Dreissigstes Kapitel.
Von wirklichen und eingebildeten Vorstellungen

[395] § 1. (Wirkliche Vorstellungen entsprechen ihren Mustern.) Neben dem bisher Erwähnten kann man die Vorstellungen auch in Beziehung auf die Dinge betrachten, von denen sie entnommen sind oder die sie, wie man annimmt, darstellen. Man kann sie dann in dreifacher Weise entheilen; sie sind dann 1) entweder wirkliche oder eingebildete, 2) entsprechende oder nicht entsprechende, und 3) wahre oder falsche Vorstellungen. Unter wirklichen Vorstellungen verstehe ich die, welche in der Natur eine Grundlage haben und mit dem wirklichen Sein und Bestehen der Dinge oder mit ihren Vorbildern übereinstimmen. Eingebildet oder chimärisch nenne ich die, welche in der Natur keine Grundlage haben und mit der Wirklichkeit der Dinge nicht übereinstimmen, auf welche sie im Stillen als ihre Muster bezogen werden. Untersucht man die früher erwähnten verschiedenen Arten der Vorstellungen, so findet man:

§ 2. (Die einfachen Vorstellungen sind alle wirklich.) Erstens, dass die einfachen Vorstellungen sämmtlich wirklich sind und der Wirklichkeit der Dinge entsprechen, wenn sie auch nicht alle die Bilder oder Darstellung des Daseienden sind, indem ich schon das Gegentheil davon bei allen Eigenschaften der Körper mit Ausnahme der ersten Eigenschaften dargelegt habe. Wenn aber auch das Weisse und Kalte so wenig wie der Schmerz im Schnee enthalten ist, so sind diese Vorstellungen von Weiss, Kalt, Schmerz die Wirkungen von Kräften der Dinge ausserhalb unserer, die nach der Bestimmung des Schöpfers solche Empfindungen in uns hervorbringen sollen, und sie sind deshalb wirkliche Vorstellungen, durch die man die wirklich in den Dingen enthaltenen Eigenschaften erkennt. Denn diese verschiedenen Empfindungen sollen das Mittel sein, wodurch man die Dinge, mit denen man verkehrt, erkennt und unterscheidet, und deshalb erfüllen diese Vorstellungen diese Zwecke ebenso gut und sind wirklich unterscheidende Zeichen, mögen sie nur regelmässige Wirkungen oder genaue Bilder des in den[395] Dingen enthaltenen Inhaltes sein, da die Wirklichkeit in dem beständigen Zusammenhange liegt, in dem die Vorstellungen mit bestimmten Zuständen der Dinge stehen. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Zustände als Ursachen oder als Muster auftreten; es genügt, dass die Vorstellungen regelmässig von ihnen hervorgebracht werden. Deshalb sind alle einfachen Vorstellungen wirklich und wahr, denn sie entsprechen und stimmen zu den Kräften der Dinge, von denen sie in der Seele hervorgebracht werden; dies genügt, um sie zu wirklichen und nicht zu beliebig erfundenen zu machen, da bei den einfachen Vorstellungen (wie ich gezeigt habe) die Seele ganz auf die Wirksamkeit der Dinge auf sich angewiesen ist und über die empfangenen hinaus keine neuen sich machen kann.

§ 3. (Die zusammengesetzten Vorstellungen sind willkürliche Verbindungen.) Wenn auch die Seele bei den einfachen Vorstellungen sich ganz leidend verhält, so dürfte dies doch nicht für die zusammengesetzten Vorstellungen gelten; denn da sie Verbindungen von einfachen unter einem Namen befassten Vorstellungen sind, so hat die Seele offenbar eine gewisse Freiheit bei deren Bildung; denn sonst könnte die Vorstellung des Goldes oder der Gerechtigkeit bei dem einen Menschen nicht von der bei dem andern verschieden sein. Dies ist nur dadurch möglich, dass der Eine gewisse einfache Vorstellungen dabei zugesetzt oder weggelassen hat, während der Andere dies nicht gethan hat. Es fragt sich daher, welche zusammengesetzte Vorstellungen wirklich, und welche nur eingebildet sind? Welche Sammelvorstellung mit der Wirklichkeit der Dinge stimmt und welche nicht? Hierauf antworte ich:

§ 4. (Gemischte Zustände, die aus Vorstellungen gebildet sind, welche sich mit einander vertragen, sind wirklich.) Gemischte Zustände und Beziehungen haben keine andere Wirklichkeit, als die, welche sie in der menschlichen Seele besitzen, und deshalb ist, um sie zu wirklichen zu machen, nur nöthig, sie so zu bilden, dass ein Ding, möglicherweise ihnen entsprechend, bestehen kann. Da diese Vorstellungen ihre eigenen Muster sind, so können sie von ihrem Muster nicht abweichen, und deshalb können sie nicht chimärisch sein, ausgenommen wenn man mit einander unverträgliche[396] Vorstellungen verbindet. Allerdings haben manche dieser Vorstellungen in den bekannten Sprachen ihre Namen, durch die Der, welcher diese Vorstellungen hat, sie einem Andern mittheilen kann, und deshalb genügt die blosse Möglichkeit des Bestehens des Gegenstandes nicht, sondern sie müssen der gewöhnlichen Bedeutung des ihnen gegebenen Namens entsprechen, wenn sie nicht als eingebildet gelten sollen. Dies wäre z.B. der Fall, wenn man die Vorstellung, welche man gewöhnlich Freigebigkeit nennt, Gerechtigkeit nennen wollte. Indess bezieht sich dies willkürliche Bilden mehr auf die Eigenthümlichkeit der Redeweise als auf die Wirklichkeit der Dinge. So ist der Zustand eines Menschen, der in der Gefahr ruhig bleibt und besonnen überlegt, was am besten zu thun sei, und der dies standhaft ausführt, ein gemischter Zustand oder die zusammengesetzte Vorstellung eines Zustandes, der wirklich sein kann; allein eine Ruhe in der Gefahr, ohne dass man Vernunft und Anstrengung dabei gebraucht, ist auch möglich, und deshalb ist diese Vorstellung so wirklich wie jene; allein jene hat den Namen Muth erhalten und kann mit Rücksicht auf diesen Namen eine falsche oder richtige Vorstellung sein, während die andere, welche keinen gebräuchlichen Namen aus einer bekannten Sprache erhalten hat, nicht entstellt werden kann, weil sie nicht in Bezug auf einen bestimmten vorhandenen Zustand gebildet worden ist.

§ 5. (Die Vorstellungen von Substanzen sind wirklich, wenn sie mit dem Dasein von Dingen übereinstimmen.) Die zusammengesetzten Vorstellungen von Substanzen sind sämmtlich in Bezug auf äussere bestehende Dinge gebildet worden und sollen Darstellungen derselben so sein, wie sie wirklich sind; sie sind deshalb nur so weit wirklich, als sie solche Verbindungen einfacher Vorstellungen sind, die als wirklich so verbundene und zusammenbestehende Dinge äusserlich bestehen. Dagegen sind diejenigen eingebildete, welche aus solchen Zusammenfassungen einfacher Vorstellungen gebildet sind, die in dieser Verbindung niemals bestanden haben und in keiner Substanz so angetroffen werden. Dahin gehören z.B. die Vorstellungen, eines vernünftigen Geschöpfes mit einem Pferdekopf und einem Menschenleib, wie die Centauren beschrieben werden, oder von einem gelben, biegsamen,[397] schmelzbaren und dichten Körper, der aber leichter als Wasser ist, oder von einem einförmigen unorganisirten Körper, der dem Ansehen nach aus lauter gleichen Theilen besteht, und mit dem die Wahrnehmung und das freiwillige Bewegen verbunden ist. Ob dergleichen Substanzen möglicherweise bestehen können oder nicht, weiss man nicht; allein sei dem, wie man wolle, so sind doch diese Vorstellungen von Substanzen nach keinem bestehenden Muster, so viel man weiss, gebildet, und sie befassen Vorstellungen, die man in keiner Substanz noch beisammen gefunden hat; deshalb können sie nur als reine Erdichtungen gelten. Noch mehr gilt dies von solchen zusammengesetzten Vorstellungen, bei denen ihre Theile mit einander unverträglich sind oder einander widersprechen.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 395-398.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1