Willensfreiheit

[68] Endlich, wenn immer sich schließt die Kette der ganzen Bewegung

Und an den früheren Ring sich der neue unweigerlich anreiht,

Wenn die Atome nicht weichen vom Lote und dadurch bewirken

Jener Bewegung Beginn, die des Schicksals Bande zertrümmert,

Das sonst lückenlos schließt die unendliche Ursachenkette:

Woher, frag ich dich, stammt die Freiheit der Willensbestimmung,

Die uns lebenden Wesen auf Erden hier überall zusteht,

Und die jedem zu gehen gestattet, wohin er nur Lust hat,

Die uns Bewegungsändrung erlaubt und weder dem Orte

Noch auch der Zeit nach beschränkt ist, vielmehr dem Verstand es anheimstellt?[68]

Denn unzweifelhaft bietet zu diesen Dingen den Anstoß

Jedem sein eigener Wille, ihm folgt die Bewegung der Glieder.

Siehst du nicht auch, daß, sobald sich die Schranken gesenkt in der Rennbahn,

Nicht sofort im Moment der gewaltige Eifer der Rosse

Vorwärts zu stürmen vermag so schnell, wie sie selber wohl möchten?

Denn erst muß die Erregung die Masse des Stoffes erfassen

In dem Ganzen des Körpers, damit die erregten Gelenke

Sämtlich dem Drange des Geistes mithelfend zu folgen vermögen.

Daraus kannst du ersehn, daß vom Herzen aus gehe der Anstoß,

Daß aus dem Willen des Geistes zuerst er entspringe und dann erst

Weiter und weiter sich leite durch sämtliche Glieder des Leibes.

Ganz verschieden davon ist der Anstoß, den wir zum Gehen

Durch die Übergewalt und den Machtzwang andrer erleiden.

Denn hier wird offenbar die vereinigte Masse des Körpers

Unserem Willen entgegen zum Fortgehn weiter gerissen,

Bis sie dann wieder dem Willen gehorcht, der die Glieder zurücklenkt.

Siehst du nunmehr, daß, ob viele sich auch durch äußeren Einfluß

Treiben und nötigen lassen zu unfreiwilligem Fortgehn

Und zu haltlosem Stürzen, doch immer in unserem Busen

Etwas bleibt, was dagegen sich sträubt und das Fremde zurückweist?

Seinem entscheidenden Willen gelingt's, die Massen des Stoffes

Jeweils dazu zu zwingen, die Glieder des Leibes zu beugen,

Ihrem Sturze zu steuern und rückwärts Ruhe zu finden.

Ebenso mußt du daher auch bei den Atomen gestehen,

Daß noch ein anderer Grund zur Bewegung, außer den Stößen

Und dem Gewichte, besteht, woraus die uns eigene Kraft stammt.

Denn aus Nichts kann nie (dies sehen wir) Etwas entstehen.

Nämlich die Schwere verhindert, daß alles durch Stöße bewirkt wird

Gleichsam durch äußre Gewalt; doch daß den Geist in uns selber

Nicht ein innerer Zwang bei allen Geschäften behindert,

Und er als Opferlamm nicht zum Dulden und Leiden verdammt ist,

Dies ist der Lotabweichung der Urelemente zu danken,

Die, so klein sie auch ist, durch den Ort und die Zeit nicht beschränkt wird.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 68-69.
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