Zwanzigstes Kapitel.
Die Besonderungen der Lust und des Schmerzes

[241] § 1. (Lust und Schmerz sind einfache Vorstellungen.) Unter den durch Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangenen einfachen Vorstellungen gehören die der Lust und des Schmerzes zu den wichtigern. So wie bei dem Körper die Sinneswahrnehmung entweder rein für sich oder mit Schmerz oder Lust begleitet ist, so ist auch das Denken und Auffassen der Seele entweder rein oder es ist mit Lust oder Schmerz, Verzagen oder Sorge, oder wie man es sonst nennen mag, verbunden. Diese Zustände können, wie alle einfachen Vorstellungen, weder beschrieben noch definirt werden; man kann sie nur, wie die Sinneswahrnehmungen, durch eigene Erfahrung kennen lernen. Will man sie als die Gegenwart eines Gutes oder Hebels definiren, so kann man sie doch nur kennen lernen, wenn man auf die Gefühle in sich selbst achtet, die beiden verschiedenen Wirkungen der Güter und der Uebel in der Seele entstehen, je nachdem letztere auf uns eindringen oder von uns betrachtet werden.

§ 2. (Was ist ein Gut und ein Uebel?) Deshalb sind die Dinge nur gut oder übel durch ihre Beziehung auf Lust und Schmerz. Etwas heisst ein Gut, was die Lust in uns zu wecken oder zu steigern oder den Schmerz zu mindern oder uns sonst den Besitz eines andern Gutes oder die Entfernung eines Uebels zu verschaffen oder zu erhalten vermag. Umgekehrt nennt man das ein Uebel, was den Schmerz veranlasst oder steigert oder die Lust mindert oder uns ein anderes Hebel bereitet oder ein Gut entzieht. Unter Lust und Schmerz verstehe ich sowohl die des Körpers wie der Seele; man unterscheidet sie gewöhnlich, obgleich beide in Wahrheit nur verschiedene Zustände der Seele sind, welche bald durch eine Störung in dem Körper, bald durch die Gedanken der Seele veranlasst werden.

§ 3. (Unsere Leidenschaften werden durch das Gute und das Uebel erweckt.) Die Lust und der Schmerz und ihre Ursachen, das Gute und das Ueble,[241] sind die Angeln, um welche sich die Leidenschaften drehen. Man gewinnt die Vorstellungen derselben durch Selbstwahrnehmung und Beobachtung ihrer verschiedenen Wirksamkeit nach dem Wechsel der Umstände auf die Zustände und Stimmungen der Seele und die innern Empfindungen (wie ich sie nennen möchte), die sie veranlassen.

§ 4. (Liebe.) Wenn also Jemand auf die Gedanken achtet, die er von dem Vergnügen hat, welche ein gegenwärtiges oder abwesendes Ding ihm verursachen kann, so hat er die Vorstellung der Liebe. Denn wenn Jemand im Herbst beim Essen der Trauben oder im Frühjahr, wo es keine mehr giebt, sagt, dass er sie liebe, so heisst dies nur, dass der Geschmack der Trauben ihn erfreue. Wenn aber eine Störung seiner Gesundheit oder seines Körperzustandes dies Vergnügen an dem Geschmack der Trauben vernichtet, so kann man nicht mehr sagen, dass er die Trauben liebe.

§ 5. (Der Hass.) Umgekehrt ist der Gedanke an den Schmerz, den ein gegenwärtiges oder abwesendes Ding uns verursachen kann, das, was man Hass nennt. Wollte ich meine Untersuchung über die reinen Vorstellungen der Gefühle, de von den verschiedenen Besonderungen der Lust und des Schmerzes bedingt sind, ausdehnen, so müsste ich bemerken, dass die Liebe und der Hass in Bezug auf leblose Dinge sich meist auf die Lust und den Schmerz stützen, den ihr Gebrauch, ja selbst ihre Zerstörung den Sinnen gewährt; dagegen ist Hass und Liebe zu Wesen, die des Glücks oder Unglücks fähig sind, meist der Aerger oder das Vergnügen, was in uns aus der Betrachtung von deren Dasein und Glück entsteht. Wenn so das Dasein und die Wohlfahrt von Kindern und Freunden eine dauernde Freude gewährt, so nennt man dies die Liebe zu ihnen. Indess sind unsere Vorstellungen von Liebe und Hass nur Seelenzustände in Bezug auf Lust und Schmerz im Allgemeinen ohne Unterschied der Ursachen, aus denen sie in uns entstehen.

§ 6. (Das Verlangen.) Das Unbehagen, wenn Etwas nicht da ist, dessen Genuss sich mit der Vorstellung des Vergnügens verbindet, ist das Verlangen; es steigt und fällt, je nachdem dieses Unbehagen wächst oder abnimmt. Ich bemerke hier nebenbei, dass der hauptsächlichste,[242] wenn nicht alleinige Antrieb für den Fleiss und die Thätigkeit der Menschen dies Unbehagen sein dürfte. Wenn irgend ein Gut durch seine Abwesenheit keine Unannehmlichkeit oder Schmerzen veranlagst, vielmehr man auch ohne dasselbe sich behaglich und zufrieden fühlt, so entsteht kein Verlangen und keine Anstrengung danach; es besteht dann höchstens ein Wünschen, welches Wort den niedrigsten Grad des Verlangens bezeichnet, wo die Unannehmlichkeit über die Abwesenheit des Gegenstandes so gering ist, dass es nur zu jenen schwachen Wünschen treibt, ohne von den Mitteln zu seiner Erlangung einen wirklichen und kräftigen Gebrauch zu machen. Auch wird das Verlangen gehemmt oder gemindert, wenn das Gut für unmöglich oder unerreichbar gehalten wird, so weit nämlich das unangenehme Gefühl durch diese Rücksicht gemindert oder aufgehoben wird. Ich könnte noch weiter gehen, wenn hier der Ort dazu wäre.

§ 7. (Die Freude.) Die Freude ist ein Vergnügen der Seele, in Folge des Wissens, dass der Besitz eines Gutes erreicht, oder dessen baldige Erreichung sicher ist. Dieser Besitz ist dann vorhanden, wenn man das Gut so in der Gewalt hat, dass man davon beliebig Gebrauch machen kann. So wird der dem Hungertode nahe Mensch durch die Ankunft von Nahrung erfreut, wenn er auch noch nicht die Lust aus deren Verzehrung genossen hat, und ein Vater, dem das Wohl seiner Kinder Vergnügen macht, bleibt, so lange die Kinder sich in diesem Zustande befinden, in dem Besitz dieses Gutes; er braucht nur daran zu denken, um dieses Vergnügen zu empfinden.

§ 8. (Die Traurigkeit.) Die Traurigkeit ist ein Unbehagen der Seele, wenn sie an den Verlust eines Gutes denkt, das sie noch länger hätte gemessen können, oder wenn sie ein gegenwärtiges Uebel empfindet.

§ 9. (Die Hoffnung.) Die Hoffnung ist eine Lust der Seele, wenn sie an das kommende Vergnügen mit einem Gegenstande denkt, welcher dazu geschickt ist.

§ 10. (Die Furcht.) Die Furcht ist ein Unbehagen der Seele, wenn sie an den wahrscheinlichen Eintritt eines kommenden Uebels denkt.

§ 11. (Die Verzweiflung.) Die Verzweiflung ist[243] der Gedanke der Unerreichbarkeit eines Gutes, welcher verschieden auf die menschliche Seele wirkt, indem er bald Unbehagen und Schmerz, bald Ruhe und Gleichgültigkeit hervorbringt.

§ 12. (Der Zorn.) Der Zorn ist das Unbehagen oder Aussersichsein der Seele, wenn man einen Schaden erlitten und die Absicht, sich zu rächen, hat.

§13. (Der Neid.) Der Neid ist ein Unbehagen der Seele, welches durch die Betrachtung eines begehrten Guts veranlasst wird, das ein Anderer erlangt hat, welcher es nicht vor uns hätte erlangen sollen.

§ 14. (Die allen Menschen gemeinsamen Leidenschaften.) Diese beiden letzten Gefühle, der Neid und der Zorn, die nicht durch Schmerz oder Lust an sich veranlasst werden, sondern in sich die gemischte Betrachtung seiner selbst und Anderer enthalten, finden sich deshalb nicht bei allen Menschen, weil die andern Bedingungen, nämlich die Werthschätzung des eigenen Verdienstes und die beabsichtigte Sache bei ihnen fehlen; dagegen enden alle andern Gefühle rein in Schmerz oder Lust und finden sich deshalb bei allen Menschen. Man liebt, verlangt, erfreut sich und hofft nur in Bezug auf eine Lust; man hasst, fürchtet und sorgt sich schliesslich nur eines Schmerzes wegen; kurz alle diese Seelenzustände werden durch Dinge veranlasst, die sich entweder als Ursachen der Lust oder des Schmerzes zeigen, oder die in irgend einer Weise Lust oder Schmerz mit sich führen. So dehnt man meist den Hass auf den Gegenstand (wenigstens wenn es ein fühlendes und wollendes Wesen ist) aus, der uns den Schmerz verursacht hat, weil die Furcht, welche er hinterlässt, ein steter Schmerz ist. Dagegen liebt man nicht so dauernd dasjenige, was uns Gutes gethan hat, weil die Lust nicht so stark wie der Schmerz auf uns einwirkt und weil man nicht so bereitwillig hofft, es werde wieder so wirken. Doch bemerke ich dies nur nebenbei.

§ 15. (Was Lust und Schmerz ist.) Unter Lust und Schmerz, Vergnügen und Unbehagen meine ich (wie ich schon bemerkt habe) nicht blos den körperlichen Schmerz und die körperliche Lust, sondern jedes angenehme oder unangenehme Gefühl, mag es aus einer[244] willkommenen oder unwillkommenen Sinnes- oder Selbstwahrnehmung entstanden sein.

§ 16. Es ist ausserdem festzuhalten, dass in Beziehung auf diese Gefühle jede Entfernung oder Minderung eines Schmerzes als eine Lust gilt und wirkt und ebenso der Verlust oder die Minderung eines Vergnügens wie ein Schmerz.

§ 17. (Die Scham.) Die meisten Gefühle wirken ausserdem in der Regel mancherlei Veränderungen in dem Körper; da diese aber nicht immer wahrnehmbar sind, so bilden sie keinen wesentlichen Theil der Vorstellung des betreffenden Gefühls. So ist die Scham, welche ein Unbehagen der Seele in Folge des Gedankens ist, dass man etwas Unanständiges gethan habe, oder etwas, was die Achtung Anderer für uns mindern könnte, nicht immer mit einem Erröthen verbunden.

§ 18. (Diese Beispiele zeigen, dass Vorstellungen von den Gefühlen durch Sinnes oder Selbstwahrnehmung erlangt werden.) Ich möchte nicht, dass man das Vorstehende als eine Abhandlung über die Gefühlszustände ansähe, da deren mehr sind, als ich hier genannt habe, und jede der genannten eine ausführlichere und genauere Untersuchung verlangen dürfte. Ich habe sie hier nur als Beispiele von den verschiedenen Besonderungen der Lust und des Schmerzes angeführt, die aus der verschiedenen Betrachtung von Gütern und Hebeln hervorgehen. Ich hätte vielleicht einfachere Besonderungen von Lust und Schmerz, als die genannten, aufstellen können; so den Schmerz des Hungers und Durstes und die Lust des Essens und Trinkens bei Entfernung jener; den Schmerz empfindlicher Augen und die Lust aus der Musik; den Schmerz aus verfänglichem und nutzlosem Gezanke und die Lust einer vernünftigen Unterhaltung mit einem Freunde oder aus einem gut geleiteten Studium behufs Aufsuchung und Entdeckung der Wahrheit. Indessen sind jene leidenschaftlichen Zustände von höherem Interesse, und ich habe deshalb meine Beispiele ihnen entnommen und gezeigt, wie die Vorstellungen derselben sich aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung ableiten.[245]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 241-246.
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Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
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