Neunzehntes Kapitel.
Von den Zuständen des Denkens

[238] § 1. (Sinneswahrnehmung, Erinnerung, Betrachtung u.s.w.) Wenn die Seele ihren Blick nach innen kehrt und ihr eigenes Thun betrachtet, so ist das Denken das Erste, was sie trifft. Sie bemerkt eine mannichfaltige Besonderung desselben und erhält dadurch unterschiedene Vorstellungen. So gewährt die Auffassung, welche thatsächlich jeden Eindruck eines äussern Gegenstandes auf den Körper begleitet, damit verbunden ist und sich von allen andern des Denkens unterscheidet, der Seele die besondere Vorstellung der Sinneswahrnehmung, die gleichsam der thatsächliche Eintritt einer Vorstellung durch die Sinne in den Verstand ist. Wenn dieselbe Vorstellung ohne die Wirksamkeit desselben Gegenstandes auf die Sinne wiederkehrt, so ist dies die Erinnerung; wird von der Seele nach ihr gesucht und sie nur mit Mühe und Anstrengung gefunden und wieder gegenwärtig gemacht, so ist dies das Besinnen; wird sie dann lange unter aufmerksamer Betrachtung festgehalten, so ist dies die Ueberlegung. Folgen sich dagegen die Vorstellungen in der Seele, ohne dass der Verstand darauf achtet oder sie betrachtet, so ist es das, was die Franzosen rêverie nennen, und wofür im Englischen der rechte Name fehlt. Wenn die auftretenden Vorstellungen (denn während des Wachens besteht, wie ich anderwärts bemerkt habe, ein fortwährender Zog von einander in der Seele folgenden Vorstellungen) beachtet und in das Gedächtniss gleichsam eingeschrieben werden, so ist dies die Aufmerksamkeit, und wenn die Seele mit vollem Ernst und absichtlich ihren Blick auf eine Vorstellung heftet, sie von allen Seiten betrachtet und sich durch das gewöhnliche Andrängen anderer Vorstellungen nicht irre machen lässt, so ist dies das angestrengte Nachdenken oder Studiren. Der Schlaf ohne Träume ist die Ruhe von alledem, und das Träumen ist ein Vorstellen in der Seele (während die äussern Sinne verschlossen sind, so dass sie äussere Gegenstände nicht mit der gewöhnlichen[238] Schnelligkeit aufnehmen), was nicht durch äussere Gegenstände oder bekannte Veranlassungen unterhalten wird und überhaupt nicht unter der Auswahl und Leitung des Verstandes steht. Ob das, was man Ausser-sich-sein nennt, nicht ein Träumen mit offenen Augen ist, überlasse ich der Prüfung.

§ 2. Dies sind einige Beispiele von den mancherlei Besonderungen des Denkens, welche die Seele in sich beobachtet, und von denen sie daher ebenso bestimmte Vorstellungen erlangt, wie sie sie von dem Roth oder Weiss, von dem Viereck oder dem Kreise hat. Ich habe nicht die Absicht, diese Besonderungen sämmtlich aufzuzählen und ausführlich diese Reihe von Vorstellungen zu behandeln, welche durch Selbstwahrnehmung erlangt werden; sie allein würden ein Buch füllen. Für meinen Zweck genügt der durch diese Beispiele geführte Nachweis, welcher Art diese Vorstellungen sind, und wie die Seele zu ihnen gelangt; zumal ich später Gelegenheit haben werde, ausführlicher über das Beweisen, Urtheilen, Wollen und Wissen zu handeln, die zu den wichtigsten Thätigkeiten der Seele und Besonderungen des Denkens gehören.

§ 3. (Die verschiedene Aufmerksamkeit der Seele beim Denken.) Es wird wohl erlaubt sein, wenn ich hier mir eine kleine Abschweifung gestatte, die dem vorliegenden Gegenstand nicht ganz fremd ist; wenn ich nämlich die verschiedenen Seelenzustände während des Denkens betrachte, auf die jene vorgenannten Fälle von Aufmerksamkeit, Hinbrüten und Träumen von selbst führen. Ein Jeder bemerkt, dass während des Wachens immer irgend welche Vorstellungen in seiner Seele gegenwärtig sind, wenn er auch in verschiedenen Graden von Aufmerksamkeit sich mit ihnen beschäftigt. Manchmal bleibt die Seele mit so viel Ernst bei der Betrachtung eines Gegenstandes, dass sie dessen Vorstellungen nach allen Seiten wendet, ihre Beziehungen und Nebenumstände bemerkt und jeden Theil so genau und so tief auffasst, dass alle anderen Gedanken ausgeschlossen und die sinnlichen Eindrücke nicht beachtet werden, die zu einer andern Zeit sehr merkbare Wahrnehmungen veranlassen. In andern Fällen wird nur auf den Zug der Vorstellungen geachtet, die sich in dem Denken einander[239] folgen, ohne dass eine einzelne verfolgt und herausgehoben wird; und mitunter lässt die Seele die Gedanken ganz unbeachtet vorüberziehen, gleich matten Schatten, die keinen Eindruck machen.

§ 4. (Deshalb mag das Denken nur die Thätigkeit, aber nicht das Wesen der Seele sein.) Diesen unterschied von Anspannung und Abspannung der Seele bei dem Denken wird ein Jeder sammt den mannichfachen Abstufungen von ernstem Studium bis zu einem ziemlichen Nicht-Denken, an sich selbst erfahren haben. Geht man noch ein wenig weiter, so findet man die Seele im Schlafe von den Sinnen gleichsam zurückgezogen und ausser dem Bereich jener Bewegungen, welche die Sinnesorgane erleiden und die zu andern Zeiten sehr lebhafte sinnliche Vorstellungen erwecken. Ich brauche mich hierbei nicht auf Die zu beziehen, welche stürmische Nächte ganz durchschlafen, den Donner nicht hören, die Blitze nicht sehen und die Erschütterung des Hauses nicht fühlen, obgleich alle Wachenden sie sehr stark gewahr werden. Doch behält die Seele bei diesem Zurücktreten von den Sinnen mitunter eine losere und unzusammenhängende Weise des Denkens, die man Träumen nennt; zuletzt schliesst aber der gesunde Schlaf die Sinne ganz und macht allen Erscheinungen ein Ende. Dies wird Jedermann an sich selbst erfahren haben, und so weit führt ihn seine eigene Selbstbeobachtung ohne Schwierigkeit. Wenn indess die Seele zu verschiedenen Zeiten verschiedene Grade des Denkens annehmen kann, und wenn sie selbst im Wachen mitunter in ihren Gedanken so nachlassen kann, dass diese trübe und dunkel bleiben und keiner noch als ein Denken gelten kann, und wenn endlich in den dunklen Zuständen eines gesunden Schlafes die Seele das Wissen aller ihrer Vorstellungen gänzlich verliert, und dies alles klare Thatsachen sind, die Jedermann an sich erfährt, so möchte ich daraus folgern, dass das Denken wohl nur die Thätigkeit, aber nicht das Wesen der Seele ausmachen dürfte. Denn die Wirksamkeit einzelner Kräfte gestattet eine Steigerung und ein Nachlassen, aber das Wesen der Dinge ist solcher Veränderungen unfähig. Indess will ich dies nur nebenbei bemerkt haben.[240]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 238-241.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1