Achtundzwanzigstes Kapitel.
Von andern Beziehungen

[370] § 1. (Das Verhältnissmässige.) Ausser den bisher erwähnten zeitlichen, örtlichen und ursachlichen Anlässen zur Vergleichung und Beziehung der Dinge auf einander giebt es, wie gesagt, noch unzählige andere, von denen ich einige erwähnen will. Die erste betrifft die einfachen Vorstellungen, welche der Theile oder der Grade fähig sind; sie geben den Anlass, die Dinge, in denen sie sind, in Bezug auf die in ihnen enthaltenen einfachen[370] Vorstellungen zu vergleichen, z.B. wenn man sagt: weisser, süsser, gleich, mehr. Diese Beziehungen, welche von der Gleichheit oder dem Ueberschuss einer einfachen Vorstellung in verschiedenen Dingen abhängen, kann man allenfalls Verhältnisse nennen. Sie betreffen lediglich die von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangenen einfachen Vorstellungen; dies ist so klar, dass es keines Beweises bedarf.

§ 2. (Natürliche.) Einen andern Anlass zur Vergleichung der Dinge, mit einander und zur Auffassung eines in der Weise, dass dabei ein anderes eingeschlossen wird, sind die Umstände ihres Ursprungs oder Anfangs; wenn diese sich später nicht verändern, so werden diese Beziehungen so dauernd wie die Gegenstände, auf die sie gehen, z.B. Vater und Sohn, Bruder, Vettern u.s.w., welche ihre Beziehung aus einer Gemeinsamkeit des Blutes entnehmen, an der sie in verschiedenem Maasse Theil nehmen. Ferner: Landsleute, d.h. Personen, die in demselben Lande oder Landstrich geboren sind. Ich nenne sie natürliche Beziehungen, bei welchen der Mensch seine Begriffe und Worte dem täglichen Leben und nicht der Wahrheit und dem Umfange der Dinge angepasst hat. Denn sicherlich ist die Beziehung zwischen Erzeuger und Erzeugtem in Wahrheit bei den Thieren dieselbe wie bei den Menschen, und doch wird selten dieser Stier der Grossvater dieses Kalbes oder werden zwei Tauben Vettern genannt werden. Es ist nämlich zweckmässig, diese Beziehungen durch bestimmte Worte bei den Menschen kenntlich zu machen, da man in den Gesetzen und in dem Verkehr die Menschen unter diesen Beziehungen erwähnen und beachten muss, und die Verbindlichkeiten der Menschen sich danach verschieden gestalten; aber bei den Thieren hat der Mensch wenig oder keinen Grund, diesen Unterschied in diesen Beziehungen zu beachten, und deshalb hat er ihnen keine besondern Namen gegeben. Dies giebt nebenbei einigen Aufschluss über den Zustand und das Wachsthum der Sprachen, die, nur für die Mittheilung berechnet, den Begriffen und dem Vermehr entsprechen, welche dem Menschen geläufig sind, aber nicht der Wirklichkeit und dem Umfang der Dinge, noch den mancherlei Beziehungen, denen sie unterliegen, noch den verschiedenen Begriffen, die von ihnen gebildet werden.[371] Gäbe es keine philosophischen Begriffe, so gäbe es auch keine Worte dafür, und man hat natürlich keine Worte für Dinge gebildet, über die zu sprechen kein Anlass war. Deshalb kann es leicht kommen, dass in einem Lande das Wort für das Pferd fehlt, während in andern, wo man mehr um die Stammbäume der Pferde als um seine eigenen besorgt ist, nicht blos Namen für einzelne Pferde, sondern auch für deren verschiedene Verwandtschaftsgrade bestehen.

§ 3. (Eingerichtete.) Manchmal wird die Beziehung der Dinge auf einander durch das Recht oder die moralische Macht oder Verbindlichkeit zu einer Handlung veranlasst. So ist der General ein Mensch, der ein Heer befehligt, und das Heer unter einem General ist eine Anzahl bewaffneter Leute, welche einem Menschen gehorchen müssen; so ist Bürger, wer zu gewissen Vorzügen in einem Orte berechtiget ist. All diese Arten hängen von dem Wollen und dem Uebereinkommen der in Gemeinschaft lebenden Menschen ab; ich nenne sie deshalb eingerichtete oder willkürliche Beziehungen. Sie unterscheiden sich von den natürlichen dadurch, dass sie meist in irgend einer Weise veränderlich sind, und von der Person, der sie angehören, getrennt werden können, ohne dass die so bezogenen Substanzen deshalb zerstört werden. Sie sind zwar alle gegenseitig wie die übrigen und enthalten die Beziehung zweier Dinge zu einander; aber da eines davon oft keinen Namen hat, so wird dies meist nicht beachtet, und die Beziehung wird übersehen. So erkennt man wohl an, dass der Patron und der Klient Beziehungen sind, aber ein Polizeidiener oder ein Diktator werden nicht sofort als solche erkannt, da hier für die Untergebenen der besondere Name fehlt, der diese Beziehung ausdrückte, obgleich sicherlich Beide eine gewisse Gewalt über Andere haben, und deshalb Beide zu denselben ebenso in Beziehung stehen wie der Patron zu seinen Klienten und der General zu seinem Heere.

§ 4. (Moralische.) Eine vierte Art von Beziehungen bildet die Uebereinstimmung oder der Gegensatz, in dem menschliche Handlungen zu einer Regel stehen, auf welche sie bezogen und nach welcher sie beurtheilt werden. Man kann diese Beziehungen wohl moralische[372] nennen, indem danach unser sittliches Handeln benannt wird, was eine sorgfältige Prüfung verdient, da in keinem Zweige des Wissens man mehr für Erlangung bestimmter Vorstellungen sorgen und jede Dunkelheit und Verwirrung möglichst vermeiden sollte. Wenn das menschliche Handeln mit so mancherlei Zielen, Gegenständen, Verfahrungsweisen und Umständen in bestimmte zusammengesetzte Vorstellungen verbunden wird, so entstehen, wie ich gezeigt, gemischte Zustände, von denen viele ihre eigenen Namen haben. Wenn z.B. die Dankbarkeit eine Bereitwilligkeit ist, empfangene Gefälligkeiten anzuerkennen und zu erwidern, und wenn die Vielweiberei ein Haben von mehreren Frauen auf einmal ist, so erlangt man durch Bildung dieser Begriffe ebenso viele Vorstellungen von gemischten Zuständen. Indess genügt dies nicht für unser Handeln; es reicht nicht aus, dass man bestimmte Vorstellungen davon habe und die Namen solcher zusammengesetzten Vorstellungen kenne; wichtiger ist, ob solches Handeln moralisch gut oder schlecht ist.

§ 5. (Das moralisch Gute und Schlechte.) Das Gut und das Uebel sind, wie in Buch II. Kap. 20. § 2 und Kap. 21 § 42 gezeigt worden, nur die Lust und der Schmerz, oder das, was diese gewährt und verschafft. Das moralisch Gute und Schlechte ist die Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung unserer freien Handlungen mit dem Gesetz, wobei das Gut und das Uebel von dem Gesetzgeber über uns gebracht wird. Diese Gute und Uebel, diese Lust und dieser Schmerz, welche der Befolgung oder Verletzung des Gesetzes nach dem Beschluss des Gesetzgebers folgen, ist das, was man Lohn und Strafe nennt.

§ 6. (Moral-Regeln.) Von diesen Moral-Regeln oder Gesetzen, auf welche die Menschen Bezug nehmen, und wonach sie das Rechte oder Unrechte ihres Handelns beurtheilen, scheinen mir drei Arten mit ihren besondern sie verstärkenden Löhnen und Strafen zu bestehen. Denn es würde ganz vergeblich sein, den freien Handlungen der Menschen eine Regel vorzuschreiben, wenn nicht zur Bestimmung ihres Willens ein Lohn oder eine Strafe damit als Verstärkung verbunden wird; deshalb muss man, wo man ein Gesetz annimmt, auch ein Gut oder Uebel als damit verbunden annehmen. Es wäre nutzlos,[373] dass ein vernünftiges Wesen Andern für ihre Handlungen eine Regel gäbe, wenn es nicht deren Befolgung durch ein Gut belohnen und deren Uebertretung durch ein Uebel bestrafen könnte, was nicht schon von selbst der Handlung nachfolgt; denn letzteres würde auch ohne eine Vorschrift wirken. Dies dürfte die wahre Natur aller eigentlichen Gesetze sein.

§ 7. (Gesetze.) Die Gesetze nun, nach denen die Menschen das Recht oder Unrecht ihres Handelns beurtheilen, scheinen mir folgende drei zu sein: 1) das göttliche Gesetz. 2) das bürgerliche Gesetz, und 3) das Gesetz der Meinung oder Achtung, wenn ich es so nennen darf. Nach dem ersten beurtheilt man, ob die Handlung eine Sünde oder eine Pflicht ist; nach dem zweiten, ob sie strafbar oder straffrei ist, und nach dem dritten, ob sie zur Tugend oder zu einem Laster gehört.

§ 8. (Das göttliche Gesetz ist der Maassstab für die Sünde und die Pflicht.) unter dem göttlichen Gesetz verstehe ich das, was Gott für das Handeln der Menschen gegeben hat, mag er es ihnen durch das Licht der Natur oder durch die Stimme der Offenbarung mitgetheilt haben. Niemand ist so unvernünftig, zu leugnen, dass Gott eine Regel gesetzt hat, nach der die Menschen sich benehmen sollen. Gott hat das Recht dazu; wir sind seine Geschöpfe; er besitzt Güte und Weisheit, um unsere Handlungen zum Besten zu leiten, und er hat die Macht, seine Vorschriften durch Belohnungen und Strafen von unendlicher Schwere und Dauer in jenem Leben zu verstärken; denn Niemand kann uns seinen Händen entziehen. Dies ist der alleinige Prüfstein des moralischen Verhaltens; durch Vergleichung mit diesem Gesetz urtheilen die Menschen über das wichtige moralisch Gute und Schlechte ihrer Handlungen, d.h. ob sie als Pflichterfüllung oder Sünde ihnen Glück oder Elend aus den Händen des Allmächtigen gewähren können.

§ 9. (Das bürgerliche Gesetz ist der Maassstab für Verbrechen und die Unschuld.) Das bürgerliche Gesetz, was der Staat als Regel für seine Bürger gegeben hat, ist eine andere Regel, auf welche die Menschen ihre Handlungen beziehen, um zu urtheilen, ob sie strafbar seien oder nicht. Dies Gesetz übersieht Niemand, da sein Lohn und seine Strafe schnell bei der Hand ist[374] und der Macht des Gesetzgebers entspricht, nämlich der Kraft des Gemeinwesens, welches das Leben, die Freiheiten und das Eigenthum Derer, die nach seinen Gesetzen leben, zu schützen hat, und welches Macht hat, das Leben, die Freiheit und die Güter dem zu nehmen, der nicht gehorcht, worin die Strafen solcher Gesetzesverletzungen bestehen.

§ 10. (Das philosophische Gesetz ist der Maassstab der Tugend und des Lasters.) Das dritte Gesetz ist das der Meinung und des Rufes. Tugend und Laster sind Worte, welche überall Handlungen bezeichnen, die durch ihre eigene Natur recht oder unrecht sind. Was man hier auch für eine Ansicht haben mag, so ist doch so viel klar, dass diese Worte: Tugend und Laster bei ihrer Anwendung auf einzelne Fälle in den verschiedenen Völkern und Gemeinschaften der Menschen auf dieser Erde immer nur von solchen Handlungen ausgesagt werden, welche in jedem Lande in Achtung oder Missachtung stehen. Es kann auch nicht auffallen, dass man überall solche Handlungen tugendhaft nennt, welche in dem Lande als preiswürdige gelten, und lasterhaft solche, welche tadelnswerth sind, denn andernfalls würde man sich selbst verurtheilen, wenn man etwas für recht erklärte, das man nicht empfehlen wollte, und etwas für unrecht, ohne es zu tadeln. So ist die Billigung oder Missbilligung, das Lob und der Tadel, welche durch ein geheimes und stillschweigendes Einverständniss sich in den verschiedenen Gesellschaften, Stämmen und Verbindungen der Menschen auf dieser Erde feststellen, der Maassstab dessen, was überall als Tugend oder Laster gilt; die einzelnen Handlungen werden gebilligt oder gemissbilligt nach den Grundsätzen, Ansichten und der Mode des betreffenden Ortes. Denn wenn auch die Menschen bei ihren politischen Verbindungen dem öffentlichen Wesen es überlassen haben, über der Bürger Macht zu verfügen, und der Einzelne ebenso diese Macht gegen seine Mitbürger nicht weiter anwenden kann, als das Gesetz gestattet, so hat er doch die Macht, gut oder übel von den Handlungen Derer, mit denen er lebt und mit denen er verkehrt, zu denken und sie zu billigen oder zu misbilligen. Durch solche Billigung oder Missbilligung[375] wird das begründet, was man Tugend und Laster nennt.

§ 11. Dass dies der allgemeine Maassstab der Tugend und des Lasters ist, erhellt daraus, dass, obgleich in dem einen Lande das als Laster gilt, was man in dem andern als Tugend oder wenigstens nicht als Laster ansieht, doch überall Tugend mit Lob-, Laster mit Tadel zusammengehen. Tugend ist überall das, was als preiswürdig gilt; und nur was die öffentliche Achtung für sich hat, wird Tugend genannt. Tugend und Lob sind so eng verbunden, dass sie oft denselben Namen haben. Sunt sua pramia laudi (das Lob hat seinen eigenen Lohn), sagt Virgil, und Cicero sagt: »Nihil habet natura prästantius quam honestatem, quam laudem, quam dignitatem, quam decus.« (Es giebt in der Natur nichts Besseres als die Rechtlichkeit, das Lob, die Achtung und die Ehre), welche Worte, wie er sagt, sämmtlich nur dieselbe Sache bezeichnen. (Tusculanische Untersuchungen, Buch II.) So sprechen nie heidnischen Philosophen, welche die Bedeutung ihrer Begriffe von Tugend und Laster wohl kannten. Allerdmgs möchte es nach dem Unterschied des Temperamentes, der Erziehung, der Sitten, Grundsätze und Interessen der verschiedenen Menschenklassen vorkommen, dass das an einem Orte Gelobte an einem andern dem Tadel nicht entginge und so die Tugend und die Laster nach der Gesellschaft wechselten; allein in der Hauptsache waren sie in der Regel überall dieselben, da nichts natürlicher ist, als das durch Achtung und Ansehen zu stützen, was Jeder überall als für sich nützlich erachtet, und das Gegentheil zu tadeln und ihm entgegenzutreten und mithin Achtung und Verachtung, Tugend und Laster überall im Grossen und Ganzen mit der unveränderlichen Regel des Rechten und Unrechten, die Gottes Gesetz gegeben, übereinstimmen; denn nichts in der Welt sichert und befördert so geradezu und sichtlich das allgemeine Wohl der Menschen, als der Gehorsam gegen das von Gott gegebene Gesetz, wie umgekehrt nichts solches Elend und Unglück bereitet, als dessen Vernachlässigung, und deshalb konnten die Menschen, wenn sie nicht auf alle Vernunft und ihren eigenen Vortheil, den sie so beharrlich verfolgen, verzichten wollten, ihr Lob und ihren Tadel nicht einer Richtung zuwenden, die ihn nicht wahrhaft[376] verdiente. Selbst Die, welche nicht danach handelten, gaben doch dem Rechten ihre Billigung; denn nur Wenige sind so verdorben, dass sie nicht wenigstens bei Andere die Fehler verdammen, die sie selbst begehen; selbst bei einer vorhandenen Sittenverderbniss werden die wahren Grenzen des Naturgesetzes, welches die Regel für die Tugend und das Laster abgeben sollte, für die bessern erklärt. Selbst begeisterte Lehrer haben in ihren Ermahnungen auf die öffentliche Meinung sich gestützt, und es heisst in dem Briefe an die Philipper, Kap. 4, Vers 8: »Was lieblich ist, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach.«

§ 12. (Achtung und Missachtung sind die Einschärfungsmittel.) Wenn ich das Gesetz, nach dem die Menschen über Tugend und Laster entscheiden, nur für die Uebereinstimmung der Privatpersonen erkläre, denen das genügende Ansehen des Gesetzgebers und insbesondere die dem Gesetz so unentbehrliche und wesentliche Kraft, es zu verstärken, abgeht, so könnte man glauben, ich hätte meine eigenen Begriffe vom Gesetz vergessen; allein wer Lob und Tadel nicht für so starke Beweggründe hält, dass man sich der Meinung und den Regeln seiner Mitmenschen fügt, dürfte wenig mit der menschlichen Natur und Geschichte bekannt sein. Die meisten Menschen lassen sich hauptsächlich, wo nicht ausschliesslich durch das Gesetz der Mode bestimmen, und man thut das, was die Achtung der Gesellschaft erwirbt, ohne die Gesetze Gottes und der Obrigkeit viel zu beachten. Die Strafen, welche der Uebertretung des göttlichen Gesetzes nachfolgen, werden von Vielen, ja von den Meisten nur selten ernstlich bedacht, und selbst von den Uebrigen hoffen Viele, während sie das Gesetz übertreten, auf die kommende Versöhnung und machen ihren Frieden für solchen Bruch. Ebenso hofft man den von den Staatsgesetzen angedrohten Strafen zu entgehen. Dagegen entgeht Niemand dem Uebel des Tadels und der Missbilligung, wenn er die Sitten und die Ansichten der Gemeinschaft verletzt, in welcher er lebt und der er sich empfehlen will; unter Zehntausend ist kaum Einer stark und unempfindlich genug, um die stete Missbilligung und Verurtheilung seiner eigenen Genossenschaft zu ertragen; denn es gehört ein seltener und ungewöhnlicher Charakter[377] dazu, um in steter Missbilligung und in Unfrieden mit seinen Genossen zu leben. Die Einsamkeit hat Mancher aufgesucht und sich damit ausgesöhnt; aber Niemand, der für seine Umgebung Sinn und einiges Gefühl hat, kann mit derselben leben, wenn seine Angehörigen und Bekannten stets ihr Missfallen und ihren Tadel gegen ihn aussprechen. Diese Last ist zu schwer für menschliche Schultern, und Derjenige befindet sich in unversöhnlichen Widersprüchen, welcher Vergnügen in der Gesellschaft finden und doch für die Verachtung und Ungunst seiner Genossen unempfindlich bleiben kann.

§ 13. (Diese drei Gesetze sind die Regeln für das moralische Gute und Böse.) Hiernach sind es diese drei Gesetze, das Gesetz Gottes, das der politischen Verbindungen und das der Mode und der Privat-Urtheile, wonach die Menschen ihr Handeln beurtheilen; von der Uebereinstimmung mit diesen Gesetzen nehmen sie den Maassstab für das Moralisch-Rechte, und nennen danach ihr Handeln gut und schlecht.

§ 14. (Moralität ist die Beziehung des Handelns auf diese Regeln.) Mag die Regel, an welche man wie an einen Probirstein die Handlungen hält, um sie zu prüfen und ihre Güte zu erforschen, sie danach zu benennen und ihnen gleichsam das Zeichen ihres Werthes aufzudrücken; mag, wie gesagt, diese Regel der Sitte des Landes oder dem Willen eines Gesetzgebers entnommen sein, so kann man doch leicht diese Beziehung der Handlung auf sie erkennen und sehen, ob sie mit der Regel stimmt oder nicht. Damit hat man den Begriff des moralisch Guten und Schlechten, was in der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung der Handlung mit der Regel besteht und deshalb oft das moralische Rechte heisst. Diese Regel ist nur eine Verbindung mehrerer einfachen Vorstellungen, für welche die Uebereinstimmung der Handlung so verlangt wird, dass die einfachen Vorstellungen in der Handlung dem von dem Gesetze Verlangten entsprechen. So sieht man, wie moralische Dinge und Begriffe auf jene einfachen Vorstellungen begründet sind und darin enden, welche man von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangen hat. Wenn man z.B. die zusammengesetzte Vorstellung eines Mordes betrachtet, sie auseinander genommen und im Einzelnen[378] geprüft hat, so zeigt sie sich aus einer Anzahl einfacher, aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung kommender Vorstellungen gebildet; denn erstens hat man durch die Selbstwahrnehmung der eigenen Seelenthätigkeiten die Vorstellungen des vorausgehenden Wollens, Ueberlegens, Beschliessens, so wie der Bosheit und des Begehrens eines den Andern treffenden Hebels; ebendaher kommen die Vorstellungen von Leben, Wahrnehmen und eigener Bewegung. Zweitens hat man von der Sinnes-Wahrnehmung jene sinnlichen Vorstellungen, die in dem Menschen bestehen, und von einem Handeln, womit man dem Wahrnehmen und der Bewegung eines Menschen ein Ende setzt. All diese einfachen Vorstellungen sind in dem Worte Mord verbunden. Wenn eine solche Verbindung einfacher Vorstellungen zu den Achtungsbegriffen meines Vaterlandes stimmt oder ihnen widerspricht und von den Meisten für lobens- oder tadelnswerth gehalten wird, so nenne ich die Handlung eine tugendhafte oder lasterhafte. Nehme ich aber den Willen eines höchsten unsichtbaren Gesetzgebers zu meiner Regel, so nenne ich sie, je nachdem Gott sie befohlen oder verboten hat, gut oder schlecht, Pflichterfüllung oder Sünde; und vergleiche ich sie mit dem bürgerlichen Gesetz und der von der Staatsgewalt gesetzten Regel, so nenne ich sie gesetzmässig oder ungesetzlich, ein Vergeben oder kein Vergehen. Woher man mithin auch die Regel für das moralische Handeln nehmen mag, und nach welchem Maassstabe man die Begriffe von Tugend und Laster bilden mag, so sind sie doch immer nur aus einer Anzahl einfacher Vorstellungen gebildet, die man ursprünglich von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangen hat, und bei denen das Rechte oder Unrechte in der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung mit dem von einem Gesetz vorgeschriebenen Muster besteht.

§ 15. Um über moralische Handlungen richtig zu urtheilen, muss man sie von zwei Gesichtspunkten aus betrachten; erstens so, wie sie an sich aus einer Zusammenfassung mehrerer einfachen Vorstellungen bestehen. So bezeichnet die Trunkenheit oder die Lüge eine solche Zusammenfassung einfacher Vorstellungen, die ich gemischte Zustände nenne, und in diesem Sinne sind sie ebenso viele bejahende Vorstellungen, wie das Trinken[379] eines Pferdes oder das Sprechen eines Papagei. Zweitens werden unsere Handlungen als gut, schlecht oder gleichgültig aufgefasst; dann sind sie bezüglicher Natur, da dies ihre Uebereinstimmung oder Abweichung von einer Regel bezeichnet, wodurch sie recht oder unrecht, gut oder schlecht werden. So weit sie daher mit einer Regel verglichen und danach benannt werden, gehören sie zu den Beziehungen. So wird die Herausforderung und das Fechten mit einem Manne, als eine bestimmte bejahende Besonderung oder Art des Handelns, die sich durch ihre eigenen Vorstellungen von andern unterscheidet, ein Duell genannt; allein in Beziehung auf das göttliche Gebot betrachtet, verdient es den Namen einer Sünde; in Beziehung auf das Gesetz der Sitte in mehreren Ländern, heisst es Tapferkeit und Mannhaftigkeit, und in Beziehung auf die Gesetze einzelner Staaten ein todeswürdiges Verbrechen. Wenn die bejahenden Bestimmungen ihren besondern Namen haben und die Beziehung auf das Gesetz einen andern, so ist der Unterschied ebenso leicht erkennbar, wie bei Substanzen, wo der eine Name, z.B. Mensch, die Sache selbst, und ein anderer, wie Vater, die Beziehung bezeichnet.

§ 16. (Die Namen der Handlungen leiten oft irre.) Oft werden indess die bejahende Vorstellung der Handlung und ihre moralische Beziehung mit einem Worte bezeichnet und dasselbe Wort für die besondere Handlung und auch für ihre moralische Güte oder Schiechtheit gebraucht; dann wird die Beziehung weniger beachtet und beide Bedeutungen oft nicht unterschieden. Durch solche Vermengung beider Begriffe werden Die, welche leicht dem Klang der Worte nachgeben und die Worte leicht für die Dinge nehmen, zu falschen Urtheilen verleitet. So heisst es Stehlen, wenn man einem Andern das Seinige ohne sein Wissen und Willen nimmt; allein da das Wort allgemein auch die moralische Schlechtigkeit der Handlung und die darin liegende Gesetzesverletzung bezeichnet, so neigt man dazu, jede Stehlen genannte That als eine schlechte zu verdammen, die das Recht verletzt. Allein wenn der Einzelne dem Wahnsinnigen sein Schwert nimmt, damit er kein Unglück anrichte, so kann dies wohl als ein gemischter Zustand Stehlen genannt werden, aber in Vergleich mit dem Gesetz Gottes[380] und in Beziehung auf diese höchste Regel ist es keine Sünde und Uebertretung, obgleich das Wort Stehlen gewöhnlich diese Bedeutung mit sich führt.

§ 17. (Die Beziehungen sind unzählig.) So viel über die Beziehungen der menschlichen Handlungen auf das Gesetz, die ich deshalb moralische Beziehungen nenne. Es würde nun Bände füllen, wenn ich hier alle Arten der Beziehungen durchgehen wollte; ich kann sie deshalb nicht alle hier aufzählen. Es genügt mir, durch die obigen gezeigt zu haben, welche Vorstellungen man durch diese zusammenfassenden Betrachtungen erlangt, die Beziehungen heissen. Sie sind so mannichfach und der Anlass dazu so häufig (nämlich so viel, als man Vergleichungen zwischen den Dingen anstellen kann), dass ihre Zurückführung auf Regeln und richtige Arten nicht leicht ist. Die oben erwähnten dürften zu den erheblichsten gehören und so beschaffen sein, dass man daraus erkennt, woher man die Vorstellungs-Beziehungen erlangt und worauf sie beruhen. Ehe ich indess diesen Gegenstand verlasse, gestatte man mir noch folgende Bemerkungen:

§ 18. (Alle Beziehungen enden in einfache Vorstellungen.) Erstens ist klar, dass alle Beziehungen in den einfachen, aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung stammenden Vorstellungen enden und zuletzt darauf gestützt sind. Deshalb ist Alles, was man in seinem Denken hat (wenn man an ein Ding denkt oder eine Meinung hat) oder Andern mittheilen will, auch bei dem Gebrauch von Worten, welche Beziehungen bezeichnen, nur eine einfache Vorstellung oder eine Zusammenfassung solcher, die mit andern verglichen werden. Bei derjenigen Art, welche man Verhältnisse nennt, ist dies Klar; denn wenn man den Honigsüsser als das Wachs nennt, so endet offenbar das Denken bei dieser Beziehung in der einfachen Vorstellung des Süssen, und dies gilt ebenso für alle andern, obgleich bei ihren Verbindungen und Trennungen die sie bildenden einfachen Vorstellungen selten beachtet werden. Wenn z.B. das Wort Vater genannt wird, so wird damit erstens die besondere Gattung oder zusammengesetzte Vorstellung gemeint, welche das Wort Mensch bezeichnet, zweitens die sinnlichen einfachen Vorstellungen, welche das Wort [381] Erzeugung bezeichnet, und drittens, ihre Wirkung und all die einfachen durch das Wort Kind bezeichneten Vorstellungen. So bedeutet das Wort Freund einen Menschen, der einen Andern liebt und ihm Gutes zu erweisen bereit ist; es besteht aus folgenden Vorstellungen: 1) aus allen jenen einfachen, die das Wort Mensch oder vernünftiges Wesen befasst; 2) aus der Vorstellung der Liebe; 3) aus der der Bereitwilligkeit oder Neigung; 4) aus einer Handlung, die eine Art des Denkens oder Bewegens ist; 5) aus der Vorstellung des Guts, was Alles bezeichnet, was zu seinem Glücke beiträgt und was, wie gezeigt worden, zuletzt in einfachen Vorstellungen endet, von denen das Wort Gut überhaupt eine bezeichnet, so dass, wenn alle einfachen Vorstellungen davon entfernt werden, es gar nichts bedeutet. Ebenso enden auch alle moralischen Worte zuletzt, wenn auch entfernter, in eine Zusammenfassung einfacher Vorstellungen; denn die unmittelbare Bedeutung mancher bezüglichen Worte geht oft auf andere bekannte Beziehungen; allein gebt man dabei von einer zur andern, so endigen sie zuletzt alle in einfachen Vorstellungen.

§ 19. (Man hat gewöhnlich einen ebenso klaren (oder klarern) Begriff von der Beziehung, wie von ihrer Grundlage.) Zweitens bemerke ich, dass man bei dem Beziehen meistentheils, wo nicht immer, von der Beziehung eine ebenso klare Vorstellung hat, wie von den einfachen Vorstellungen, auf die sie gegründet wird; denn von der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung, von welcher die Beziehungen abhängen, hat man allgemein ebenso klare Vorstellungen wie von jedem andern Dinge, da es nur das Unterscheiden einfacher Vorstellungen oder ihrer Grade von einander ist, ohne die jedes bestimmte Wissen unmöglich ist. Denn wenn man eine klare Vorstellung von Süssigkeit; Licht oder Ausdehnung hat, so hat man sie auch von der Gleichheit und dem Mehr oder Weniger jener. Wenn ich weiss, was das Geborensein eines Menschen von der Sempronia ist, so weiss ich auch, was das Geborensein von der Sempronia für einen andern Menschen ist, und deshalb ist meine Vorstellung von Brüdern so klar wie die von Vögeln, und vielleicht noch klarer. Denn wenn ich glaube, dass Sempronia den Titus von dem Petersilienbeet[382] geholt hat (wie man den Kindern zu sagen pflegt) und dadurch seine Mutter geworden, und dass sie später den Cajus ebenso von dem Petersilienbeet geholt hat, so wäre meine Vorstellung von dem Verhältniss von Brüdern ebenso klar, als wenn ich die ganze Geschicklichkeit einer Hebamme besässe; denn der Begriff, dass dasselbe Weib als Mutter zu ihrer Geburt beigetragen habe (wenn ich auch in der Art hierbei irre gehe oder sie nicht kenne), ist das, worauf ich die Beziehung stütze, und dass beide in diesem Vorgänge der Gebart übereinstimmen, mag dieser Vorgang sonst enthalten, was er will. Die Vergleichung beider Personen nach ihrer Abkunft von derselben Person genügt, wenn man auch die nähern Umstände davon nicht kennt, um darauf den Begriff von ihrer Beziehung als Brüder zu gründen. Obgleich sonach die Vorstellungen der einzelnen Beziehungen bei gehöriger Betrachtung so klar und bestimmt in der Seele sein können, als die von gemischten Zuständen, und sogar bestimmter als die von Substanzen, so haben doch die zu diesen Beziehungen gehörenden Worte oft eine ebenso zweifelhafte und Ungewisse Bedeutung wie die von gemischten Zuständen oder Substanzen, und noch mehr wie die von einfachen Vorstellungen, weil die bezüglichen Worte nur diese Vergleichung bezeichnen, welche blos im Denken geschieht und nur eine Bestimmung in der Seele ist und sie daher oft zu verschiedenen Vergleichungen der Dinge nach der eigenen Einbildung benutzt werden, die nicht immer mit denen der Andern bei Gebrauch dieser Worte übereinkommen.

§ 20. (Der Begriff der Beziehung bleibt derselbe, mag die Regel, mit der eine Handlung verglichen wird, wahr oder falsch sein.) Drittens kann man bei den moralischen Beziehungen einen wahren Begriff von der Beziehung durch Vergleichung der Handlung mit der Regel haben, wenn auch die Regel selbst falsch ist. Denn wenn ich eine Sache nach meiner Elle messe, so weiss ich, ob sie länger oder kürzer als diese Elle ist, wenn diese auch nicht genau eine richtige Elle ist; denn dies ist eine andere Frage, wo selbst, wenn die Regel falsch ist, und ich hierbei irre, doch die zu erkennende Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung mit dem Andern die Beziehung bemerken lässt.[383] Deshalb kann man bei Anwendung einer falschen Regel wohl zu einem falschen Urtheil über die moralische Eigenschaft einer Handlung verleitet werden; allein deshalb irrt man nicht in der Frage, ob die mit der Regel verglichene Handlung mit ihr stimme oder nicht.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 370-384.
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