Fünfzehntes Kapitel.
Von denen Dingen, die den Menschen, und namentlich den Fürsten, Lob oder Tadel zuziehen.

[62] Es bleibt jetzt zu betrachten übrig, wie eines Fürsten Art und Verhalten mit Unterthanen und Freunden seyn muß. Und, weil ich weiß daß hievon Viele geschrieben haben, besorge ich, wenn nun auch ich darüber schreibe, der Anmaasung beschuldigt zu werden, indem ich ganz vorzüglich mich in der Behandlung dieses Punktes von dem Verfahren der Andern entferne. Weil aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für Die zu schreiben, die es verstehen, so schien es mir gerathener, der thatsächlichen Wahrheit der Dinge nachzugehen, als der Einbildung von ihnen; (wie denn Viele sich Republiken und Fürstenthümer eingebildet, die man niemals gesehen noch in der Wirklichkeit hat kennen lernen): da, wie man lebt, und wie man leben sollte, in meinen Augen so weit von einander abliegt, daß, wer das, was geschieht, um das, was geschehen sollte, verabsäumt, eher seinen Untergang als seine Errettung erleben wird, insofern ein Mensch, der in allen Stücken zum Guten sich bekennen wollte, unter so Vielen, die nicht gut sind, zu Grunde gehen muß. Es ist daher einem Fürsten, der sich behaupten will, nöthig, daß er[62] lerne, nicht gut seyn zu können, und hievon Gebrauch oder nicht zu machen, nachdem es noth thut. Indem ich also die Einbildungen, in fürstlichen Dingen, bei Seite lasse und Wirkliches prüfe, so sage ich: daß alle Menschen, sofern man über sie redet, und besonders die Fürsten, weil Diese höher gestellt sind, nach einer der Eigenschaften bezeichnet werden, die ihnen Lob oder Tadel bringen. Dieß macht, daß der Eine für freigebig gilt, der Andre für karg, [misero]; (ein Toskanisches Wort, weil geizig in unsrer Sprache auch Der ist, der durch Raub die Habsucht zu sättigen strebt; karg nennen wir Den, der zu sehr sich enthält, von dem, was sein ist, Gebrauch zu machen): den Einen hält man für einen Spender, einen Andern für räuberisch; den Einen für grausam, den Andern für gütig; Einen für treubrüchig, den Andern für treu; den Einen für weibisch und feig, den Andern für wild und muthig; Einen für glimpflich, den Andern für herrisch; Einen für geil, den Andern für keusch; den Einen für redlich, den Andern für listig; Einen für hart, den Andern für läßlich; Einen für streng, den Andern für locker; Einen für fromm, den Andern für freigeistig, und so fort. Ich weiß, ein Jeder würde gestehen, es wäre das Löblichste, wenn sich ein Fürst von allen den obigen Eigenschaften, die man für gut hält, fände; aber, weil man sie nicht vollständig haben noch hegen kann, der menschlichen Verhältnisse wegen, die es verbieten, so hat er so viel Klugheit nöthig, daß er die Schande derer Laster, die ihm den Staat entreißen würden, zu fliehen wisse; und vor denen, durch die er nicht darum kommt, sich hüthe, wenn's möglich ist: wäre es aber nicht möglich, so kann er sich diesen mit minderer Rücksicht überlassen. Und so kümmere ihn auch nicht die Schande derer[63] Laster sich zuzuziehen, ohne welche er schwerlich den Staat sich erhalten könnte: denn wenn man alles wohl erwägen will, so wird sich finden, daß etwas als Tugend erscheinen kann, das, wenn er es befolgen wollte, sein Untergang wäre, und etwas andres erscheint als Laster, aus dessen Befolgung ihm Sicherheit und Wohlstand erwächst.

Quelle:
Nicolò Machiavelli: Der Fürst. Stuttgart und Tübingen 1842, S. 62-64.
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