20. Nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne

[583] Im fünfzehnten Kapitel beschäftigten uns die mannigfachen Kombinationen, welche einen Wechsel in der absoluten oder relativen (d.h. mit dem Mehrwert verglichenen) Wertgröße der Arbeitskraft hervorbringen kann, während andrerseits wieder das Quantum von Lebensmitteln, worin der Preis der Arbeitskraft realisiert wird, von dem Wechsel dieses Preises unabhängige799 oder verschiedne Bewegungen durchlaufen konnte. Wie bereits bemerkt, verwandeln sich durch einfache Übersetzung des Werts, resp. Preises der Arbeitskraft in die exoterische Form des Arbeitslohns alle jene Gesetze in Gesetze der Bewegung des Arbeitslohns. Was innerhalb dieser Bewegung als wechselnde Kombination, kann für verschiedne Länder als gleichzeitige Verschiedenheit nationaler Arbeitslöhne erscheinen. Beim Vergleich nationaler Arbeitslöhne sind also alle den Wechsel in der Wertgröße der Arbeitskraft bestimmende Momente zu erwägen, Preis und Umfang der natürlichen und historisch entwickelten ersten Lebensbedürfnisse, Erziehungskosten des Arbeiters, Rolle der Weiber- und Kinderarbeit, Produktivität der Arbeit, ihre extensive und intensive Größe. Selbst die oberflächlichste Vergleichung erheischt, zunächst den Durchschnitts-Tag lohn für dieselben Gewerbe in verschiednen Ländern auf gleich große Arbeitstage zu reduzieren. Nach solcher Ausgleichung der Taglöhne muß der Zeitlohn wieder in Stücklohn übersetzt werden, da nur der letztere ein Gradmesser sowohl für die Produktivität als die intensive Größe der Arbeit.

In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich[583] notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau.800 Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d.h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d.h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.

Aber auch abgesehn von dieser relativen Verschiedenheit des Geldwerts in verschiedenen Ländern, wird man häufig finden, daß der Tages-, Wochen-, etc. Lohn bei der ersteren Nation höher ist als bei der zweiten, während der relative Arbeitspreis, d.h. der Arbeitspreis im Verhältnis sowohl zum Mehrwert wie zum Wert des Produkts, bei der zweiten Nation höher steht als bei der ersteren.801[584]

J. W. Cowell, Mitglied der Fabrikkommission von 1833, kam nach sorgfältiger Untersuchung der Spinnerei zum Ergebnis, daß

»in England die Löhne der Sache nach niedriger für den Fabrikanten sind als auf dem Kontinent, obwohl sie für den Arbeiter höher sein mögen« (Ure, p. 314).

Der englische Fabrikinspektor Alexander Redgrave weist im Fabrikbericht vom 31. Oktober 1866 durch vergleichende Statistik mit den Kontinentalstaaten nach, daß trotz niedrigerem Lohn und viel längerer Arbeitszeit die kontinentale Arbeit, verhältnismäßig zum Produkt, teurer ist als die englische. Ein englischer Direktor (manager) in einer Baumwollfabrik in Oldenburg erklärt, daß dort die Arbeitszeit von 5. 30 Uhr morgens bis 8 Uhr abends währt, samstags eingeschlossen, und daß die dortigen Arbeiter, wenn unter englischen Arbeitsaufsehern, während dieser Zeit nicht ganz soviel Produkt liefern als Engländer in 10 Stunden, unter deutschen Arbeitsaufsehern aber noch viel weniger. Der Lohn stehe viel tiefer als in England, in vielen Fällen um 50%, aber die Zahl der Hände im Verhältnis zur Maschinerie sei viel größer, in verschiedenen Departements im Verhältnis von 5: 3. Herr Redgrave gibt sehr genaue Details über die russischen Baumwollfabriken. Die Data sind ihm geliefert durch einen dort noch kürzlich beschäftigten englischen manager. Auf diesem russischen Boden, an allen Infamien so fruchtbar, stehn auch die alten Greuel aus der Kindheitsperiode der englischen factories in vollster Blüte. Die Dirigenten sind natürlich Engländer, da der eingeborene russische Kapitalist nicht für das Fabrikgeschäft taugt. Trotz aller Überarbeit, fortlaufender Tag- und Nachtarbeit und schmählichster Unterzahlung der Arbeiter, vegetiert das russische Fabrikat nur durch Prohibition des ausländischen. – Ich gebe[585] schließlich noch eine vergleichende Übersicht des Herrn Redgrave über die Durchschnitts-Spindelzahl per Fabrik und per Spinner in verschiednen Ländern Europas. Herr Redgrave bemerkt selbst, daß er diese Zahlen vor einigen Jahren gesammelt hat und daß seit der Zeit die Größe der Fabriken und die Spindelzahl per Arbeiter in England gewachsen seien. Er unterstellt aber verhältnismäßig gleich großen Fortschritt in den aufgezählten Kontinentalländern, so daß die Zahlenangaben ihren komparativen Wert behalten hätten.


Durchschnittsanzahl von Spindeln per Fabrik
In England Durchschnittszahl von Spindeln auf je eine Fabrik: 12.600
In der Schweiz " " " " " " " 8.000
In Ostreich " " " " " " " 7.000
In Sachsen " " " " " " " 4.500
In Belgien " " " " " " " 4.000
In Frankreich " " " " " " " 1.500
In Preußen " " " " " " " 1.500
Durchschnittsanzahl von Spindeln per Kopf
In Frankreich eine Person auf 14 Spindeln
In Rußland " " " 28 "
In Preußen " " " 37 "
In Bayern " " " 46 "
In Östreich " " " 49 "
In Belgien " " " 50 "
In Sachsen " " " 50 "
In den kleinern deutschen Staaten " " " 55 "
In der Schweiz " " " 55 "
In Großbritannien " " " 74 "

»Diese Vergleichung«, sagt Herr Redgrave, »ist, außer andren Gründen, besonders auch deswegen für Großbritannien ungünstig, weil dort eine sehr große Zahl Fabriken existiert, worin die Maschinenweberei mit der Spinnerei verbunden ist, während die Rechnung keinen Kopf für die Webstühle abzieht. Die auswärtigen Fabriken sind dagegen meist bloße Spinnereien. Könnten wir genau Gleiches mit Gleichem vergleichen, so könnte ich viele Baumwollspinnereien in meinem Distrikt aufzählen, worin Mules mit 2200 Spindeln von einem einzigen Mann (minder) und zwei Handlangerinnen überwacht und täglich 220 Pfund Garn, 400 (englische) Meilen in Länge, fabriziert werden.« (»Reports of Insp. of Fact., 31st Oct. 1866«, p. 31-37 passim.)

Man weiß, daß in Osteuropa sowohl wie in Asien englische Kompanien Eisenbahnen in Bau übernommen haben und dabei neben einheimischen auch eine gewisse Zahl englischer Arbeiter verwenden. Durch praktische[586] Notwendigkeit gezwungen, so den nationalen Unterschieden in der Intensität der Arbeit Rechnung zu tragen, hat ihnen das keinen Schaden gebracht. Ihre Erfahrung lehrt, daß, wenn auch die Höhe des Lohnes mehr oder weniger der mittleren Arbeitsintensität entspricht, der relative Arbeitspreis (im Verhältnis zum Produkt) sich im allgemeinen im entgegengesetzten Sinn bewegt.

In »Versuch über die Rate des Arbeitslohns«802, einer seiner frühsten ökonomischen Schriften, sucht H. Carey nachzuweisen, daß die verschiednen nationalen Arbeitslöhne sich direkt verhalten wie die Produktivitätsgrade der nationalen Arbeitstage, um aus diesem internationalen Verhältnis den Schluß zu ziehen, daß der Arbeitslohn überhaupt steigt und fällt wie die Produktivität der Arbeit. Unsre ganze Analyse der Produktion des Mehrwerts beweist die Abgeschmacktheit dieser Schlußfolgerung, hätte Carey selbst seine Prämisse bewiesen, statt seiner Gewohnheit gemäß unkritisch und oberflächlich zusammengerafftes statistisches Material kunterbunt durcheinanderzuwürfeln. Das Beste ist, daß er nicht behauptet, die Sache verhalte sich wirklich so, wie sie sich der Theorie nach verhalten sollte. Die Staatseinmischung hat nämlich das naturgemäße ökonomische Verhältnis verfälscht. Man muß daher die nationalen Arbeitslöhne so berechnen, als ob der Teil derselben, der dem Staat in der Form von Steuern zufällt, dem Arbeiter selbst zufiele. Sollte Herr Carey nicht weiter darüber nachdenken, ob diese »Staatskosten« nicht auch »naturgemäße Früchte« der kapitalistischen Entwicklung sind? Das Räsonnement ist ganz des Mannes würdig, der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse erst für ewige Natur- und Vernunftsgesetze erklärte, deren frei harmonisches Spiel nur durch die Staatseinmischung gestört werde, um hinterher zu entdecken, daß Englands diabolischer Einfluß auf den Weltmarkt, ein Einfluß, der, wie es scheint, nicht den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringt, die Staatseinmischung nötig macht, nämlich den Schutz jener Natur- und Vernunftsgesetze durch den Staat, alias das Protektionssystem. Er entdeckte ferner, daß die Theoreme Ricardos usw., worin existierende gesellschaftliche Gegensätze und Widersprüche formuliert sind, nicht das ideale Produkt der wirklichen ökonomischen Bewegung, sondern daß umgekehrt die wirklichen Gegensätze der kapitalistischen Produktion in England und anderswo das Resultat der Ricardoschen usw. Theorie sind! Er[587] entdeckte schließlich, daß es in letzter Instanz der Handel ist, der die eingebornen Schönheiten und Harmonien der kapitalistischen Produktionsweise vernichtet. Noch einen Schritt weiter, und er entdeckt vielleicht, daß der einzige Mißstand an der kapitalistischen Produktion das Kapital selbst ist. Nur ein Mann von so entsetzlicher Kritiklosigkeit und solcher Gelehrsamkeit de faux aloi verdiente, trotz seiner protektionistischen Ketzerei, die Geheimquelle der harmonischen Weisheit eines Bastiat und aller andern freihändlerischen Optimisten der Gegenwart zu werden.[588]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 23, S. 583-589.
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