Zweites Kapitel.
Von den einfachen Vorstellungen

[117] § 1. (Unverbundene Wahrnehmungen.) Um die Natur, Weise und Ausdehnung unserer Kenntnisse besser zu verstehen, ist ein Umstand bei unseren Vorstellungen sorgfältig zu beachten; nämlich dass manche einfach, andere zusammengesetzt sind. Obgleich die unsere Sinne erregenden Eigenschaften so in den Dingen vereint und gemischt sind, dass keine Trennung und kein Abstand zwischen ihnen besteht, so treten doch offenbar die von ihnen in dem Verstand hervorgebrachten Vorstellungen durch die Sinne einfach und unvermischt ein. Allerdings nimmt das Gesicht und das Gefühl oft von demselben Gegenstände gleichzeitig verschiedene Vorstellungen auf, und ein Mensch sieht zugleich die Bewegung und die Farbe; die Hand fühlt an demselben Stück Wachs die Weichheit und die Wärme, allein die einfachen Vorstellungen,[117] die so in demselben Gegenstand verbunden sind, sind ebenso vollständig getrennt wie die) welche durch verschiedene Sinne eintreten. So sind die Kälte und Härte, die man an einem Eisstück fühlt, in der Seele so verschiedene Vorstellungen, als der Geruch und die Weisse einer Lilie, oder der Geschmack des Zuckers und der Geruch der Rose. Auch giebt es nichts für den Menschen als die klare und deutliche Auffassung dieser einfachen Vorstellungen; denn jede ist an sich unverbunden und enthält daher in sich nur eine einfache Bestimmung oder Auffassung der Seele, welche sich nicht in verschiedene Vorstellungen auflösen lässt.

§ 2. (Die Seele kann sie weder erzeugen noch zerstören.) Diese einfachen Vorstellungen, welche den Stoff unseres ganzen Wissens bilden, erhält die Seele nur auf den oben erwähnten zwei Wegen zugeführt, d.h. durch die Sinne und die Selbstwahrnehmung. Wenn der Verstand mit diesen einfachen Vorstellungen angefüllt ist, so kann er sie in beinah endloser Mannichfaltigkeit wiederholen, vergleichen, verbinden, und so nach Belieben neue zusammengesetzte Vorstellungen bilden. Aber weder der höchste Scharfsinn noch die ausgedehnteste Kenntniss vermag durch Schnelligkeit oder Mannichfaltigkeit des Denkens eine neue einfache Vorstellung in der Seele zu erfinden oder zu bilden, die nicht auf dem erwähnten Wege aufgenommen wäre; ebensowenig kann selbst der stärkste Verstand die darin befindlichen vernichten. Die Herrschaft des Menschen in dieser kleinen Welt seines Verstandes ist ohngefähr dieselbe, als die in der grossen Welt der sichtbaren Dinge; auch hier reicht seine Macht, trotz aller Kunst und Geschicklichkeit, nicht weiter, als die Stoffe, welche er zur Hand hat, zu verbinden oder zu trennen, und er kann nicht das kleinste Stück neuen Stoffes hervorbringen oder ein vorhandenes Atom vernichten. Das gleiche Unvermögen findet man in sich selbst, wenn man in seinem Verstande eine neue einfache Vorstellung bilden will, die nicht durch die Sinne von aussen oder durch Achtung auf die Thätigkeiten der eigenen Seele erlangt ist. Es soll doch Jemand einen Geschmack sich ausdenken, den sein Gaumen noch nicht gekostet hat; er soll einen Geruch sich bilden, den er nie gerochen hat; vermag er es, so will ich auch glauben,[118] dass der Blinde die Vorstellungen der Farben und der Taube bestimmte und wahre Begriffe von den Tönen hat.

§ 3. Deshalb mag es Gott wohl möglich sein, ein Wesen mit andern Organen und mit mehr Wegen, die dem Verstande die körperlichen Bestimmungen zufuhren, zu erschaffen, als die fünf, welche nach gewöhnlicher Annahme er den Menschen gegeben hat; allein kein Mensch kann andere Eigenschaften an irgend einem Körper, die man an denselben erkennen könnte, sich vorstellen, als Töne, Geschmäcke, Gerüche, sichtbare und fühlbare Eigenschaften. Wären dem Menschen nur vier Sinne gegeben worden, so wären die den Gegenstand des fünften Sinnes bildenden Eigenschaften unserer Kenntniss, Einbildung und Auffassung ebenso entzogen, als jetzt die, welche zu irgend einem sechsten, siebenten und achten Sinne gehören, obgleich man nicht ohne Anmaassung leugnen kann, dass andere Geschöpfe in einem andern Theile des weiten und ungeheuren Welltalls dergleichen haben können. Wer sich nicht stolz auf den Gipfel aller Dinge stellen, sondern die Unermesslichkeit dieses Baues und die grosse Mannichfaltigkeit berücksichtigen will, die sich schon in dem kleinen und unbeträchtlichen Theile, mit dem er es zu thun hat, findet, wird einsehen, dass in andern Wohnstätten andere und verschiedene verständige Wesen sich befinden mögen, deren Fähigkeiten er so wenig erfassen und keimen kann, wie ein Wurm, der in einem Tischkasten steckt, die Sinne und den Verstand eines Menschen; denn eine solche Mannichfaltigkeit und Vortrefflichkeit entspricht der Weisheit und Macht des Schöpfers.

Ich bin hier der gewöhnlichen Annahme gefolgt, wonach der Mensch fünf Sinne hat, obgleich man vielleicht deren mehr annehmen kann; indess bleibt meine Ausführung für beide Annahmen gültig.[119]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 117-120.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1