Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Ueber Ursache und Wirkung und andere Beziehungen

[342] § 1. (Woher deren Vorstellungen erlangt werden.) Bei den sinnlichen Wahrnehmungen des steten Wechsels der Dinge bemerkt man, dass Eigenschaften und Substanzen zu bestehen anfangen, und zwar durch die gehörige Anwendung und Wirksamkeit anderer Dinge. Davon rührt die Vorstellung der Ursache und Wirkung. Das, was eine einfache oder zusammengesetzte Vorstellung hervorbringt, heisst Ursache, und das hervorgebrachte Wirkung. So ist die Flüssigkeit des Wachses eine einfache Vorstellung, die vorher nicht da war, aber durch die Anwendung eines bestimmten Hitzegrades regelmässig hervorgebracht wird. Die Flüssigkeit des Wachses ist also die Wirkung, und die Hitze ist die Ursache. So wird die Substanz Holz, womit eine Anzahl einfacher Vorstellungen bezeichnet wird, durch Anwendung von Feuer in eine andere Substanz verwandelt, welche Asche heisst, d.h. in eine andere zusammengesetzte Vorstellung, die von der Holz genannten Vorstellung ganz verschieden ist; deshalb gilt Feuer mit Bezug auf die Asche als die Ursache und letztere als die Wirkung. Ueberhaupt gilt[342] Alles, was für uns eine einfache Vorstellung herbeiführt oder hervorbringt, sei es Substanz oder Eigenschaft, die vorher nicht bestand, in der Seele als eine Beziehung und Ursache, und wird so genannt.

§ 2. (Schöpfung; Erzeugung; Veränderung.) Wenn man so durch die sinnlich-wahrgenommenen Wirksamkeiten der Körper auf einander den Begriff von Ursache und Wirkung erlangt hat, nämlich dass Ursache das ist, was macht, dass etwas Anderes, sei es einfache Vorstellung, Substanz oder Eigenschaft zu sein beginnt, und Wirkung, was seinen Anfang von etwas Anderem hat, so findet die Seele es nicht schwer, den Ursprung der Dinge auf zwei Arten zurückzuführen: 1) die, wo das Ding ganz neu entsteht, ohne dass ein Theil desselben schon vorher bestanden hat; wenn z.B. ein neuer Stofftheil, in rerum natura, zu sein beginnt, der vorher kein Dasein hatte. Dies nennt man Schöpfung; 2) die, wo ein Ding aus Stücken gemacht wird, die schon vorher bestanden haben, wo aber dieses Ding, was so aus frühem Stücken besteht, als solche Sammlung einfacher Vorstellungen aufgefasst, vorher nicht bestanden hat; wie dieser Mensch, dieses Ei, diese Rose oder Kirsche u.s.w. Diese letztere Art heisst, in Bezug auf eine Substanz, die im gewöhnlichen Lauf der Natur durch innere Kräfte hervorgebracht wird, und nur den Anstoss von einem äusserlich Wirkenden oder einer Ursache empfängt und die auf unsichtbaren Wegen wirkt, die man nicht erfasst, Erzeugung. Ist dagegen die Ursache äusserlich und die Wirkung durch eine sichtbare Trennung, Anfügung erkennbarer Stücke erfolgt, so nennt man es Machen; solcher Art sind alle Kunsterzeugnisse. Wird eine einfache Vorstellung hervorgebracht, die vorher in dem Unterliegenden nicht bestand, so nennt man es Veränderung. Hiernach wird ein Mensch erzeugt, ein Gemälde gemacht und eines von beiden geändert, wenn eine neue sinnliche Eigenschaft oder einfache Vorstellung daran hervorgebracht wird, die vorher nicht da war. Dinge, die so zum Dasein gelangen und vorher nicht waren, heissen Wirkungen, und die, Welche dieses Dasein bewirken, Ursachen. Hier wie bei allen andern Ursachen entspringt der Begriff der Ursache und Wirkung von Vorstellungen der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung, und deshalb schliesst diese Beziehung,[343] wie man sie auch auffasst, zuletzt in solchen ab; denn für die Vorstellung der Ursache und Wirkung genügt die Auffassung einer einfachen Vorstellung oder Substanz, welche durch die Wirksamkeit einer andern zu sein beginnt, ohne dass man die Art dieser Wirksamkeit kennt.

§ 3. (Die Beziehungen der Zeit.) Zeit und Raum sind ebenfalls Grundlagen sehr weiter Beziehungen, bei denen alle endlichen Wesen betheiligt sind. An einem andern Ort ist schon gezeigt worden, wie man diese Vorstellungen erlangt; so genügt hier die Andeutung, dass die meisten von einer Zeit entlehnten Benennungen der Dinge nur Beziehungen sind. Sagt z.B. Jemand, dass die Königin Elisabeth 69 Jahr gelebt und 45 Jahre regiert habe, so enthalten diese Worte nur die Beziehung dieser Dauer zu einer andern, und sagen nur, dass die Dauer ihres Lebens 69 Umläufen der Sonne und die Dauer ihrer Regierung 45 solchen gleich gewesen. Dies gilt für alle eine Zeitlänge bezeichnenden Worte. Sagt man: Wilhelm der Eroberer fiel in England um das Jahr 1066 ein, so wird damit, wenn man die Zeit von Geburt unsers Erlösers bis jetzt als eine auffasst, nur gesagt, wie weit dieser Einfall von beiden. Enden absteht. Dies gilt für alle Worte, die auf die Frage: Wann? Auskunft geben; sie zeigen nur den Abstand eines Zeitpunktes aus einer langem Zeitperiode, von dem aus man zählt und auf die man ihn bezieht.

§ 4. Indess giebt es andere auf die Zeit bezügliche Worte, die nach gewöhnlicher Ansicht bejahende Vorstellung bezeichnen, aber, näher betrachtet, doch nur als Beziehungen sich ergeben; solche sind z.B.: jung, alt u.s.w.; sie bezeichnen die Beziehung eines Dinges zu einer gewissen Zeitlänge, deren Vorstellung man kennt. So hat man die gewöhnliche Lebensdauer des Menschen auf 70 Jahre angenommen, und wenn man Jemand jung nennt, so meint man, dass sein Alter nur erst ein kleiner Theil davon sei, und wird er alt genannt, so meint man, dass seine Lebenszeit jener bereits ziemlich nahe komme. So enthalten also diese Worte nur eine Vergleichung des besondern Alters oder der Lebenszeit dieses oder jenes Menschen mit der Lebensdauer, die man bei dieser Art von Geschöpfen als Regel annimmt;[344] deshalb heisst ein Mensch von 20 Jahren jung, und von 7 Jahren sehr jung, während ein Pferd mit 20 Jahren und ein Hund mit 7 Jahren alt heissen; überall wird die Vergleichung mit der als regelmässig angenommenen Lebensdauer dieser Thiere vorgenommen. Dagegen nennt man die Sonne und die Sterne nicht alt, obgleich sie schon viele Geschlechter der Menschen überdauert haben, weil man die Daseinslänge dieser Art von Dingen, die Gott ihnen gesetzt hat, nicht kennt. Dieser Ausdruck passt daher nur auf solche Dinge, die nach unsern Beobachtungen im gewöhnlichen Lauf der Natur durch natürliche Abnahme in einer gewissen Zeit ein Ende nehmen; deshalb ist hier ein Maassstab vorhanden, mit dem man die verschiedenen Theile ihrer Dauer vergleichen und sie danach jung oder alt nennen kann. Bei einem Diamant oder Rubin kann man das nicht, da man deren regelmässige Zeitdauer nicht kennt.

§ 5. (Beziehungen des Orts und der Ausdehnung.) Auch die Beziehungen der Dinge auf einander nach Ort und Abstand sind sehr augenfällig; wie z.B. bei dem Ausdruck: über eine Meile, oder unter einer Meile von Charing-Cross; oder: In England; in London. Wie bei der Zeit, so ist auch bei der Ausdehnung und der Masse manche Vorstellung bezüglich, obgleich sie anscheinend bejahend benannt wird; so sind Gross und Klein wahre Beziehungen. Denn auch hier sind nach den Beobachtungen bestimmte Grössen für die verschiedenen Gattungen der Dinge, an die man am meisten gewöhnt ist, angenommen, welche als Maassstäbe gelten, nach denen man die Grösse anderer bezeichnet. So heisst der Apfel gross, der die gewöhnliche Grösse dieser Sorte übersteigt, und ein Pferd klein, wenn es nicht die gebräuchliche Grösse der Pferde erreicht; so kann dasselbe Pferd für einen Wälschen gross gelten, das bei einem Flamländer nur klein ist, da beide von der in ihren Ländern bestehenden Pferde-Race verschiedene Maassstäbe entnommen haben, nach denen sie das Grosse und Kleine bemessen.

§ 6. (Unbezügliche Ausdrücke werden oft für Beziehungen gebraucht.) Ebenso sind Schwach und Stark nur bezügliche Benennungen der Kraft, in Vergleichung zu gewissen Vorstellungen, die man zu dieser[345] Zeit von grosser und kleiner Kraft hat. Nennt man z.B. einen Menschen schwach, so heisst das, dass er nicht so viel Kraft oder Gewalt zum Bewegen habe, wie die Menschen überhaupt oder die von seiner Grösse meist haben; es wird also seine Stärke mit dieser verglichen. Ebenso gilt, wenn man sagt: »Alle Geschöpfe sind schwache Wesen« das »Schwach« nur als ein bezügliches Wort, was das Missverhältniss der Macht der Geschöpfe zur Gottes Macht bezeichnet. So bezeichnen eine grosse Menge (vielleicht die meisten) Worte nur Beziehungen, während sie auf den ersten Blick keine solche Bedeutung zu haben scheinen. Sagt man z.B.: das Schiff braucht Mund-Vorräthe, so sind: braucht und Mund-Vorräthe, beides bezügliche Worte; eines bezieht sich auf die Vollendung der beabsichtigten Fahrt, und das andere auf den zukünftigen Nutzen. Dass alle diese Beziehungen auf Vorstellungen, die sich aus der Sinnes- oder Selbstwahrnehmung ableiten, gehen und darin endigen, ist so offenbar, dass es keiner Erläuterung bedarf.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 342-346.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
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