Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander.

[164] 1. Die Vorstellungen passen sich den Tatsachen allmählich so an, daß sie ein den biologischen Bedürfnissen entsprechendes, hinreichend genaues Abbild der ersteren darstellen. Natürlich reicht die Genauigkeit der Anpassung nicht weiter als die augenblicklichen Interessen und Umstände es forderten, unter welchen dieselbe stattfand. Da aber diese Interessen und Umstände von Fall zu Fall wechseln, so stimmen die Anpassungsergebnisse verschiedener Fälle nicht genau untereinander überein. Das biologische Interesse treibt nun wieder zur Korrektur verschiedener Abbildungsergebnisse durch einander, zu dem bestmöglichen, vorteilhaftesten Ausgleich der Abweichungen. Diese Forderung wird erfüllt durch Vereinigung des Prinzips der Permanenz mit jenem der zureichenden Differenzierung der Vorstellungen. Die beiden Prozesse, der Anpassung der Vorstellungen an die Tatsachen und der Anpassung der ersteren aneinander, lassen sich in Wirklichkeit nicht scharf trennen. Werden die ersten Sinneseindrücke schon durch die angeborene und temporäre Stimmung des Organismus mit bestimmt, so erscheinen die späteren Sinneseindrücke schon durch die früheren beeinflußt. So ist also fast immer der erste Prozeß schon durch den zweiten kompliziert. Diese Prozesse vollziehen sich zuerst ohne Absicht und ohne klares Bewußtsein. Wir finden ja, wenn wir zu vollem Bewußtsein erwachen, schon ein recht reiches Weltbild in uns vor. Später aber zeigt sich ein ganz allmählicher Übergang zu klar bewußter und absichtlicher Fortsetzung der beiden Prozesse, und sobald dieser eingetreten ist, beginnt eben die Forschung. Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, wie wir jetzt besser sagen wollen, bezeichnen wir als [164] Beobachtung, die Anpassung der Gedanken aneinander aber als Theorie. Auch Beobachtung und Theorie sind nicht scharf zu trennen, denn fast jede Beobachtung ist schon durch die Theorie beeinflußt und äußert bei genügender Wichtigkeit anderseits ihre Rückwirkung auf die Theorie. Wir wollen nun Beispiele solcher Prozesse betrachten.

2. Wir haben uns nicht darum bemüht zu erfahren, daß Milch und Brot gut schmecken und unseren Hunger stillen, daß der Stoß schwerer harter Körper schmerzt, daß die Flamme brennt, daß das Wasser abwärts fließt, daß nach dem Blitz der Donner folgt u.s.w. Der Leib und seine Umgebung haben diese Vorstellungsanpassung zu stände gebracht. Die Anpassungen vollziehen sich fast von selbst im unmittelbaren eigenen biologischen Interesse des Individuums. Die Sache ändert sich aber, sobald das Interesse der Gedankenanpassung nur ein mittelbares ist und durch Mitteilbarkeit des Ergebnisses auch der Allgemeinheit zu gute kommen, also sprachlichen Ausdruck finden soll. Hier wird das psychische Leben viel mehr in Anspruch genommen. Die neue Tatsache muß mit vielen anderen Fällen verglichen, die Übereinstimmungen und Unterschiede müssen beachtet, und die bereits bekannten und benannten Elemente, aus welchen die neue Tatsache zusammengesetzt gedacht werden kann, müssen aufgesucht werden. Nur eine im Dienste des Lebens gekräftigte, psychische Tätigkeit läßt mittelbare Interessen von der nötigen Stärke aufkommen und vermag auch deren Antrieben zu genügen. Wir lernen als Kinder Flüssigkeiten durch ein Rohr aufsaugen, ohne zu wissen wie, ohne auch nur darum zu fragen, ohne es mitteilen zu können. Man erwäge nun, welche Entwicklung dazu gehört, sich auf dem Umwege einer Pumpe Wasser zu verschaffen. Wie stark muß das indirekte Interesse sein, damit unter Herrschaft desselben die Phantasie durch passende Auslese der Erinnerungen das Vorbild zur Konstruktion der Pumpe schafft. Was muß alles verglichen worden sein, um endlich sagen zu können: das Wasser folgt trotz seines Gewichtes, durch die »Scheu vor dem leeren Raum«, dem sich erhebenden Pumpenkolben. Für die ersten Stufen der Anpassung genügt oft eine neue Kombination anschaulicher Erinnerungsvorstellungen durch die Phantasietätigkeit.[165] Man denke an die »Anziehung und Abstoßung« der Magnete, an das »Ausschleudern« der Lichtteilchen, an die gegenwärtig wieder auflebende, in sich geschlossene magnetische Strömung Eulers, an den »Wärmestoff«, der aus dem wärmeren in den kälteren Körper »überfließt«, wie das Wasser aus einem nassen Schwamm in den trockenen, ja selbst an die Ampèresche »Schwimmerregel«. Die weitere Anpassung erfordert aber abstrakte begriffliche Operationen, die Betrachtung ganzer Klassen von Tatsachen, bezw. der für dieselben charakteristischen Reaktionen. Hierher haben wir zu zählen Galileis Erkenntnis der Fallbewegung als einer »gleichförmig beschleunigten« Bewegung, Keplers Nachweis der »geradlinigen« Ausbreitung des Lichtes und des zugehörigen Intensitätsgesetzes, Blacks Konstruktion des Begriffes der »Wärmemenge«, Coulombs Aufstellung des Gesetzes der »verkehrt quadratischen« Wirkung der Elektrizität.

3. Betrachten wir nun den Konflikt der Gedanken untereinander und das Ergebnis desselben, deren Anpassung aneinander, in einfachen Beispielen. Oft geschieht es, daß ein sinnliches Erlebnis verschiedene Erinnerungen weckt, welche teils übereinstimmend zum Handeln in demselben Sinne hindrängen, teils widerstreitend sich gegenseitig paralysieren. In dieser Lage befindet sich z.B. ein Fuchs, der ein zappelndes Beutetier erblickt, zugleich aber die Nähe des Jägers wittert, oder Anzeichen einer Falle vermutet, welche ihn an schlimme Erlebnisse mahnt. Erkennt er den vermeintlichen Jäger als einen harmlosen Knaben ohne Waffen und Hund, oder die vermeintliche Falle als Gestrüpp, in welches sich das Tier zufällig verwickelt hat, so ist er von dem Konflikt befreit. Vor jeder Unternehmung, die teils günstige, teils ungünstige Aussichten bietet, werden wir durch die widerstreitenden Gedanken in eine mehr oder minder quälende Spannung versetzt, die erst weicht, wenn wir die Befürchtungen oder die Hoffnungen als eitel, und in den Umständen nicht begründet erkannt, uns demgemäß zu der Unternehmung entschlossen oder dieselbe aufgegeben haben. Wir fühlen dann im Gegensatz zur früheren Qual eine angenehme Befreiung vom Druck. Im Dienste des Lebens passen sich die Gedanken den Tatsachen an, im Dienste des Lebens setzen sich die Gedanken auch untereinander ins Gleichgewicht. Ist das Denken im Dienste[166] des Lebens schon genügend erstarkt, so ist Nichtübereinstimmung der Gedanken an sich schon eine Qual, und die Lösung des Konfliktes wird schon zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens angestrebt, selbst wenn auch gar kein praktisches Interesse mehr auf dem Spiel steht.

4. Ein junger Wilder hat einen Korb mit Früchten zugleich mit einem Brief zu überbringen, verzehrt unterwegs einen Teil der ersteren und ist erstaunt, daß der Brief dies verraten konnte. Ein zweites Mal legt er den Brief unter einen Stein, um den »Verräter« an der Beobachtung zu verhindern, muß aber auch diesmal erkennen, daß er vor dem »Zauberer« nicht gehörig auf der Hut war. Erst nachdem er zählen und die Zahl etwa durch Striche bezeichnen gelernt, hat er endlich eine ungefähr zutreffende Vorstellung davon gewonnen, auf welche Weise ihn der Brief verraten konnte. So wird also, sozusagen, in der Gesellschaft der Erinnerungen die ursprüngliche Vorstellung des Briefes so lange umgebildet, bis sie sich mit denselben verträgt. – Wir sehen zum erstenmal einen schief ins Wasser getauchten Stab geknickt. Aber wir haben beim Eintauchen ins Wasser keinen Widerstand empfunden; der herausgezogene Stab ist auch wieder gerade, was er doch von selbst nicht werden konnte, wenn er einmal geknickt war. So lassen wir die Knickung als minderwertigen Schein oder Täuschung gegenüber den untereinander besser übereinstimmenden Vorstellungen von höherer Autorität unbeachtet. Allein das Nichtbeachten eines praktisch unwichtigen Erlebnisses mag wohl praktischen Zwecken genügen, dem wissenschaftlichen Standpunkt, für welchen jede Tatsache unter Umständen Bedeutung gewinnen kann, entspricht es gewiß nicht. Diesem genügen wir erst, wenn wir das gerade und das geknickte optische Bild in gleicher Weise als durch die Umstände der Lichtfortpflanzung bestimmt erkennen.

5. Die Gedankenanpassungen, die das Individuum nur im eigenen Interesse vornimmt, können unter Mitwirkung der Sprache stattfinden, sind aber nicht ausschließlich an dieselbe gebunden. Dagegen muß das Ergebnis der Gedankenanpassung, welches der Allgemeinheit förderlich sein soll, notwendig sprachlichen Ausdruck finden in Begriffen und Urteilen, womit alle Vorteile aber auch alle Nachteile dieser Form wirksam werden. Dies gilt[167] insbesondere von allen wissenschaftlichen Anpassungsprozessen. Dieselben werden also in diesem Falle in der Korrektur zum Ausdruck kommen, welche Gruppen von Begriffen und Urteilen durch andere Gruppen von Begriffen und Urteilen erfahren.

6. Die Beunruhigung des Vorstellungslebens durch Widerstreit treibt sichtlich die Eleaten zu ihren philosophischen Versuchen. Allerdings suchen sie die Lösung in einer für uns wunderlichen Weise darin, daß sie der in der Sprache verkörperten Einheit der Auffassung die Alleinherrschaft zugestehen und ihr zuliebe den Sinnen mit ihren Unterscheidungen jedes Recht mitzureden entziehen. Mag man aber diese primitiven Versuche wie immer ansehen, so wird man doch zugeben, daß die durch dieselben angeregten Debatten die Aufmerksamkeit auf das eigene Denken und Sprechen gelenkt, die Fertigkeit und Bestimmtheit des Denkens und Sprechens erhöht und durch das Gefühl der Befreiung bei wirklichen oder vermeintlichen Lösungen die Freude am Denken kennen gelehrt haben. Das Vergnügen der Überlegenheit gegenüber weniger Geübten darf als treibende Kraft auch nicht unterschätzt werden. Denn, wenn Zeno von Elea auch vor allem gewiß die Unerschöpflichkeit des von den Sinnen vorgespiegelten Kontinuums durch diskretes Zählen unangenehm gefühlt hat, worin ja die eigentliche Schwierigkeit besteht, so dürfen wir in seinem »Achilles« mit der unendlichen geometrischen Progression, die bis zu dem Punkte und Momente des Einholens in seiner Weise eben nicht zu Ende gedacht werden kann, doch auch das Werk eines Schlaukopfes sehen, der sich seiner Überlegenheit freut. Die von den Eleaten angeregten Sophisten im schlimmen Sinne,221 die sich die Aufgabe stellten, »die schlechtere Sache zur besseren zu machen«, die Eristiker mit ihren Trugschlüssen, welche jede Meinung zu vertreten sich getrauten, wenn sie auch zunächst auf ihren Vorteil bedacht waren, förderten doch indirekt die Kritik des Denkens und der Sprache. Wenn uns heute Trugschlüsse, wie sie in Platons »Euthydemos« oder »Gorgias« Sophisten in den Mund gelegt werden, nur mehr fade und abgeschmackt erscheinen, wenn wir überwitzige Schlußweisen wie den »Lügner«, den »Verhüllten«,[168] das »Krokodil«, den »Gehörnten« uns nicht mehr den Kopf zerbrechen, wenn der Prozeß des Sophisten Protagoras gegen seinen Schüler Eualthus (Aulus Gellius, Attische Nächte, V, 10) den modernen Juristen weniger Schwierigkeiten bereiten würde als den antiken, so verdanken wir dies dem Umstand, daß solche Schwierigkeiten eben schon von unseren Vorfahren erledigt worden sind. Wir sehen hieraus, »ein wie großer Abstand zwischen der Reflexion in ihrem Kindesalter und der gereifteren ist; und wir können uns Glück wünschen, daß wir durch letztere in den Stand gesetzt worden sind, uns, indem wir diese Schlüsse und was einen verwandten Charakter an sich trägt, rasch zur Seite schieben, mit unsern Forschungen wichtigeren und fruchtbareren Problemen zuzuwenden«.222 Wir dürfen aber nicht undankbar vergessen, daß neben dieser indirekten Förderung des Denkens durch dessen Mißbrauch, viele griechische Philosophen die wahre Methode der Anpassung der Gedanken aneinander, die Korrektur schwächer begründeter durch stärker begründete Gedanken, durch den geometrischen Beweis an einem einfachen und soliden Stoff entwickelt und dadurch einen unvergänglichen intellektuellen Besitz geschaffen haben. Das Ergebnis dieser Bemühungen, Euklids »Elemente«, sind noch heute in logischer Beziehung mustergültig.

7. Die mittelalterliche Scholastik war in Bezug auf die Forschung fast vollkommen steril. Um aber ihre Ansichten mit den Dogmen der Kirche und mit den Aussprüchen des Leibphilosophen derselben (Aristoteles) in Übereinstimmung zu bringen, hat sie die antike Dialektik ausgebildet und verwertet. Je geringer das sachliche Material war, desto mehr mußte man darauf bedacht sein, alles, was ein für richtig geltender Satz enthalten konnte, herauszupressen. Was durch diese Methode zum Vorschein kam, war ja größtenteils eine recht wenig nahrhafte, papierne Kost, die der heutige Naturforscher schon in der Verdünnung schwer verträgt, in welcher sie bei Kepler, Grimaldi, [169] Kircher u. a. geboten wird. Die Schulung in der Ausnutzung eines Gedankens durch Übung dieser Methode darf aber nicht unterschätzt werden; dieselbe wird auch sichtbar, sobald sich ein wirklicher Forschungsstoff darbietet. Ich meine damit natürlich nicht, daß eine gütige Gottheit mit Vorbedacht die Scholastik vor den Beginn der Naturforschung gesetzt hat. War aber die Scholastik einmal da, so mußte sie ihre guten und schlimmen Wirkungen ausüben. Die letzteren hat sie leider durch Jahrhunderte ausgeübt, bis endlich Ereignisse eintraten, nach welchen sie nur mehr für künstlich geblendete Menschen ein Scheinleben fortführen konnte.223

8. Ein kräftiges Vorstellungsleben wird sich, auch wenn keine ernsten Aufgaben vorliegen, leicht spielend betätigen und eben durch dieses Spiel für den Ernstfall weiter entwickeln und stärken. Ich glaube, daß beide hier berührten Auffassungen des Spiels berechtigt sind, während gewöhnlich nur die eine oder die andere Seite betont wird.224 Betrachten wir als Beispiel die intellektuellen Spielaufgaben aus dem »Thaumaturgus mathematicus« (Coloniae 1651). Das Buch ist in der Zeit des Aufschwungs der naturwissenschaftlichen Forschung gedruckt und[170] trägt die Spuren antiken, scholastischen und modernen Denkens deutlich an sich. Die 13. Aufgabe verlangt die Wägung des Rauches eines verbrennenden Gegenstandes. Die Auflösung besteht in der Wägung des Gegenstandes und der zurückbleibenden Asche; die Differenz beider sei das Gewicht des Rauches. Aufgabe und Lösung sind zweifellos antik, denn nach Lucians Bericht hat der Cyniker Demonax diese ihm vorgelegte Vexierfrage in der bezeichneten Weise beantwortet. Obgleich wir wissen, daß die Lösung falsch ist, so zeigt sich in derselben doch deutlich das Gefühl für die allgemeinere Erfahrung, die wir heute als Prinzip der Erhaltung der Masse aussprechen, und das Bedürfnis, die Einzelgedanken mit diesem wichtigeren in Einklang zu bringen, sie demselben anzupassen.225 – Einige Aufgaben sind solche, daß die Lösung derselben durch Experimentieren in Gedanken gefunden werden muß. Dieser Art ist z.B. die 15. Aufgabe von dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf, welche über den Fluß gesetzt werden sollen, während der Nachen nur für eines Platz bietet, und mit der Bedingung, daß unterdessen keines das andere verzehrt. Man beginnt natürlich mit dem Transport der Ziege, und das übrige ergibt sich von selbst. – Verwandt ist die vorausgehende 14. Aufgabe: Drei Herren mit ihren drei Sklaven zu übersetzen. Die Schwierigkeit bildet der Umstand, daß der Nachen nur 2 Personen faßt, während doch nach antiker Sitte »Dominorum quisque suum amat servum.« – Eine schöne durch das Gedankenexperiment lösbare zahlentheoretische Aufgabe ist die 9. Drei Gefäße von 3, 5 und 8 Maßeinheiten sind gegeben, die ersten beiden leer, das letztere mit Flüssigkeit gefüllt, welche mit deren Hilfe allein in 2 gleiche Teile geteilt werden soll. Die Lösung fordert nur eine lebhafte Phantasie und ist nur durch die Unbestimmtheit des Beginns der Operationen etwas erschwert. – Eigentümlich ist die 29. Aufgabe: Einen Menschen zugleich aufrecht und verkehrt zu stellen. Das ist scheinbar unmöglich, solange man, wie die Antipodenleugner, unter »aufrecht« eine absolute Richtung versteht. Wandelt man aber diesen Begriff in einen relativen um, so löst[171] ein im Mittelpunkt der Erde stehender Mensch die Aufgabe.226 – Eine reizende Denkprobe ist die 49. Aufgabe. Rings um die Erde wird eine ganz gleichmäßige Brücke gebaut, von welcher nachher gleichzeitig alle Stützen weggenommen werden. Was geschieht dann? »Si praxis tam exacta accesserit quam speculatio est certa«, müßte die Brücke, als in sich geschlossenes Gewölbe, schweben bleiben, denn kein Teil kann eher fallen als der andere. Alle Vorstellungen werden hier dem allgemeineren Gedanken angepaßt, daß jeder Vorgang durch die Umstände eindeutig bestimmt ist. Man bemerkt, daß der Saturnusring eine solche Brücke vorstellen könnte. Es ist aber hierbei auf das verkehrt quadratische Gesetz der Gravitation und das dadurch bedingte labile Gleichgewicht eines starren schwebenden Ringes natürlich noch keine Rücksicht genommen. Der wirkliche Saturnusring kann nur bestehen, wenn er aus isolierten kreisenden Massen sich zusammensetzt. Auch die folgenden Aufgaben dienen noch dazu, den Satz der zureichenden Bestimmtheit oder des zureichenden Grundes fühlbar zu machen. So wird in 53 ausgeführt, daß ein vollkommen gleichmäßiger kreisförmiger Spinnenfaden durch die gleichmäßig ausgeübten Kräfte aller »Engel und Menschen« nicht gesprengt werden könnte. – S. 230 wird die Frage gestellt, ob es 2 Menschen gibt, welche eine genau gleiche Zahl von Kopfhaaren aufweisen? Die Frage scheint zunächst unbeantwortbar. Dieselbe wird aber benützt, um den Wert der Ordnung und Übersicht der Vorstellungen, kurz den Wert der Mathematik fühlbar zu machen. Ist man nämlich darüber klar geworden, daß die Zahl der Menschen zweifellos viel größer ist als das Maximum der Haarzahl n eines Kopfes, so stelle man die ersten n Menschen, die größtmöglichste Verschiedenheit voraussetzend, nach der Haarzahl von l bis n fortschreitend in eine Reihe. Dann muß man den (n + 1)ten, (n + 2)ten u.s.f. schon auf einem der n besetzten Plätze unterbringen.

9. An diesen Beispielen sei es genug. Wir sehen, daß die Menschen des 17. Jahrhunderts nach der Denkfähigkeit und[172] Denkübung, welche sich in deren intellektuellen Spielen äußert, für große naturwissenschaftliche Entdeckungen wohl gerüstet waren. Die Methode des Gedankenexperiments, die Anpassung der Einzelvorstellungen an allgemeinere durch die Erfahrung und das Streben nach Übereinstimmung entwickelte Denkgewohnheiten (Beständigkeit, eindeutige Bestimmtheit), die Ordnung der Vorstellungen in Reihen, werden in diesen Spielen geübt, und dieselben stellen gerade diejenigen Tätigkeiten vor, welche die Naturforschung am meisten fördern.

10. Wenden wir uns nun zu Beispielen der Anpassung der Gedanken aneinander, wie sie im Verlauf der Entwicklung der Wissenschaft wirklich stattgefunden hat und von ernster Bedeutung gewesen ist. Stevin sucht den Wert einer auf der schiefen Ebene liegenden Last als Zug längs der Länge der schiefen Ebene. Er nimmt denjenigen Wert als richtig an, bei dessen Geltung eine geschlossene, um die schiefe Ebene gelegte gleichmäßige Kette in Ruhe bleibt, was aus der täglichen Erfahrung bekannt ist. Er paßt den weniger sicheren Gedanken dem sicher begründeten an. – Galilei findet bei Beginn seiner Forschungen noch die überlieferte Vorstellung einer allmählich abnehmenden »vis impressa« des geschleuderten Körpers vor, welche auch ein natürlicher Ausdruck der täglichen Erfahrung ist. Seine Untersuchungen lehren ihn die gleichförmig beschleunigte Fallbewegung und die gleichförmig verzögerte Steigebewegung in vertikaler und gegen den Horizont schiefer Richtung kennen. Zugleich hat er sich, insbesondere bei Pendelversuchen, gewöhnt, die Widerstände als die Geschwindigkeit vermindernd, als verzögernd aufzufassen. Indem ihm nun die gleichförmige Horizontalbewegung als spezieller Fall einer gleichförmig beschleunigten oder verzögerten Bewegung mit der Beschleunigung oder Verzögerung Null entgegentritt, wird die abnehmende vis impressa überflüssig und verwirrend und muß der überall passenden Trägheitsvorstellung weichen.227 – Die Newtonschen »Prinzipien« beginnen[173] mit acht Definitionen (der Masse, der Bewegungsquantität, des Trägheitswiderstandes, der Zentralkraft u.s.w.) und mit drei Bewegungsgesetzen, sowie den aus diesen gezogenen Folgesätzen. Diese Aufstellungen sind aus der Erfahrung abstrahiert oder dieser angepaßt und tragen auch sehenden Stempel der Anpassung aneinander. Die letztere ist jedoch nicht zu Ende geführt, denn es befinden sich unter den Aufstellungen überflüssige. Zur vollen Würdigung dieser Aufstellungen muß man in Betracht ziehen, daß sie in der Zeit der Entwicklung der Statik zur Dynamik entstanden sind, und daher eine doppelte Auffassung der Kraft (einerseits als Zug oder Druck, anderseits als beschleunigungsbestimmenden Umstand) enthalten. Die Fassung des 2. und 3. Gesetzes ist nur auf diese Weise verständlich. Geht man, die Statik als Spezialfall der Dynamik betrachtend, von der Tatsache aus, daß die Körper paarweise aneinander Gegenbeschleunigungen bestimmen, welche Paare voneinander unabhängig sind, definiert man das Massenverhältnis dynamisch durch das umgekehrte Beschleunigungsverhältnis, und fügt die[174] Erfahrung hinzu, daß die Massenverhältnisse dieselben bleiben, ob sie direkt oder mittelbar gewonnen werden, so läßt sich hierauf die ganze Dynamik gründen. Hierbei reduziert sich Lex II auf die Tatsache der gegenseitigen Beschleunigung der Körper, bezw. auf eine willkürliche Maßdefinition, Lex I wird ein Spezialfall von Lex II und Lex III wird ganz überflüssig.228 Die Newtonschen Aufstellungen stimmen natürlich vollkommen untereinander, das Pleonastische dieser Aufstellungen äußert sich jedoch darin, daß aus einigen derselben andere abgeleitet werden können.229 Black hatte bereits auf Grund der Wärmestoffvorstellung den Begriff Wärmemenge konstruiert und die Vorstellung der konstanten Wärmemengensumme gewonnen; es war ihm auch bekannt, daß von einem wärmeren Körper auf den denselben berührenden kälteren Wärmemenge übergeht, wodurch die Temperatur des ersteren sinkt, die des letzteren steigt. Nun bot sich ihm die Beobachtung, daß die Temperatur schmelzender und siedender Körper durch Berührung mit der viel heißeren Flamme nicht gesteigert wird, solange das Schmelzen oder Sieden währt. Die Konstanz der Wärmemengensumme kann nun zugleich mit dem Verschwinden von Wärmemenge bei den erwähnten Prozessen nicht aufrecht erhalten werden. Black nimmt an, daß Schmelzen und Sieden Wärmemenge latent macht, während die moderne Thermodynamik die Konstanz der Wärmemengensumme fallen läßt. Die Anpassung kann also in verschiedener Weise erfolgen. Jener Gedanke unter zwei widerstreitenden, den man zurzeit für weniger wichtig und vertrauenswürdig hält, muß sich die Modifikation zu Gunsten des andern gefallen lassen. – S. Carnot hat erkannt, daß Wärmemenge von höherem auf ein tieferes Temperaturniveau sinken, auf einen kälteren Körper übergehen muß, wenn etwa durch Ausdehnung des letzteren Arbeit geleistet werden soll. Die Wärmemenge sah er zunächst im Blackschen Sinne als unveränderlich an. Mayer und Joule finden aber eine Verminderung[175] der Wärmemenge bei deren Arbeitsleistung und halten anderseits die Vermehrung der Wärmemenge durch Arbeit, die Erzeugung von Wärme (durch Reibung) aufrecht. Clausius und Thomson lösen diese scheinbare Paradoxie, indem sie die bei der Arbeitsleistung verschwundene Wärme als abhängig von der übergeführten Wärme und den Temperaturen erkennen. Die Carnotsche und die Mayersche Auffassung werden hier modifiziert und in der neuen Form vereinigt. – Der Carnotsche Satz bringt W. Thomson auf den Gedanken, durch isothermische Ausdehnung und Kompression von Luft bei 0° C., also ohne Arbeit, Eis zu erzeugen. J. Thomson bemerkt aber, weil Wasser beim Gefrieren sich ausdehnend Arbeit leisten kann, daß letztere Arbeit aus nichts gewonnen werden müßte. Zur Beseitigung der Widersprüche mußte angenommen werden, daß der Gefrierpunkt durch Druck in quantitativ bestimmter Weise erniedrigt wird, was der Versuch auch bestätigte. So liegt also in den Paradoxien selbst die stärkste treibende Kraft, welche zur Anpassung der Gedanken aneinander und hiermit zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen drängt.

11. Die Anpassung der Gedanken aneinander erschöpft sich nicht in der Abschleifung der Widersprüche. Jede Zersplitterung der Aufmerksamkeit, jede Belastung des Gedächtnisses durch zu vielerlei, wird unangenehm empfunden, auch wenn keine Widersprüche mehr vorhanden sind. Jedes Erkennen des noch Unbekannten und Neuen als Kombination des Altbekannten, jede Enthüllung des scheinbar Verschiedenartigen als eines Gleichartigen, jede Verminderung der zureichenden Zahl der leitenden Gedanken, jede organische Ordnung der letzteren nach dem Prinzip der Permanenz und der zureichenden Differenzierung, wird als eine angenehme Entlastung empfunden. Das Ökonomisieren, Harmonisieren, Organisieren der Gedanken, welches wir als ein biologisches Bedürfnis fühlen, geht weit über die Forderung der logischen Widerspruchslosigkeit hinaus.

12. Das ptolomæische System enthält keine Widersprüche; alle Einzelheiten desselben sind wohl miteinander verträglich. Allein wir haben hier eine ruhende Erde, eine als Ganzes rotierende Fixsternsphäre, und die individuellen Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten. Im System des Kopernikus, sowie[176] seiner antiken Vorgänger, reduzieren sich alle Bewegungen auf kreisende und Achsendrehungen. – In Keplers 3 Gesetzen liegt kein Widerspruch. Wie angenehm ist aber die Reduktion auf das eine Newtonsche Gravitationsgesetz, welches zudem noch den irdischen Fall und Wurf, das Flutphänomen u. a. unter einen Gesichtspunkt faßt. – Brechung und Reflexion des Lichtes, Interferenz und Polarisation bildeten gesonderte Kapitel, deren Lehren jedoch untereinander nicht in Widerspruch standen. Die Zurückführung aller dieser Lehren auf transversale Schwingungen durch Fresnel war dennoch eine große Erleichterung und ein sehr erfreulicher Fortschritt. Eine weitaus größere Vereinfachung ist aber die Einreibung der ganzen Optik als eines Kapitels der Elektrizitätslehre durch Maxwell. – Die geologische Katastrophentheorie, die Cuviersche Vorstellung der Schöpfungsperioden enthalten keine Widersprüche. Jedermann wird aber Lamarck, Lyell und Darwin dafür dankbar sein, daß sie eine einfachere Auffassung der Geschichte der Erde, der Tier- und Pflanzenwelt versucht haben.230

13. Nach der Betrachtung dieser Beispiele wird eine allgemeinere Ausführung am Platze sein. Die in Form von Urteilen fixierten Ergebnisse der Anpassung der Gedanken an die Tatsachen werden der Vergleichung unterzogen und sind die Objekte eines weiteren Anpassungsprozesses. Sind dieselben unverträglich, so kann ein minder bewährtes zu Gunsten eines besser bewährten fallen gelassen werden. Es hängt natürlich ganz ab von dem Grade der Bekanntschaft mit einem Gebiet, von der Denkerfahrung und Denkübung des Urteilenden, auch von den eingelebten Ansichten der Zeitgenossen, welchen Urteilen eine höhere Autorität gegenüber andern beigemessen wird. Der geübte Physiker oder Chemiker wird z.B. einem Gedanken, welcher gegen die Voraussetzung der eindeutigen Bestimmtheit des Naturlaufs, gegen das Energieprinzip oder das Prinzip der Erhaltung der Masse verstößt, keine Autorität zuerkennen, während der Dilettant, der Konstrukteur eines Perpetuum mobile, darin weniger Schwierigkeiten findet. Zu Newtons Zeit gehörte sehr[177] viel Mut dazu, Fernwirkungen anzunehmen, selbst wenn man diese als etwas noch zu Erklärendes hinstellte. Später wurde diese Auffassung durch ihre Erfolge so geläufig, daß niemand mehr an derselben Anstoß nahm. Heute hat man wieder ein zu starkes Bedürfnis, alle Wechselbeziehungen in ihrer Kontinuität durch Raum und Zeit zu verfolgen, um unvermittelte Fernwirkungen anzunehmen. Unmittelbar nach Black war es ein Wagnis, an der Unveränderlichkeit der Wärmemenge zu zweifeln, während ein halbes Jahrhundert später eine starke Neigung bestand, die Blacksche Annahme aufzugeben. Jede Zeit bevorzugt allgemein die Urteile, unter deren Leitung sie die größten praktischen und intellektuellen Erfolge erzielt hat. Große, weit vorausblickende Forscher sind häufig in die Lage versetzt, zu den Ansichten ihrer Zeitgenossen in Opposition zu treten. Sie führen eine Wandlung herbei. Auch bisher maßgebende Urteile müssen nun mit neuen, welche sonst unbedingt verworfen worden wären, ein Kompromiß schließen, durch welches meist beide modifiziert werden. Die thermodynamischen Arbeiten von Clausius und W. Thomson einerseits, jene über Elektrizität von Faraday und Maxwell anderseits bieten Beispiele hierfür.

14. Die Urteile, die sich zur Vergleichung darbieten, können von vornherein auch verträglich sein, ohne Widerspruch nebeneinander bestehen. Nun scheint weitere Anpassung unnötig. Es hängt aber wieder von der Individualität des Denkers, von dessen ästhetischem, logisch-ökonomischem Bedürfnis ab, ob nicht eine weitere Harmonisierung gefordert wird. In manchen Köpfen vertragen sich die verschiedenartigsten Vorstellungen miteinander deshalb, weil sie Gebieten angehören, die nie in Berührung kommen, z.B. der sonderbarste Aberglaube in einem Gebiet mit der größten Nüchternheit in einem andern. Dies trifft bei den Stimmungs- und Gelegenheitsdenkern zu, die von Fall zu Fall verschiedene Register ansprechen lassen, ohne sich um den organischen Zusammenhang größerer Gedankenkreise zu kümmern. Im Gegensatz zu diesen stehen Forscher wie Descartes, Newton, Leibniz, Darwin u. a.231[178]

15. Das Ideal der ökonomischen und organischen Zusammenpassung der einem Gebiet angehörigen verträglichen Urteile ist erreicht, wenn es gelungen ist, die geringste Zahl einfachster unabhängiger Urteile zu finden, aus welchen sich alle übrigen als logische Folgen ergeben, d.h. ableiten lassen. Ein Beispiel eines solchen geordneten Systems von Urteilen ist die euklidische Geometrie. Die auf diese Weise deduzierten Urteile können ursprünglich[179] auf ganz andere, von der Deduktion unabhängige Weise gefunden sein, und dies ist sogar der gewöhnliche Fall. Dann dient die Ableitung entweder, um das Urteil durch einfachere geläufigere verständlich zu machen, also zur Erklärung, oder um dasselbe Zweifeln gegenüber auf Einfacheres, nicht Bezweifeltes zu gründen, also zum Beweis. War das abgeleitete Urteil zuvor nicht bekannt, sondern wurde es erst durch die Ableitung gefunden, so stellt es eine auf dem Wege der Deduktion gemachte Entdeckung vor.


Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander

16. Der einfache, durchsichtige, allgemein geläufige geometrische Stoff ist sehr geeignet, die Zusammenpassung der Urteile lebhaft vor Augen zu führen. Wir wollen deshalb einen besonderen Fall betrachten. Man ziehe an einen Kreis vier beliebige Gerade, welche denselben in vier Punkten berühren und das Viereck ABCD (Fig. 2) bilden. Nicht alles, was wir von diesem Viereck aussagen können, dürfen wir von einem beliebigen Viereck behaupten. Denn die Seiten des ersteren Vierecks sind Kreistangenten, und was wir von diesen aussagen, muß mit den Urteilen über den Kreis zusammenpassen. Die Kreisradien nach den Berührungspunkten stehen auf den Viereckseiten senkrecht; alle übrigen Punkte dieser Geraden haben größere Entfernungen vom Mittelpunkt als diese Senkrechten und liegen außerhalb des Kreises. Die von einer Ecke ausgezogenen Tangenten liegen in Bezug auf die Zentrilinie durch diese Ecke symmetrisch, und deren Stücke zwischen der Ecke und den Berührungspunkten sind beiderseits gleich lang.232 Dies gilt für jede Ecke. Daher ist die Länge eines Gegenseitenpaares zusammengenommen gleich der Länge des andern Gegenseitenpaares zusammengenommen.[180]

Diese metrische Eigenschaft kommt nur dem Kreise umschriebenen Vierecken zu. Zieht man z.B. statt AD eine das Viereck vollendende Sekante, oder eine außerhalb des Kreises liegende Gerade, so gilt ersichtlich die Eigenschaft nicht mehr. Einem jeden beliebigen Viereck kann auch nicht ein Kreis eingeschrieben werden. Der einzuschreibende Kreis ist nämlich schon durch drei Tangenten, bezw. durch den Durchschnitt zweier Winkelhalbierenden der Tangenten bestimmt. Die vierte Seite legt Forderungen auf, die im allgemeinen nicht mehr mit den früheren vereinbar sind.

Man kann solche Zusammenpassungen von Urteilen leicht in die Form einer Erklärung, einer Aufgabe, eines Beweises oder einer deduktiven Entdeckung bringen. Auch die Einkleidung in die euklidische oder die aristotelisch-logische Form macht keine Schwierigkeit. Beispiele dieser Art behandelt ausführlich J. F. Fries233 und in etwas mehr anziehender Form Drobisch.234

17. Die Formen der Logik, welche nicht Gegenstand unserer Darstellung sind, wurden aus Fällen wirklichen wissenschaftlichen Denkens durch Abstraktion gewonnen. Jedes besondere, etwa geometrische Beispiel kann aber deutlich machen, wie wenig die Kenntnis dieser Formen allein nützt. Sie kann allenfalls dazu dienen, einen Gedankengang nachzuprüfen, nicht aber einen neuen zu finden. Das Denken vollzieht sich eben nicht an der leeren Form, sondern an dem lebhaft unmittelbar oder begrifflich vorgestellten Inhalt.235 In einer geometrischen Ableitung kommt die Gerade bald der Lage, bald der Länge nach, bald als Tangente, bald als Senkrechte zum Radius, bald als Teil einer symmetrischen Figur in Betracht; am Parallelogramm ist einmal die Fläche, einmal das Seiten- oder Diagonalenverhältnis, dann sind die Winkel zu beachten. Wem nicht alle anschaulichen und begrifflichen Beziehungen geläufig wären, wer dieselben nicht ineinander umzusetzen wüßte, wessen Aufmerksamkeit nicht durch das Interesse für den vermuteten Zusammenhang auf die richtigen Bahnen geleitet würde, der würde gewiß keine geometrischen Sätze finden.[181] Die leeren logischen Formen können die Sachkenntnis nicht ersetzen.236 Daß aber die Aufmerksamkeit auf das Denken als solches, die symbolische Darstellung der abstrakten Formen der Denkhandlungen keineswegs ganz wertlos ist, lehrt ein Blick auf die Algebra und die mathematische Zeichensprache überhaupt. Wer die betreffenden Denkhandlungen nicht ohne diese Hilfe auszuführen wüßte, dem würden diese Mittel allerdings nichts nützen. Wenn es sich aber um ganze Reihen von Denkoperationen handelt, welche dieselben oder analoge Denkhandlungen in häufiger Wiederholung enthalten, dann liegt in der symbolischen Ausführung derselben eine bedeutende Entlastung der Denkarbeit und Aufsparung der Leistung für wichtigere neue Fälle, welche nicht symbolisch erledigt werden können. In der Tat haben die Mathematiker in der mathematischen Zeichensprache eine sehr wertvolle logische Symbolik für ihre Zwecke entwickelt. Die mathematischen Denkoperationen sind von einer Mannigfaltigkeit, welche durch den Rahmen der einfachen klassifikatorischen aristotelischen Logik nicht umspannt werden kann. Es entwickelt sich auch auf dem Boden dieser Wissenschaft eine eigene umfassendere symbolische Logik,237 deren Operationen sich keineswegs nur auf Quantitatives beschränken. Die Anfänge hiervon gehen bis auf Leibniz238 zurück, und sind in Deutschland um die Mitte des abgelaufenen Jahrhunderts, wie es scheint, allein von Beneke239 gepflegt worden. Nur Mathematiker wie H. Grassmann, Boole, E. Schroeder, A. W. Russell u. a. verfolgen wieder Leibnizsche Wege.[182]

221

Th. Gomperz, Griechische Denker. Leipzig 1896. I, S. 331 u. f.

222

E. F. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. II, S. 141. – Vgl. auch J. F. Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. S. 492 u. f. und endlich die vortreffliche und ansprechende Darstellung der Trugschlüsse bei W. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. S. 673 u. f.

223

Nach dem Rat von Prof. A. Marty lernt man die scholastische Dialektik am besten kennen durch Francisci Suarez, Disputationes metaphysicae. (Opera. Tom. 22, 23. Venetiis, 1751.) Man vergleiche z.B. den Aufwand von Scharfsinn in Disput 23 »de causa finali« (T. 22, p. 442), oder Disput 40 »de quantitate continua« (T. 23, p. 281), welcher immer nur dazu dient, um auf einem großen Umwege schließlich in recht matter Weise in eine kirchliche oder aristotelische Lehre einzulenken. – Bezeichnend für den Charakter der Scholastik ist, was H. Reuter (Gesch. d. religiösen Aufklärung im Mittelalter, Berlin 1877, II, S. 19 u. f.) von Simon von Tournay erzählt. Derselbe sprach nach einem erfolgreichen Vortrag unter unmäßigem Lachen: »O mein Jesulein, wieviel habe ich in dieser Frage zur Befestigung und Verherrlichung deiner Lehre beigetragen! Wahrlich, wenn ich als ihr böswilliger Gegner auftreten wollte, ich würde sie mit noch stärkeren Vernunftgründen und Argumenten zu schwächen, herabzuwürdigen, zu widerlegen wissen.« Kaum hatte er die Worte vollendet, als er stumm ward. Er hatte Sprache und Gedächtnis verloren. – Die Dialektik ist ja oft eine Kunst andere und gelegentlich auch sich selbst irre zu führen; die Freude am Denken hat sie aber doch gefördert. Das stille Glück, welches die genossen, die in den engen geschlossenen Gedankenkreis der Scholastik sich hineingefunden hatten, können bei aller Karikatur selbst die »epistolae obscurorum virorum« nicht verdecken.

224

Vgl. K. Groos, Die Spiele der Tiere. Jena 1896.

225

Lavoisier hat nicht das Gesetz der Erhaltung der Masse entdeckt, sondern diese schon dem Altertum geläufige instinktive Annahme hat ihn zu seinen großen chemischen Entdeckungen geleitet.

226

Auch diese Aufgabe und ihre Auflösung ist antik. Sie wird bei Plutarch diskutiert in der Unterredung »über das Gesicht in der Mondscheibe«.

227

Vgl. Mechanik 5. Aufl., S. 139 u. f. – Über ältere Auffassungen des Trägheitsgesetzes referiert Whewell (The Philosophy of the inductive sciences, I, p. 216 u. f.). Whewell ist sich darüber klar, daß die erste Quelle der Erkenntnis der Trägheit nur die Erfahrung sein kann. Hat man aber die Kraft als eine Ursache der Bewegung oder Bewegungsänderung erkannt, so folgt nach ihm bei Abwesenheit einer Kraft gleichförmige geradlinige Bewegung. Dies fällt mit meiner Auffassung zusammen, wenn man bestimmter, kürzer und genauer die Kraft als einen beschleunigungsbestimmenden Umstand definiert. Die Ausführungen D'Alemberts (Traité de Dynamique 1743, p. 4-6), welche auch bei Whewell p. 218 besprochen werden, sind, ohne wesentliche Änderung ihrer Form, geradezu unverständlich. Ein Körper sei (durch einen Anstoß?) in Bewegung gesetzt. Entweder genügt die Ursache, denselben einen Fuß weit (sic!) zu bewegen, oder die dauernde Fortwirkung war schon für diesen Fuß nötig. In beiden Fällen bleibt derselbe Grund für die Bewegung durch den zweiten, dritten u.s.w. Fuß bestehen. – Nun ist klar, daß die Betrachtung über den zurückgelegten Weg zu keinem Ergebnis führen kann, solange über den Weg als Funktion der Zeit keine Voraussetzung gemacht ist. Nimmt man aber an, daß nur in einem Zeitdifferential nach dem Anstoß die Bewegung gleichförmig ist, so hat man allerdings das Trägheitsgesetz schon implicite statuiert, und kann es nun leicht herausphilosophieren. D'Alemberts Darlegung ist ein prächtiges Sophisma. Playfair (zitiert bei Whewell p. 219) meint, man müßte, das Trägheitsgesetz ablehnend, annehmen, daß die Abnahme der Geschwindigkeit v irgend eine Funktion der Zeit sei f (t), einfacher v = c(1 – kt), wobei c die Anfangsgeschwindigkeit wäre. Playfair sieht aber keinen Grund, einer Funktionsform oder einem Wert der Konstanten k vor dem andern einen Vorzug zu geben. Whewell bemerkt darauf richtig, daß unser Mangel an Einsicht nicht über die Erfahrung entscheiden kann.

228

Mechanik. 5. Aufl., insbesondere S. 267 u. f.

229

Außer dem in der Mechanik Gesagten sei darauf hingewiesen, daß aus dem Prinzip des Kräfteparallelogramms (Coroll. I) sich die in Lex II ausgesprochene Proportionalität ableiten läßt. Die in Coroll. I enthaltene Annahme der Unabhängigkeit der Kräfte voneinander erfordert aber eine besondere Aufstellung.

230

Sie bringen außerdem noch die Newtonsche Regel zur Geltung, nach Möglichkeit nur eine tatsächlich beobachtete Ursache (vera causa) zur Erklärung zu verwenden.

231

Duhem (La Théorie physique, S. 84-167) unterscheidet zweierlei intellektuelle Individualitäten: umfassende und tiefe Geister. Die umfassenden Geister (esprits amples) haben lebhafte Phantasie, ein empfindliches Gedächtnis, Feinheit der Beurteilung, vermögen sehr Mannigfaltiges aufzufassen, zeigen aber wenig Sinn für logische Schärfe und Reinheit. Tiefe, aber enge Geister (esprits profonds et étroits) haben einen engeren Gesichtskreis; sie sind ihrer Natur nach geneigt, alles in vereinfachter abstrakter Weise aufzufassen, wissen die intellektuelle Ökonomie, den logischen Zusammenhang und die Folgerichtigkeit zu schätzen und auch zur Geltung zu bringen. Die erstere Art des Intellekts sei besonders bei den Engländern, die zweite bei den Franzosen und den Deutschen vertreten. Namen berühmter Gelehrten, wissenschaftliche Leistungen, englische und französische Gesetze u.s.w. illustrieren diesen Gedanken in recht ansprechender Weise. Darüber, daß diese Charakteristik nur im allgemeinen gilt, und nicht ohne weiteres auf den einzelnen übertragen werden darf, ist Duhem vollkommen klar. Ich möchte aber glauben, daß nicht nur alle möglichen Zwischenstufen zwischen diesen beiden Extremen vertreten sind, sondern auch, daß jeder einzelne je nach seiner Denkstimmung und Aufgabe bald nach der einen, bald nach der andern Seite neigen kann. William Thomson (Lord Kelvin) wird z.B. von Duhem wegen seiner vielen, auf den verschiedensten Prinzipien beruhenden mechanischen Modelle zur Darstellung physikalischer Gesetze zu dem ersteren Typus gezählt; wer aber etwa seine thermodynamischen Arbeiten ins Auge faßt, wird eher sagen, daß er dem zweiten Typus angehört. Descartes wird von Duhem als Repräsentant des zweiten Typus angeführt. Betrachtet man des Descartes haarsträubend unlogische Versuche, das Brechungsgesetz zu begründen, wobei er eine zeitlose Fortpflanzung des Lichtes annimmt, und doch wieder Zeiten und Geschwindigkeiten im ersten und zweiten Medium in Betracht zieht, vergleicht man diesen Gedankengang mit den schönen logischen Ableitungen, die Descartes in der Dioptrik auf das Brechungsgesetz selbst gründet, so möchte man nicht glauben, daß hier der selbe Autor spricht. Ich meine, man muß unterscheiden zwischen der Denkarbeit der Ableitung aus gegebenen Prinzipien und dem Suchen nach den Prinzipien, welche brauchbare Grundlagen weiterer Ableitungen darstellen. Werden die von Duhem und Poincaré recht hart beurteilten Arbeiten Maxwells aus dem letzteren Gesichtspunkt betrachtet, so sind sie das Wunderbarste, was man sich vorstellen kann. Wir können uns ja Glück wünschen, wenn ein ganzes Volk besonders geschickt ist im Suchen nach neuen Grundlagen eines Wissensgebietes, ein anderes dagegen viel geschickter darin, in dieses Gebiet logische Ordnung, Zusammenhang und Einheit zu bringen.

232

Man beachte die leicht ersichtliche Kongruenz der für die Ecke A angedeuteten Dreiecke.

233

Fries, System der Logik. Heidelberg 1819. S. 282 u. f.

234

Drobisch, Neue Darstellung der Logik. Leipzig 1895. Anhang.

235

Vgl. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik. Bonn 1878. – Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1894.

236

Vgl. hingegen die reichen Anregungen bei einem Sachkundigen wie F. Mann (Die logischen Grundoperationen der Mathematik. Erlangen und Leipzig 1895).

237

Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. – E. Schroeder, Algebra der Logik. Leipzig 1890-1895. – Russell, The principles of mathematics. Cambridge 1903.

238

Couturat, La logique de Leibniz. Paris 1901.

239

F. E. Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. – B. s Logik ist keine bloße formale Logik, sondern enthält wichtige psychologische Untersuchungen, die leider nicht in verdienter Weise beachtet worden sind.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 164-183.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Erkenntnis und Irrtum
Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung
Erkenntnis Und Irrtum: Skizzen Zur Psychologie Der Forschung
Erkenntnis und Irrtum
Erkenntnis und Irrtum
Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung

Buchempfehlung

Mickiewicz, Adam

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen

Pan Tadeusz erzählt die Geschichte des Dorfes Soplicowo im 1811 zwischen Russland, Preußen und Österreich geteilten Polen. Im Streit um ein Schloß verfeinden sich zwei Adelsgeschlechter und Pan Tadeusz verliebt sich in Zosia. Das Nationalepos von Pan Tadeusz ist Pflichtlektüre in Polens Schulen und gilt nach der Bibel noch heute als meistgelesenes Buch.

266 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon