Vierundzwanzigstes Kapitel.
Ueber die Sammel-Vorstellungen von Substanzen

[335] § 1. (EINE Vorstellung.) Ausser diesen zusammengesetzten Vorstellungen einzelner Substanzen, wie Mensch, Pferd, Gold, Veilchen, Apfel u.s.w. hat die Seele auch zusammengesetzte Sammel-Vorstellungen von Substanzen, die ich so nenne, weil sie aus vielen einzelnen zusammengefassten Substanzen bestehen, die in eine verbunden und so nur als eine gelten, z.B. die Vorstellung von einer solchen Sammlung von Menschen, als ein Heer ausmachen; obgleich dies aus sehr vielen Substanzen besteht, ist es doch nur eine Vorstellung, wie die eines Menschen, und die grosse Sammel-Vorstellung aller Körper überhaupt, welche man die Welt nennt, ist ebenso gut eine Vorstellung, wie die von den kleinsten Theilchen in ihr, da es zur Einheit einer Vorstellung genügt, dass sie als eine Darstellung oder ein Bild aufgefasst werde, wenn sie auch aus noch so vielen Theilen besteht.

§ 2. (Gebildet durch die verbindende Kraft der Seele.) Diese Sammelvorstellungen von Substanzen bildet die Seele durch ihre verbindende Kraft, mittelst welcher sie mehrere einfache oder zusammengesetzte Vorstellungen zu einer ebenso verbindet, wie es bei den zusammengesetzten Vorstellungen einzelner Substanzen geschieht, die aus einer Ansammlung von einfachen zu einer Substanz verbundenen Vorstellungen bestehen, und wie es durch wiederholtes Zusetzen der Vorstellung der Einheit bei der Sammel-Besonderung oder zusammengesetzten Vorstellung einer Zahl geschieht, z.B. eines Schockes, eines Mandels. Die Seele stellt auch mehrere besondere Substanzen ebenso zusammen und macht daraus Sammelvorstellungen wie die einer Truppe, einer Armee, eines Schwarmes, einer Stadt, einer Flotte; in jeder stellt man sich eine Vorstellung mit einem Blick vor und betrachtet unter diesem Begriff die mehreren Dinge völlig als eines, gleich einem Schiff oder einem Atom. Es ist auch nicht schwer begreiflicher, wie ein Heer von 10,000 Mann eine Vorstellung ausmachen könne, als wie bei[335] dem Menschen dies geschehen kann, da die Seele ebenso leicht eine grosse Zahl Menschen verbinden und als eine Vorstellung fassen kann, wie die verschiedenen Vorstellungen, welche das Verbinden zu einem Menschen ausmacht.

§ 3. (Alle künstlichen Sachen sind Sammel-Vorstellungen.) Dazu gehören die meisten künstlichen Gegenstände, wenigstens die aus mehreren besondern Substanzen gefertigten, und wenn man alle die Sammel-Vorstellungen, wie Heer, Sternbild, Weltall, in ihrer Einheit recht betrachtet, so erscheinen sie nur als die künstlichen Werke der Seele, welche sehr entfernte und unabhängige Dinge unter einen Gesichtspunkt befasst, weil sie besser betrachtet und von ihnen leichter gesprochen werden kann, wenn sie zu einem Begriffe verbunden und mit einem Worte bezeichnet sind. Selbst die entferntesten und entgegengesetztesten Dinge kann die Seele auf diese Weise zu einer Vorstellung machen, wie die mit Welt bezeichnete ergiebt.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 335-336.
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Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1