 20 zählen und eine Vorstellung von ihr haben will, muss wissen, dass die 19 vorhergeht, und die Namen und Zeichen aller vorhergehenden kennen; ist hier ein Mangel, so tritt eine Kluft ein, die Kette bricht, und das Zählen stockt. Zu dem richtigen Rechnen gehört also, 1) dass man zwei Vorstellungen, die nur durch das Mehr oder Weniger einer Eins unterschieden sind, genau auffassen könne; 2) dass man die Namen und reichen der verschiedenen Zahlverbindungen von der Eins bis zu dieser Zahl im Gedächtniss habe, und zwar nicht durcheinander, sondern genau in der Ordnung, in der die Zahlen sich folgen. Fehlt es an einer dieser beiden Bedingungen, so ist das Zählen gestört, und es kommt dann nur zu der verworrenen Vorstellung einer Menge, ohne dass die zum genauen Zählen erforderlichen Vorstellungen erlangt werden.

§ 8. (Die Zahl misst alles Messbare.) Die Zahl hat die weitere Eigenschaft, dass man von ihr bei allen messbaren Dingen Gebrauch macht; namentlich für Raum und Zeit. Selbst die Unendlichkeit von beiden scheint nur die Unendlichkeit der Zahl zu sein; da die Vorstellungen von Ewigkeit und Unermesslichkeit nur die wiederholten Hinzuzufügen bestimmter Theile der Dauer oder Ausspannung in Verbindung mit der Unendlichkeit der Zahl sind, wobei man mit diesem Hinzufügen zu keinem Ende kommen kann. Die Zahl ist es, wie klar erhellt, welche vor allen andern Vorstellungen uns mit einem so unerschöpflichen Vorrath versieht. Mag Jemand eine noch so grosse Zahl aufsammeln, so vermindert diese Menge, wenn sie auch noch so gross ist, nicht im Mindesten die Macht, sie zu vermehren, und erschöpft nicht im Mindesten den Vorrath an Zahlen, bei[217] dem immer noch so viel zur Hinzufügung übrig bleibt, als wenn gar keine hinweggenommen worden wäre. Diese endlose Vermehrung oder Vermehrbarkeit (wenn man letzteres Wort vorzieht) der Zahlen, die so klar hervortritt, dürfte die klarste und deutlichste Vorstellung von der Unendlichkeit geben, von welcher das folgende Kapitel handeln wird.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 213-218.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Klein Zaches

Klein Zaches

Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.

88 Seiten, 4.20 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon