Dreiunddreissigstes Kapitel.
Von der Vergesellschaftung der Vorstellungen

[422] § 1. (In den meisten Menschen steckt etwas Unverständiges.) In den Meinungen, Begründungen und Handlungen anderer Menschen bemerkt wohl Jeder Etwas, was ihm seltsam scheint, und an sich das richtige Maass überschreitet. Jedermann ist so scharfsichtig, dass er bei den Andern den geringsten Fehler dieser Art, sobald er von seinen eigenen verschieden ist, erspäht und durch das Ansehen der Vernunft schnell verurtheilt, obgleich er vielleicht in seinen Aussprüchen und Lebenswandel viel grösserer Fehler schuldig ist, nur dass er sie nie bemerkt, und sich dabei schwer oder gar nicht überzeugen lässt.

§ 2. (Es geschieht dies nicht blos aus Selbstliebe.) Dies kommt nicht immer von der Selbstliebe, obgleich sie ihre Hand dabei oft mit im Spiele hat. Oft haben Menschen von hellem Geist, die sich selbst oft zu schmeicheln pflegen, diesen Fehler, und man hört mit Erstaunen die Begründungen eines würdigen Mannes, und wundert sich über die Hartnäckigkeit, mit der er sich der Kraft der Vernunftgründe entgegenstellt, wenn sie ihm auch so klar wie das Tageslicht dargelegt werden.

§ 3. (Auch nicht von der Erziehung.) Man schiebt, diese Art von Unverstand meist auf die Erziehung und die Vorurtheile; dies trifft auch in den meisten Fällen zu; aber es geht nicht auf den Grand der Krankheit ein und zeigt nicht bestimmt genug, woher sie kommt und worin sie besteht. Die Erziehung mag allerdings die Ursache sein, und mit Vorurtheil bezeichnet man die Sache im Allgemeinen ganz gut; indess muss man doch ein wenig weiter blicken, wenn man die Wurzel dieser Thorheit finden und sie so darlegen will, dass man sieht, woraus dieser Fehler selbst bei vernünftigen und massigen Menschen entsteht, und worin er liegt.

§ 4. (Eine Art von Verrücktheit.) Man wird mir verzeihen, dass ich es mit dem harten Namen Verrücktheit bezeichne, wenn man bedenkt, dass der Widerstand gegen die Vernunft diesen Namen verdient, und[422] dass er wirklich verrückt ist. Es wird schwerlich ein Mensch ganz frei davon sein, und wenn er immer und bei allen Gelegenheiten so spräche und handelte, als er in gewissen Fällen es thut, so würde man glauben, er passe eher ins Irrenhaus als in die Gesellschaft. Ich meine nicht die Fälle, wo man sich in einer maasslosen Leidenschaft befindet, sondern den stetigen und ruhigen Lauf des Lebens. Dieser harte Name und verletzende Tadel des grössten Theils der Menschheit wird sich mehr rechtfertigen, wenn ich nebenbei die Natur der Verrücktheit ein wenig näher betrachte. In Buch II. Kap. 11. § 13 habe ich gezeigt, dass sie aus derselben Wurzel entspringt und von derselben Ursache abhängt, die ich hier behandle. Diese Betrachtung der Sache zu einer Zeit, wo ich nicht im mindesten an die jetzige Frage dachte, brachte mich darauf. Ist es eine Schwäche, der alle Menschen ausgesetzt sind, und ist es ein Fleck, der allgemein den Menschen anklebt, so sollte man sich höchlich bemühen, ihn bei seinem wahren Namen zu nennen und so die Sorgfalt zu steigern, die seine Abhaltung oder Heilung erfordert.

§ 5. (Von einer falschen Verbindung der Vorstellungen.) Manche Vorstellungen haben eine natürliche Beziehung und Verbindung mit einander; es ist das Geschäft und der Vorzug der Vernunft, diese aufzusuchen und diese Vorstellungen in der Verbindung und Beziehung zu erhalten, welche in deren besonderm Wesen begründet ist. Ausser dieser besteht aber noch eine andere Verbindung der Vorstellungen, die nur auf Zufall oder Gewohnheit beruht; es werden dadurch Vorstellungen, ohne an sich verwandt zu sein, so verbunden, dass sie in der Seele schwer wieder zu trennen sind; sie bleiben immer beisammen, und sobald die eine in der Seele auftritt, findet sich auch deren Genösse ein; sind es mehr als zwei, die so verbunden sind, so zeigt sich die ganze Sippschaft.

§ 6. (Wie diese Verbindung entsteht.) Diese enge Verbindung von Vorstellungen, welche die Natur nicht verknüpft hat, entsteht in der Seele entweder absichtlich oder zufällig; deshalb ist sie bei den Einzelnen je nach dem Unterschied ihrer Erziehung, Neigungen und Interessen sehr verschieden. Die Gewohnheit hat ihren[423] Einfluss sowohl auf die Wege des Denkens wie des Wollens und der körperlichen Bewegungen. Sie scheinen sämmtlich nur Bewegungsreihen der Lebensgeister zu sein, die wenn sie einmal einen Weg genommen, diesen fortbehalten; durch das ofte Betreten wird er zu einem glatten Pfade, und die Bewegung vollzieht sich so leicht, als wenn sie eine natürliche wäre. So weit man das Denken begreift, entstehen Vorstellungen auf diesem Wege oder es erklärt sich daraus wenigstens ihre Folge in der gewohnten Reihe, wenn sie einmal in Zug gekommen sind, wie ja auch die körperlichen Bewegungen sich so erklären. Ein mit einer Melodie bekannter Musiker bemerkt, dass mit dem Eintritt des ersten Tones in seinem Vorstellen die spätem sich in seinem Kopfe ordnungsmässig folgen, ohne dass er sich darum zu bemühen oder Acht zu haben braucht; es geschieht so regelmässig, als seine Finger sich über die Orgeltasten bewegen, um die begonnene Melodie fortzusetzen, obgleich er mit seinen Gedanken ganz wo anders ist. Ob die natürliche Ursache dieser Folge der Vorstellungen und dieser regelmässigen Bewegung der Finger von der Bewegung der Lebensgeister kommt, will ich nicht entscheiden, wenn es auch durch dieses Beispiel sehr wahrscheinlich wird; jedenfalls hilft es die geistigen Gewohnheiten und das Verknüpfen der Vorstellungen verstehen.

§ 7. (Manches Widerstreben kommt davon.) Dass solche Verbindungen von Vorstellungen durch die Gewohnheit beiden meisten Menschen sich bilden, wird wohl Niemand bezweifeln, der sich oder Andere beobachtet hat, und diesem Umstande dürften wohl mit Recht die meisten der bei den Menschen sich zeigenden unbewussten Zuneigungen und Abneigungen zuzuschreiben sein, die ebenso so stark und regelmässig wirken, als; wären sie natürliche. Sie heissen so, weil sie zwar zunächst nur mit dem zufälligen Zusammentreffen zweier Vorstellungen beginnen, aber durch die Stärke des ersten Eindrucks oder durch späteres Nachgeben sich so eng verbinden, dass sie in der Seele dann fest zusammenhalten, gleich als wären sie nur eine Vorstellung. Ich sage, die meisten der Abneigungen, nicht alle; denn manche sind wirklich natürliche, hängen von der ursprünglichen[424] Verfassung des Menschen ab und werden mit ihm geboren; allein bei vielen, die auch als natürliche gelten, würde eine sorgfältige Beobachtung zeigen, dass sie aus unbeachteten, wenn auch frühzeitigen Eindrücken oder eitlen Einbildungen herrühren. Wenn ein Erwachsener sich einmal in Honig überessen hat, so braucht er nur dies Wort zu hören, und seine Phantasie macht gleich seinen Magen krank und aufgebläht; er kann nicht einmal die Vorstellung von Honig vertragen, ohne dass sofort die Zeichen von Widerwillen, Unwohlsein und Erbrechen sich einstellen, und er darunter leidet; indess weiss er, woher dies kommt, und kann angeben, wie diese Schwäche entstanden ist. Hätte dieses Honigessen im Uebermaasse sich bei ihm ereignet, als er noch ein Kind war, so wären die Folgen dieselben gewesen, aber er hätte sich in der Ursache geirrt und diesen Widerwillen für einen natürlichen gehalten.

§ 8. Ich erwähne dies hier nicht, weil es für die vorliegende Frage nöthig wäre, genau zwischen dem natürlichen und angenommenen Widerwillen zu unterscheiden; sondern nur zu dem Zweck, dass die, welche Kinder haben oder sie erziehen sollen, sich die Mühe nehmen, auf dergleichen ungehörige Verknüpfungen der Vorstellungen in der Seele der Kinder zu achten und sie zu verhindern. Die Eindrücke dieser Zeit sind die bleibendsten; die, welche sich auf die körperliche Gesundheit beziehen, werden zwar von aufmerksamen Erziehern beachtet und abgehalten; aber die, welche sich vorzugsweise auf die Seele beziehen und in dem Verstande oder in Leidenschaften endigen, scheinen mir weniger beachtet zu werden, als sie es verdienen, ja, die nur den Verstand betreffenden scheinen mir meist übersehen zu werden.

§ 9. (Eine erhebliche Ursache der Irrthümer.) Diese falschen Verbindungen von Vorstellungen, die an sich nicht zu einander gehören und einander nicht bedingen, sind so einflussreich und können sowohl das moralische wie natürliche Handeln, die Leidenschaften, das Denken und selbst die Begriffe so verkehren, dass nicht leicht etwas Anderes grössere Aufmerksamkeit verdienen dürfte.

§ 10. (Beispiele.) Die Vorstellungen von Kobolden und Geistern haben an sich so wenig mit der[425] Dunkelheit wie mit dem Lichte zu thun; wenn aber eine thörichte Magd sie der Seele des Kindes oft einprägt und zusammen erweckt, so kann es vielleicht sein ganzes Leben lang sie nicht mehr trennen, und in der Dunkelheit werden immer jene schreckhaften Vorstellungen sich einfinden, die so verbunden sind, dass es weder die einen nach die andern ertragen kann.

§ 11. Jemand wird von einem Andern empfindlich beleidigt und denkt wieder und wieder an den Mann und die Handlung. Durch dieses Brüten über dieselben verbindet er beide Vorstellungen, so, dass sie beinah zu einer werden, und wenn er an den Mann denkt, so tritt auch der erlittene Schmerz wieder vor seine Seele; er unterscheidet sie kaum und verabscheut den einen wie den andern. So entsteht der Hass oft aus leichten und unschuldigen Anlässen; ebenso werden Streitigkeiten so fortgeführt und erweitert.

§ 12. Jemand hat an einem Orte an Schmerzen oder einer Krankheit gelitten; er sah seinen Freund in einem solchen Zimmer sterben. Obgleich diese Dinge in der Natur nichts mit einander zu thun haben, so erweckt die Vorstellung des Ortes (wenn der Eindruck einmal erfolgt ist) die des Schmerzes und Missvergnügens; er vermengt sie in seiner Seele und kann das eine so wenig wie das andere ertragen.

§ 13. (Weshalb die Zeit manche Störung in der Seele heilt, wo die Vernunft es nicht vermag.) Hat sich eine solche Verbindung befestigt, so kann die Vernunft, so lange jene währt, nicht helfen und sich von deren Einwirkung befreien; die Vorstellungen der Seele wecken einander, wenn sie entstehen, ihrer Natur und den Umständen gemäss. Hier zeigt sich der Grund, weshalb die Zeit manche Gemüthsbewegungen beseitigt, worüber die Vernunft trotz ihres anerkannten Rechtes dazu, keine Macht hat, und sie selbst bei Denen nicht überwinden kann, die in andern Fällen auf sie zu hören geneigt sind. Der Tod eines Kindes, an welches der Mutter Augen sich täglich erfreuten, und was die Lust ihrer Seele war, entzieht ihr allen Genuss des Lebens und stürzt sie in alle erdenkbaren Qualen. Man versucht es in solchem Falle mit den Tröstungen der Vernunft; aber man könnte ebenso gut Jemandem auf der[426] Folter predigen, und glauben mit Gründen der Vernunft seine Schmerzen lindern zu können, wenn ihm die Beine auseinander gerissen werden. So lange nicht die Zeit das Gefühl dieser Lust und ihres Verlustes von der in das Gedächtniss zurückkehrenden Vorstellung des Kindes dadurch, dass diese Verbindungen überhaupt in der Seele nicht mehr auftreten, getrennt hat, sind alle Vorhaltungen, selbst die vernünftigsten, vergebens. Deshalb verbringen Die, bei denen dieses Band zwischen beiden Vorstellungen sich niemals löst, ihr Leben in Trauer und tragen ihren unheilbaren Kummer bis in's Grab.

§ 14. (Fernere Beispiele von den Wirkungen der Verbindung von Vorstellungen.) Einer meiner Freunde kennt Jemand, der durch eine sehr harte und schmerzhafte Operation von seinem Irrsinn geheilt worden war. Der so hergestellte Mann erkannte während seines ganzen Lebens mit dankbarem und anerkennendem Gefühl diese Kur als die grösste Wohlthat, die ihm erzeigt worden; allein trotz aller Antriebe der Dankbarkeit und Vernunft konnte er niemals den Anblick des Wundarztes ertragen; sein Bild weckte in ihm die Erinnerung an die Qualen, die er unter seinen Händen erlitten hatte, und die so gross waren, dass er die Erinnerung daran nicht ertragen konnte.

§ 15. Viele Kinder schieben die in der Schule erlittenen Strafen auf die Bücher, wegen deren sie die Strafen bekommen hatten; es verbinden sich beide Vorstellungen so mit einander, dass jedes Buch sie anekelt und sie sich ihr ganzes Lebenlang nicht zum Studium und Gebrauch der Bücher entschliessen können. So wird das Lesen ihnen zur Qual, während es andernfalls ihnen das grösste Vergnügen gewährt haben würde. Manche Zimmer sind ganz bequem, und doch können manche Menschen darin nicht studiren; aus manchen Gläsern kann man nicht trinken, obgleich sie rein und gut zu gebrauchen sind; lediglich weil sich zufällig eine Vorstellung damit verknüpft hat, und sie dadurch unangenehm geworden sind. Wer hat nicht schon bemerkt, wie Manche bei dem Erscheinen einer gewissen Person oder in der Gesellschaft derselben sich verbeugen, obgleich sie nicht ihr Vorgesetzter ist; sondern weil sie nur einmal bei einer Gelegenheit ihre Ueberlegenheit erfahren[427] haben. Deshalb begleitet die Vorstellung der Autorität und Ueberlegenheit die Vorstellung der Person, und der einmal so Gedemüthigte kann sie nicht mehr trennen.

§ 16. Die Beispiele hierzu sind überall in solchem Maasse zu finden, dass, wenn ich hier noch Eines anführe, es nur seiner komischen Seltsamkeit halber geschieht. Es betrifft einen jungen Mann, der das Tanzen, und zwar sehr gut, in einem Zimmer gelernt hatte, worin ein alter Schrank sich befand; deshalb hatte sich die Vorstellung von diesem alten Möbel so mit den Wendungen und Bewegungen seines Tanzens verknüpft, dass er zwar in diesem Zimmer vortrefflich tanzen konnte, aber nur, so lange der Schrank darin stand; ebensowenig vermochte er es in einem andern Zimmer, ehe nicht ein ähnlicher Schrank hineingestellt worden war. Diese Geschichte hält man vielleicht für eine durch komische Umstände ausgeschmückte; allein ich versichere, dass ich sie vor einigen Jahren von einem rechtlichen und glaubhaften Manne mitgetheilt erhalten habe, der sie selbst so angesehen hatte, wie ich sie hier erzählt habe. Wahrscheinlich werden meine aufmerksamem Leser selbst Erzählungen gehört und Fälle erlebt haben, die dem obigen gleich Kommen und ihn bestätigen.

§ 17. (Ihr Einfluss auf geistige Angewöhnungen.) Gewisse Angewöhnungen und Fehler, die auf diesem Wege entstehen, sind nicht weniger häufig und mächtig, wenn gleich weniger bemerkt. Wenn die Vorstellungen von Dasein und Stoff durch Erziehung oder vieles Nachdenken eng verbunden werden, was wird man da, wenn solche Verbindung noch besteht, über blosse Geister denken? Wenn die Gewohnheit seit der Kinderzeit eine Gestalt und Form mit der Vorstellung Gottes verbunden hat, welchen Verkehrtheiten ist da nicht die Seele in Bezug auf die Gottheit ausgesetzt? Wenn die Vorstellung der Untrüglichkeit mit einer Person untrennbar verbunden ist, und beide vereint die Seele eingenommen haben, so muss dann der gleichzeitig an verschiedenen Orten befindliche Körper von einem unbedingt Gläubigen ungeprüft als eine unzweifelhafte Wahrheit verschluckt werden, im Fall die für untrüglich gehaltene Person es gebietet und die Beistimmung des Andern ohne Untersuchung verlangt.[428]

§ 18. (Man kann dies an mehreren Religionssekten bemerken.) Solche falsche und unnatürliche Verbindungen von Vorstellungen bilden den unversöhnlichen Gegensatz verschiedener philosophischer und religiöser Sekten; denn es lässt sich nicht denken, dass Jeder ihrer Anhänger sich freiwillig betrügen lassen und absichtlich die von der klaren Vernunft gebotene Wahrheit von sich stossen sollte. Der Eigennutz vermag zwar viel; aber er kann nicht ganze Gesellschaften zu einer so allgemeinen Verkehrheit bringen, dass sie Alle wie ein Mann den Irrthum wissentlich vertheidigen sollten; wenigstens einige müssten das wirklich thun, was Alle vorgeben, d.h. der Wahrheit aufrichtig nachgehen; deshalb muss etwas Anderes ihren Verstand blenden und den Irrthum dessen, was sie als reine Wahrheit festhalten, nicht sehen lassen. Das, was ihre Vernunft so gefangen hält und unbefangene Menschen von dem gesunden Verstände geradezu ableitet, zeigt sich bei Prüfung als das, wovon hier gesprochen worden ist; zwei selbstständige, in keiner Verbindung stehende Vorstellungen sind durch Erziehung, Gewohnheit und das stete Geklingel ihrer Partei in ihren Seelen so verknüpft worden, dass sie immer zusammen auftreten, für eine Vorstellung gelten und nicht getrennt werden können. Dies lässt sie Verstand in leerem Gerede, Beweise in Verkehrtheiten und Uebereinstimmung im Unsinn finden, und wird zur Grundlage der grössten, ich hätte beinah gesagt, aller Irrthümer in der Welt. Selbst wenn sie nicht so weit reicht, ist sie mindestens eine der gefährlichsten, weil sie, so weit sie wirkt, das Sehen und Prüfen verhindert. Wenn zwei an sich besondere Dinge dem Auge immer als verbunden erscheinen, und sie sich fest vernietet zeigen, obgleich sie getrennt sind, wie soll man da die Irrthümer berichtigen, die aus der so gewohnten Verbindung zweier Vorstellungen folgen, wo eine die andere vertritt, ohne dass die Personen selbst, wie ich glauben möchte, es bemerken? Unter dieser Täuschung werden sie der Ueberführung unfähig, und sie rühmen sich selbst, eifrige Kämpfer für Wahrheit zu sein, während sie in Wahrheit für den Irrthum fechten. Die Verschmelzung zweier Vorstellungen, welche durch die gewohnte Verbindung derselben in ihrer Seele zu einer einzigen geworden,[429] füllt ihre Köpfe mit falschen Auffassungen, und ihr Denken mit falschen Folgerungen.

§ 19. (Schluss.) Hiermit habe ich eine Darstellung von dem Ursprung, den Arten und dem Umfang der menschlichen Vorstellungen gegeben, und mancherlei Betrachtungen über diese (ich weiss nicht, ob ich sagen darf) Instrumente oder Stoffe unseres Wissens beigefügt. Das Verfahren, das ich mir vorgesetzt, verlangt nun, dass ich sofort zur Darlegung des Gebrauchs überginge, den der Verstand von den Vorstellungen macht, und welche Erkenntniss dadurch erlangt wird. Dies war auch anfänglich bei der Aufstellung des allgemeinen Plans mein Wille, und ich meinte, danach verfahren zu müssen; allein nachdem ich der Sache näher getreten bin, finde ich eine so enge Verknüpfung zwischen den Vorstellungen und Worten, und die Begriffe und allgemeinen Ausdrücke haben eine so stete Beziehung auf einander, dass man von der Erkenntniss, die lediglich im Sätzen besteht, nicht klar und deutlich handeln kann, wenn nicht zuvor die Natur, der Gebrauch und die Bedeutung der Sprache in Betracht genommen worden ist; dies soll daher die Aufgabe des nächsten Buches sein.


(Schluss des ersten Bandes.)[430]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 2, Berlin 1872.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
Versuch über den menschlichen Verstand: Theil 1

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