Achtzehntes Kapitel.
Von andern einfachen Besonderungen

[234] § 1. (Die Besonderungen der Bewegung.) In den frühem Kapiteln habe ich gezeigt, wie die Seele vermittelst der durch Wahrnehmung empfangenen einfachen Vorstellungen dahin kommt, sich bis zur Unendlichkeit auszudehnen. Obgleich diese allen sinnlichen Auffassungen am fernsten zu stehen scheint, ist ihr Inhalt doch nur aus einfachen Vorstellungen gebildet, welche die Seele durch die Sinne empfangen und dann durch ihr Vermögen, die eigenen Vorstellungen zu wiederholen, zusammengesetzt hat. Diese bisher behandelten Besonderungen einfacher sinnlicher Vorstellungen dürften vielleicht zur Darlegung, wie man zu ihnen gelangt, hinreichen; indess will ich in Innehaltung meines Verfahrens noch einige andere, aber nur kurz behandeln und dann zu den zusammengesetztem Vorstellungen übergehen.

§ 2. Das Rutschen, Rollen, Taumeln, Gehen, Kriechen, Laufen, Tanzen, Springen, Hupfen und vieles Andere, was ich nennen könnte, sind Worte, bei deren Hören, wenn man die Sprache versteht, man sofort in seiner Seele bestimmte Vorstellungen hat, welche sämmtlich nur verschiedene Besonderungen der Bewegung sind. Die Besonderungen der Bewegung entsprechen denen der[234] Ausdehnung; Schnell und Langsam sind zwei verschiedene Vorstellungen der Bewegung, deren Maass aus der Verbindung der verschiedenen Zeiten und Ausdehnungen entnommen wird; es sind deshalb Vorstellungen, die aus Zeit, Raum und Bewegung zusammengesetzt sind.

§ 3. (Besonderungen des Tones.) Die gleiche Mannichfaltigkeit zeigt sich bei den Tönen. Jedes artikulirte Wort ist eine Besonderung des Tones; vermittelst des Gehörs wird die Seele durch solche Besonderungen mit einer Mannichfaltigkeit von Vorstellungen ohne Ende versorgt. Auch werden die Töne, abgesehen von den verschiedenen Lauten der Vögel und vierfüssigen Thiere, durch die verschiedene Höhe und Tiefe und deren Verbindung besondert; daraus entstehen die zusammengesetzten Vorstellungen der musikalischen Töne, die ein Musiker, auch ohne einen Ton zu hören oder erklingen zu machen, in seiner Seele hat und durch Richtung seiner Aufmerksamkeit auf diese Töne dann in seiner Phantasie im Stillen verbindet.

§ 4. (Besonderungen der Farbe.) Auch die Besonderung der Farben ist äusserst mannichfach; manche gelten als die verschiedenen Grade oder Schattirungen ein und derselben Farbe. Doch stellt man Farben selten allein zu einem Zweck oder Genuss zusammen, sondern man nimmt die Gestalt hinzu, wie dies bei dem Malen, Weben, Sticken u.s.w. der Fall ist. Deshalb gehören die hie vorkommenden Vorstellungen meist zu den gemischten Besonderungen, die aus verschiedenen Arten sich bilden, wie aus Gestalt und Farbe; z.B. die Schönheit, der Regenbogen u.s.w.

§ 5. (Die Besonderungen des Geschmacks.) Alle gemischten Geschmäcke und Gerüche sind Besonderungen der einfachen Vorstellungen dieser Sinne. Da indess für die meisten die besonderen Worte fehlen, so werden sie weniger beachtet und können schriftlich nicht bezeichnet werden; ich muss sie deshalb auch ohne weitere Aufzählung dem Denken und der Erfahrung meiner Leser anheimgeben.

6. (Manche einfache Besonderungen haben keine Namen.) Im Allgemeinen haben die einfachen Besonderungen, die als die verschiedenen Grade derselben einfachen Vorstellung gelten, trotzdem dass sie sehr[235] unterschieden von einander sind, doch keine besonderen Namen, und man achtet auf sie als besondere Vorstellungen dann nur wenig, wenn der Unterschied derselben gering ist. Ich überlasse dem Leser die Entscheidung, ob man diese Besonderungen deshalb vernachlässigt und ohne Namen gelassen hat, weil man kein Maass zu ihrer genauen Unterscheidung hatte, oder weil, trotz einer solchen Unterscheidung, von ihrer Kenntniss kein allgemeiner und nothwendiger Gebrauch gemacht werden konnte. Für meinen Zweck genügt die Darlegung, dass, alle unsere einfachen Vorstellungen nur durch Sinnes- und Selbstwahrnehmung in die Seele gelangen, und dass wenn die Seele sie gewonnen hat, sie dieselben in mannichfacher Weise wiederholen und verbinden und so neue zusammengesetzte Vorstellungen bilden kann. Wenn indess auch Weiss, Roth oder Süss u.s.w. nicht besondert und nicht zu zusammengesetzten Vorstellungen mannichfach in der Art verbunden worden sind, dass letztere besondere Namen erhalten hätten und zu besonderen Arten geordnet worden wären, so sind doch andere einfache Vorstellungen, wie die oben erwähnten der Einheit, der Dauer, der Bewegung u.s.w., desgleichen die der Kraft und des Denkens, besondert und zu mannichfachen zusammengesetzten Vorstellungen verbunden worden, denen auch besondere Namen gegeben worden sind.

§ 7. (Weshalb manche Besonderung einen Namen erhalten hat und andere nicht.) Der Grund davon mag wohl der sein, dass bei dem grossen Interesse, was der Mensch für seine Nebenmenschen, mit denen er lebt, bat, die Kenntniss des Menschen und seines Handelns und die gegenseitige Mittheilung davon ihm am nothwendigsten ist. Deshalb wurden Worte selbst für die feinem Besonderungen des Handelns gebildet, und man gab diesen zusammengesetzten Vorstellungen Namen, um sich ihrer leichter zu erinnern und um ohne grosse Umwege und Umschreibungen über diese täglich vorkommenden Dinge mit einander sprechen und über das, worüber man fortwährend Mittheilung zu machen oder zu empfangen hatte, sich leichter verständigen zu können. Dass dem so ist, und dass die Menschen bei Bildung der mancherlei zusammengesetzten Vorstellungen und ihrer Namen durch den allgemeinen Zweck der Sprache bestimmt[236] worden sind (der in einem möglichst kurzen und schnellen Mittel für die Mittheilung der Gedanken besteht), erhellt klar aus den Namen in den mancherlei Künsten, welche Namen für die verschiedenen zusammengesetzten Vorstellungen der besondern darin vorkommenden Verrichtungen zur schnellem Bezeichnung derselben behufs ihrer Leitung und Besprechung erfunden worden sind; denn von Menschen, die sich mit dergleichen nicht beschäftigen, werden auch solche Vorstellungen nicht gebildet, und deshalb werden auch die Worte dafür von den meisten Menschen., obgleich sie dieselbe Sprache sprechen, nicht verstanden. So sind z.B. Entkohlen, Anschweissen, Filtriren, doppeltes Filtriren Worte für gewisse zusammengesetzte Vorstellungen, die nur bei den wenigen Personen vorkommen, deren besondere Beschäftigung sie ihnen immer wieder zuführt, und die deshalb nur von den Schmieden und Chemikern verstanden werden; denn nur diese haben die mit diesen Worten bezeichneten Vorstellungen gebildet und ihnen Namen gegeben oder diesen Namen von Andern angenommen. Deshalb bilden sie beim Hören dieser Namen schnell diese Vorstellungen in ihrer Seele; z.B. bei der Refiltration alle die einfachen Vorstellungen von Destilliren, von dem Wiederaufgiessen der destillirten Flüssigkeit auf den gebliebenen Rest und von dem nochmaligen Destilliren. Man sieht also, dass es für vielerlei einfache Vorstellungen im Schmecken und Riechen und für deren noch zahlreichere Besonderungen keine Namen giebt. Sie sind entweder nicht allgemein genug bemerkt worden, oder ihr Nutzen ist nicht so erheblich, um in den Geschäften und dem Verkehr der Menschen beachtet zu werden; deshalb haben sie keinen Namen erhalten und gelten nicht als besondere Arten. Es wird dies später noch ausführlicher zur Betrachtung kommen, wenn ich zur Untersuchung der Sprache gelangen werde.[237]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 234-238.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1