I. Lehrsatz. Nichts wird aus Nichts

[33] Nichts kann je aus dem Nichts entstehn durch göttliche Schöpfung.

Denn nur darum beherrschet die Furcht die Sterblichen alle,

Weil sie am Himmel und hier auf Erden gar vieles geschehen

Sehen, von dem sie den Grund durchaus nicht zu fassen vermögen.

Darum schreiben sie solches Geschehn wohl der göttlichen Macht zu.

Haben wir also gesehen, daß nichts aus dem Nichts wild geschaffen,

Dann wird richtiger auch die Folgerung draus sich ergeben,

Woraus füglich ein jegliches Ding zu entstehen im Stand ist

Und wie alles sich bildet auch ohne die Hilfe der Götter.[33]

Gäb' es Entstehung aus Nichts, dann könnt' aus allem ja alles

Ohne weitres entstehen und nichts bedürfte des Samens.

So könnt' erstlich der Mensch aus dem Meer auftauchen, der Fische

Schuppiges Volk aus der Erde, die Vögel dem Himmel entfliegen,

Herdengetier und anderes Vieh wie die wilden Geschöpfe

Füllten beliebig entstanden das Fruchtland an wie das Ödland.

Auch auf den Bäumen erwüchsen nicht immer dieselbigen Früchte,

Sondern das änderte sich, kurz, alles erzeugte da alles.

Hätte fürwahr nicht jegliches Ding ureigene Keime,

Wie nur könnte für alles ein sicherer Ursprung bestehen?

Doch weil jegliches jetzt aus bestimmten Samen sich bildet,

Tritt es nur dort an den Tag und dringt zu den Räumen des Lichtes,

Wo sich der Mutterstoff und die Urelemente befinden.

Dadurch wird es unmöglich, daß alles aus allem entstehe,

Weil in besonderen Stoffen tut jedes gesondert die Kraft ruht.

Weshalb sehen wir ferner im Lenze die Rosen erblühen,

Sommerhitze das Korn und den Herbst die Trauben uns spenden?

Doch wohl, weil zu der richtigen Zeit sich die Samen der Dinge

Gatten und alles, was dann aus ihnen sich bildet, zu Tag tritt,

Wenn auch die Witterung hilft und die lebenspendende Erde

Sicher das zarte Gewächs in die Räume des Lichtes emporführt.

Kämen aus Nichts sie hervor, dann würden sie plötzlich entstehen

Ohne bestimmten Termin auch in anderen Zeiten des Jahres.

Denn dann gäb' es ja keine befruchtenden Urelemente,

Welche mißgünstige Zeit an der Zeugung könnte verhindern.

Auch für das Wachstum wären befruchtende Zeiten nicht nötig,

Wenn aus dem Nichts hervor die Dinge zu wachsen vermöchten.

Denn dann würden sofort aus Säuglingen Jünglinge werden

Und mit urplötzlichem Schuß entwüchsen die Bäume dem Boden.

Aber dergleichen entsteht doch nichts: man sieht es ja deutlich;

Wie es sich schickt, wächst jedes gemach aus besonderem Keime.

Und so wahrt es die eigene Art auch im weiteren Wachsen.

Also man sieht: aus besonderem Stoff mehrt jedes und nährt sich.

Hierzu kommt, daß ohne geregelten Regen im Jahre

Keinerlei labende Frucht uns die Erde vermöchte zu spenden;

Fehlt dann das Futter, so könnten natürlich hinfort die Geschöpfe

Weder die Art fortpflanzen noch selbst ihr Leben nur fristen.

Drum ist's glaublicher, daß gar vielerlei Stoffelemente

Vielerlei Dingen gemeinsam sind, wie die Lettern den Wörtern,

Als daß irgendein Wesen der Urelemente beraubt sei.[34]

Schließlich warum hat Mutter Natur nicht Riesen erschaffen,

Die wohl über das Meer mit den Füßen zu schreiten vermöchten,

Die mit den riesigen Händen die mächtigen Berge zerspellten

Und jahrhundertelang ihr leibliches Leben erstreckten,

Läge nicht für die Entstehung der Wesen jedwedem bestimmter

Urstoff vor, aus dem sich ergibt, was wirklich entstehn kann?

Also: Nichts entsteht aus dem Nichts. Dies ist nicht zu leugnen.

Denn es bedarf doch des Samens ein jegliches Ding zur Entstehung,

Wenn es hervorgehn soll in des Luftreichs dünne Gefilde.

Endlich sehen wir doch, wie bebautes Gelände den Vorzug

Hat vor dem wüsten und bessere Frucht dort erntet der Pflüger.

Siehe, der Erdenschoß birgt offenbar Urelemente,

Die wir zum Licht befördern, so oft wir die fruchtbaren Schollen

Wenden und pflügend die Schar den Boden der Erde durchfurchet.

Wären sie nicht, dann wären umsonst all' unsere Mühen;

Denn dann sähe man alles von selbst viel besser gedeihen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 33-35.
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