b) Die schlechtbezahlten Schichten der britischen industriellen Arbeiterklasse

[683] Wenden wir uns jetzt zu den schlechtbezahlten Schichten der industriellen Arbeiterklasse. Während der Baumwollnot, 1862, wurde Dr. Smith vom Privy Council mit einer Untersuchung über den Nahrungsstand der verkümmerten Baumwollarbeiter in Lancashire und Cheshire beauftragt. Langjährige frühere Beobachtung hatte ihn zum Resultat geführt, daß, »um Hungerkrankheiten (starvation diseases) zu vermeiden«, die tägliche Nahrung eines Durchschnitts- Frauenzimmers mindestens 3900 Gran Kohlenstoff mit 180 Gran Stickstoff enthalten müsse, die tägliche Nahrung eines Durchschnitts-Mannes mindestens 4300 Gran Kohlenstoff mit 200 Gran Stickstoff, für die Frauenzimmer ungefähr soviel Nahrungsstoff als in zwei Pfund gutem Weizenbrot enthalten ist, für Männer 1/9 mehr, für den Wochendurchschnitt von weiblichen und männlichen Erwachsnen mindestens 28600 Gran Kohlenstoff und 1330 Gran Stickstoff. Seine Berechnung ward praktisch in überraschender Weise bestätigt durch ihre Übereinstimmung mit der kümmerlichen Nahrungsmenge, worauf der Notstand die Konsumtion der Baumwollarbeiter herabgedrückt hatte. Sie erhielten im Dezember 1862: 29211 Gran Kohlenstoff und 1295 Gran Stickstoff wöchentlich.

Im Jahre 1863 verordnete der Privy Council eine Untersuchung über den Notstand des schlechtestgenährten Teils der englischen Arbeiterklasse. Dr. Simon, der ärztliche Beamte des Privy Council, erkor zu dieser Arbeit den obenerwähnten Dr. Smith. Seine Untersuchung erstreckt sich auf die Agrikulturarbeiter einerseits, andrerseits auf Seidenweber, Nähterinnen, Lederhandschuhmacher, Strumpfwirker, Handschuhweber und Schuster. Die letzteren Kategorien sind, mit Ausnahme der Strumpfwirker, ausschließlich städtisch. Es wurde zur Regel der Untersuchung gemacht, die gesundesten und relativ bestgestellten Familien in jeder Kategorie auszuwählen.

Als allgemeines Resultat ergab sich, daß

»nur in einer der untersuchten Klassen der städtischen Arbeiter die Zufuhr von Stickstoff das absolute Minimalmaß, unter welchem Hungerkrankheiten eintreten, ein wenig überschritt, daß in zwei Klassen Mangel, und zwar in der einen sehr großer Mangel, an der Zufuhr von sowohl stickstoff- wie kohlenstoffhaltiger Nahrung stattfand, daß[684] von den untersuchten Ackerbaufamilien mehr als ein Fünfteil weniger als die unentbehrliche Zufuhr von kohlenstoffhaltiger Nahrung erhielt, mehr als 1/3 weniger als die unentbehrliche Zufuhr stickstoffhaltiger Nahrung und daß in drei Grafschaften (Berkshire, Oxfordshire und Somersetshire) Mangel an dem Minimum der stickstoffhaltigen Nahrung durchschnittlich herrschte.«920

Unter den Agrikulturarbeitern waren die von England, dem reichsten Teile des Vereinigten Königreichs, die schlechtestgenährten.921 Die Unternahrung fiel unter den Landarbeitern überhaupt hauptsächlich auf Frau und Kinder, denn »der Mann muß essen, um sein Werk zu verrichten«. Noch größerer Mangel wütete unter den untersuchten städtischen Arbeiterkategorien. »Sie sind so schlecht genährt, daß viele Fälle grausamer und gesundheitsruinierender Entbehrung« (»Entsagung« des Kapitalisten alles dies! nämlich Entsagung auf Zahlung der zur bloßen Vegetation seiner Hände unentbehrlichen Lebensmittel!) »vorkommen müssen.«922

Folgende Tabelle zeigt das Verhältnis des Nahrungsstandes der oben erwähnten rein städtischen Arbeiterkategorien zu dem von Dr. Smith angenommenen Minimalmaß und zum Nahrungsmaß der Baumwollarbeiter während der Zeit ihrer größten Not:


Beide Geschlechter Wochendurchschnitt Wochendurchschnitt
an Kohlenstoff an Stickstoff
Gran Gran
Fünf städtische Geschäftszweige 28.876 1.192
Arbeitslose Lancashire Fabrikarbeiter 29.211 1.295
Minimalquantum, vorgeschlagen für die
Lancashire Arbeiter auf gleiche Zahl
männlicher und weiblicher 28.600 1.330
Tabelle 923


Eine Hälfte, 60/125, der untersuchten industriellen Arbeiterkategorien erhielt absolut kein Bier, 28% keine Milch. Der Wochendurchschnitt der flüssigen Nahrungsmittel in den Familien schwankte von 7 Unzen bei den Nähterinnen auf 24 3/4 Unzen bei Strumpfwirkern. Die Mehrzahl derer, die keine Milch erhielten, bestand aus den Nähterinnen von London. Die Quantität der wöchentlich konsumierten Brotstoffe wechselte von 7 3/4 Pfund bei den Nähterinnen zu 11 1/4 Pfund bei den Schustern und ergab einen Totaldurchschnitt von 9,9 Pfund wöchentlich auf den Erwachsnen. Zucker (Sirup etc.) wechselte von 4 Unzen wöchentlich für die Lederhandschuhmacher[685] auf 11 Unzen für Strumpfwirker; der Totaldurchschnitt per Woche für alle Kategorien, per Erwachsnen, 8 Unzen. Gesamter Wochendurchschnitt von Butter (Fett usw.) 5 Unzen per Erwachsnen. Der Wochendurchschnitt von Fleisch (Speck usw.) schwankte, per Erwachsnen, von 7 1/4 Unzen bei den Seidenwebern auf 18 1/4 Unzen bei den Lederhandschuhmachern; Gesamtdurchschnitt für die verschiednen Kategorien 13,6 Unzen. Die wöchentliche Kost für Nahrung per Erwachsnen ergab folgende allgemeine Durchschnittszahlen: Seidenweber 2 sh. 2 1/2 d., Nähterinnen 2 sh. 7 d., Lederhandschuhmacher 2 sh. 9 1/2 d., Schuster 2 sh. 7 3/4 d., Strumpfwirker 2 sh. 6 1/4 d. Für die Seidenweber von Macclesfield betrug der Wochendurchschnitt nur 1 sh. 8 1/2 d. Die schlechtestgenährten Kategorien waren die Nähterinnen, die Seidenweber und die Lederhandschuhmacher.924

Dr. Simon sagt in seinem allgemeinen Gesundheitsbericht über diesen Nahrungszustand:

»Daß die Fälle zahllos sind, worin Nahrungsmangel Krankheiten erzeugt oder verschärft, wird jeder bestätigen, der mit medizinischer Armenpraxis oder mit den Patienten der Spitäler, seien sie Insassen oder außerhalb wohnend, vertraut ist... Jedoch kommt hier vom sanitären Standpunkt noch ein andrer, sehr entscheidender Umstand hinzu... Man muß sich erinnern, daß Beraubung an Nahrungsmitteln nur sehr widerstrebend ertragen wird und daß in der Regel große Dürftigkeit der Diät nur im Gefolge andrer, vorhergegangner Entbehrungen nachhinkt. Lange bevor der Nahrungsmangel hygienisch ins Gewicht fällt, lange bevor der Physiolog daran denkt, die Grane Stickstoff und Kohlenstoff zu zählen, zwischen denen Leben und Hungertod schwebt, wird der Haushalt von allem materiellen Komfort ganz und gar entblößt sein. Kleidung und Heizung werden noch dürftiger gewesen sein als die Speise. Kein hinreichender Schutz wider die Härte des Wetters; Abknappung des Wohnraums zu einem Grad, der Krankheiten erzeugt oder verschärft; kaum eine Spur von Hausgerät oder Möbeln, die Reinlichkeit selbst wird kostspielig oder schwierig geworden sein. Werden noch aus Selbstachtung Versuche gemacht, sie aufrechtzuerhalten, so repräsentiert jeder solcher Versuch zuschüssige Hungerpein. Die Häuslichkeit wird dort sein, wo Obdach am wohlfeilsten kaufbar; in Quartieren, wo die Gesundheitspolizei die geringste Frucht trägt, das jämmerlichste Gerinne, wenigster Verkehr, der meiste öffentliche Unrat, kümmerlichste oder schlechteste Wasserzufuhr und, in Städten, größter Mangel an Licht und Luft. Dies sind die Gesundheitsgefahren, denen die Armut unvermeidlich ausgesetzt ist, wenn diese Armut Nahrungsmangel einschließt. Wenn die Summe dieser Übel von furchtbarer Größe für das Leben ist, so ist der bloße Nahrungsmangel an sich selbst entsetzlich... Dies sind qualvolle Gedanken, namentlich wenn man sich erinnert, daß die Armut, wovon es sich handelt, nicht die selbstverschuldete Armut des Müßiggangs[686] ist. Es ist die Armut von Arbeitern. Ja, mit Bezug auf die städtischen Arbeiter ist die Arbeit, wodurch der knappe Bissen Nahrung erkauft wird, meist über alles Maß verlängert. Und dennoch kann man nur in sehr bedingtem Sinn sagen, daß diese Arbeit selbsterhaltend ist... Auf sehr großem Maßstab kann der nominelle Selbsterhalt nur ein kürzerer oder längerer Umweg zum Pauperismus sein.«925

Der innere Zusammenhang zwischen Hungerpein der fleißigsten Arbeiterschichten und auf kapitalistischer Akkumulation begründetem, grobem oder raffiniertem Verschwendungskonsum der Reichen enthüllt sich nur mit Kenntnis der ökonomischen Gesetze. Anders mit dem Wohnungszustand. Jeder unbefangne Beobachter sieht, daß je massenhafter die Zentralisation der Produktionsmittel, desto größer die entsprechende Anhäufung von Arbeitern auf demselben Raum, daß daher, je rascher die kapitalistische Akkumulation, desto elender der Wohnungszustand der Arbeiter. Die den Fortschritt des Reichtums begleitende »Verbesserung« (improvements) der Städte durch Niederreißen schlecht gebauter Viertel, Errichtung von Palästen für Banken, Warenhäuser usw., Streckung der Straßen für Geschäftsverkehr und Luxuskarossen, Einführung von Pferdebahnen usw. verjagt augenscheinlich die Armen in stets schlechtere und dichter gefüllte Schlupfwinkel. Andrerseits weiß jeder, daß die Teuerkeit der Wohnungen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Güte steht und daß die Minen des Elends von Häuserspekulanten mit mehr Profit und weniger Kosten ausgebeutet werden als jemals die Minen von Potosi. Der antagonistische Charakter der kapitalistischen Akkumulation und daher der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse überhaupt926 wird hier so handgreifbar, daß selbst die offiziellen englischen Berichte über diesen Gegenstand wimmeln von heterodoxen Ausfällen auf das »Eigentum und seine Rechte«. Das Übel hielt solchen Schritt mit der Entwicklung der Industrie, der Akkumulation des Kapitals, dem Wachstum und der »Verschönerung« der Städte, daß die bloße Furcht vor ansteckenden Krankheiten, welche auch der »Ehrbarkeit« nicht schonen, von 1847 bis 1864 nicht weniger als 10 gesundheitspolizeiliche Parlamentsakte ins Leben rief und die erschreckte Bürgerschaft in einigen Städten, wie Liverpool, Glasgow usw., durch ihre Munizipalität eingriff. Dennoch, ruft Dr. Simon in seinem Bericht von 1865: »Allgemein zu sprechen, sind die Übelstände in England unkontrolliert.«[687] Auf Befehl des Privy Council fand 1864 Untersuchung über die Wohnungsverhältnisse der Landarbeiter, 1865 über die der ärmeren Klassen in den Städten statt. Die meisterhaften Arbeiten des Dr. Julian Hunter findet man im siebenten und achten Bericht über »Public Health«. Auf die Landarbeiter komme ich später. Für den städtischen Wohnungszustand schicke ich eine allgemeine Bemerkung des Dr. Simon voraus:

»Obgleich mein offizieller Gesichtspunkt«, sagt er, »ausschließlich ärztlich ist, erlaubt die gewöhnlichste Humanität nicht, die andre Seite dieses Übels zu ignorieren. In seinem höheren Grad bedingt es fast notwendig eine solche Verleugnung aller Delikatesse, so schmutzige Konfusion von Körpern und körperlichen Verrichtungen, solche Bloßstellung geschlechtlicher Nacktheit, die bestial, nicht menschlich sind. Diesen Einflüssen unterworfen zu sein ist eine Erniedrigung, die sich vertieft, je länger sie fortwirkt. Für die Kinder, die unter diesem Fluch geboren sind, ist er Taufe in Infamie (baptism into infamy). Und über alles Maß hoffnungslos ist der Wunsch, daß unter solche Umstände gestellte Personen in andren Hinsichten nach jener Atmosphäre der Zivilisation aufstreben sollten, deren Wesen in physischer und moralischer Reinheit besteht.«927

Den ersten Rang in überfüllten oder auch für menschliche Behausung absolut unmöglichen Wohnlichkeiten nimmt London ein.

»Zwei Punkte«, sagt Dr. Hunter, »sind sicher; erstens gibt es ungefähr 20 große Kolonien in London, jede ungefähr 10000 Personen stark, deren elende Lage alles übersteigt, was jemals anderswo in England gesehen worden ist, und sie ist fast ganz das Resultat ihrer schlechten Hausakkommodation; zweitens, der überfüllte und verfallne Zustand der Häuser dieser Kolonien ist viel schlechter als 20 Jahre zuvor.«928 »Es ist nicht zuviel zu sagen, daß das Leben in vielen Teilen von London und Newcastle höllisch ist.«929

Auch der bessergestellte Teil der Arbeiterklasse, zusamt Kleinkrämern und andren Elementen der kleinen Mittelklasse, fällt in London mehr und mehr unter den Fluch dieser nichtswürdigen Behausungsverhältnisse, im Maße, wie die »Verbesserungen« und mit ihnen die Niederreißung alter[688] Straßen und Häuser fortschreiten, wie Fabriken und Menschenzustrom in der Metropole wachsen, endlich die Hausmieten mit der städtischen Grundrente steigen.

»Die Hausmieten sind so übermäßig geworden, daß wenige Arbeiter mehr als ein Zimmer zahlen können.«930

Es gibt fast kein Londoner Hauseigentum, das nicht mit einer Unzahl von »middlemen« belastet wäre. Der Preis des Bodens in London steht nämlich stets sehr hoch im Vergleich zu seinen jährlichen Einkünften, indem jeder Käufer darauf spekuliert, ihn früher oder später zu einem Jury Price (durch Geschworene festgesetzte Taxe bei Expropriationen) wieder loszuschlagen oder durch Nähe irgendeines großen Unternehmens außerordentliche Werterhöhung zu erschwindeln. Folge davon ist ein regelmäßiger Handel im Ankauf von Mietkontrakten, die ihrem Verfall nahen.

»Von den Gentlemen in diesem Geschäft kann man erwarten, daß sie handeln, wie sie handeln, so viel wie möglich aus den Hausbewohnern herausschlagen und das Haus selbst in so elendem Zustand wie möglich ihren Nachfolgern überlassen.«931

Die Mieten sind wöchentlich, und die Herren laufen kein Risiko. Infolge der Eisenbahnbauten innerhalb der Stadt

»sah man kürzlich im Osten Londons eine Anzahl aus ihren alten Wohnungen verjagter Familien umherwandern eines Samstags abends mit ihren wenigen weltlichen Habseligkeiten auf dem Rücken, ohne irgendeinen Haltplatz außer dem Workhouse«932.

Die Workhouses sind bereits überfüllt, und die vom Parlament bereits bewilligten »Verbesserungen« sind erst im Beginn ihrer Ausführung. Werden die Arbeiter verjagt durch Zerstörung ihrer alten Häuser, so verlassen sie nicht ihr Kirchspiel oder siedeln sich höchstens an seiner Grenze, im nächsten fest.

»Sie suchen natürlich möglichst in der Nähe ihrer Arbeitslokale zu hausen. Folge, daß an der Stelle von zwei Zimmern, eins die Familie aufnehmen muß. Selbst zu erhöhter Miete wird die Wohnlichkeit schlechter als die schlechte, woraus man sie verjagt. Die Hälfte der Arbeiter im Strand braucht bereits zwei Meilen Reise zum Arbeitslokal.«

Dieser Strand, dessen Hauptstraße auf den Fremden einen imposanten Eindruck vom Reichtum Londons macht, kann als Beispiel der Londoner[689] Menschenverpackung dienen. In einer Pfarrei desselben zählte der Gesundheitsbeamte 581 Personen auf den Acre, obgleich die Hälfte der Themse mit eingemessen war. Es versteht sich von selbst, daß jede gesundheitspolizeiliche Maßregel, die, wie das bisher in London der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem Viertel verjagt, nur dazu dient, sie in ein andres desto dichter zusammenzudrängen.

»Entweder«, sagt Dr. Hunter, »muß die ganze Prozedur als eine Abgeschmacktheit notwendig zum Stillstand kommen, oder die öffentliche Sympathie (!) muß erwachen für das, was man jetzt ohne Übertreibung eine nationale Pflicht nennen kann, nämlich Obdach für Leute zu verschaffen, welche aus Mangel an Kapital sich selbst keins verschaffen, wohl aber durch periodische Zahlung die Vermieter entschädigen können.«933

Man bewundre die kapitalistische Justiz! Der Grundeigentümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriiert durch »improvements«, wie Eisenbahnen, Neubau der Straßen usw., erhält nicht nur volle Entschädigung. Er muß für seine erzwungne »Entsagung« von Gott und Rechts wegen noch obendrein durch einen erklecklichen Profit getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe aufs Pflaster geworfen und – wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln drängt, wo die Munizipalität auf Anstand hält, gesundheitspolizeilich verfolgt!

Außer London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige Stadt in England, die 100000 Einwohner zählte. Nur fünf zählten mehr als 50000. Jetzt existieren 28 Städte mit mehr als 50000 Einwohnern.

»Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städtischen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind nun Zentra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luftzutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Reichen beziehn die größeren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermietern, für jedes Zimmer. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser, nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Umgebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinierend für die Kinder ist.«934

Je rascher das Kapital in einer industriellen oder kommerziellen Stadt akkumuliert, um so rascher der Zustrom des exploitablen Menschenmaterials, um so elender die improvisierten Wohnlichkeiten der Arbeiter.[690] Newcastle-upon-Tyne, als Zentrum eines fortwährend ergiebigeren Kohlen- und Bergbaudistrikts, behauptet daher nach London die zweite Stelle in dem Wohnungsinferno. Nicht minder als 34000 Menschen hausen dort in Einzelkammern. Infolge absoluter Gemeinschädlichkeit sind kürzlich in Newcastle und Gateshead Häuser in bedeutender Anzahl von Polizei wegen zerstört worden. Der Bau der neuen Häuser geht sehr langsam voran, das Geschäft sehr rasch. Die Stadt war daher 1865 überfüllter als je zuvor. Kaum eine einzelne Kammer war zu vermieten. Dr. Embleton vom Newcastle Fieberhospital sagt:

»Ohne allen Zweifel liegt die Ursache der Fortdauer und Verbreitung des Typhus in der Überhäufung menschlicher Wesen und der Unreinlichkeit ihrer Wohnungen. Die Häuser, worin die Arbeiter häufig leben, liegen in abgeschloßnen Winkelgassen und Höfen. Sie sind mit Bezug auf Licht, Luft, Raum und Reinlichkeit wahre Muster von Mangelhaftigkeit und Ungesundheit, eine Schmach für jedes zivilisierte Land. Dort liegen Männer, Weiber und Kinder des Nachts zusammengehudelt. Was die Männer angeht, folgt die Nachtschicht der Tagesschicht in ununterbrochnem Strom, so daß die Betten kaum Zeit zur Abkühlung finden. Die Häuser sind schlecht mit Wasser versehn und schlechter mit Abtritten, unflätig, unventiliert, pestilenzialisch.«935

Der Wochenpreis solcher Löcher steigt von 8 d. zu 3 sh.

»Newcastle-upon-Tyne«, sagt Dr. Hunter, »bietet das Beispiel eines der schönsten Stämme unsrer Landsleute, der durch die äußern Umstände von Behausung und Straße oft in eine beinah wilde Entartung versunken ist.«936

Infolge des Hin- und Herwogens von Kapital und Arbeit mag der Wohnungszustand einer industriellen Stadt heute erträglich sein, morgen wird er abscheulich. Oder die städtische Ädilität mag endlich sich aufgerafft haben zur Beseitigung der ärgsten Mißstände. Morgen wandert ein Heuschreckenschwarm von verlumpten Irländern oder verkommenen englischen Agrikulturarbeitern ein. Man steckt sie weg in Keller und Speicher oder verwandelt das früher respektable Arbeiterhaus in ein Logis, worin das Personal so rasch wechselt wie die Einquartierung während des Dreißigjährigen Kriegs. Beispiel: Bradford. Dort war der Munizipalphilister eben mit Stadtreform beschäftigt. Zudem gab es daselbst 1861 noch 1751 unbewohnte Häuser. Aber nun das gute Geschäft, worüber der sanft liberale Herr Forster, der Negerfreund, jüngst so artig gekräht hat. Mit dem guten Geschäft natürlich Überflutung durch die Wellen der stets wogenden[691] »Reservearmee« oder »relativen Übervölkerung«. Die scheußlichen Kellerwohnungen und Kammern, registriert in der Liste (Note937), die Dr. Hunter vom Agenten einer Assekuranzgesellschaft erhielt, waren meist von gutbezahlten Arbeitern bewohnt. Sie erklärten, sie würden gern bessere Wohnungen zahlen, wenn sie zu haben wären. Unterdes verlumpen und verkranken sie mit Mann und Maus, während der sanftliberale Forster, M. P., Tränen vergießt über die Segnungen des Freihandeis und die Profite der eminenten Bradforder Köpfe, die in Worsted machen. Im Bericht vom 5. September 1865 erklärt Dr. Bell, einer der Armenärzte von Bradford,[692] die furchtbare Sterblichkeit der Fieberkranken seines Bezirks aus ihren Wohnungsverhältnissen:

»In einem Keller von 1500 Kubikfuß wohnen 10 Personen... Die Vincentstraße, Green Air Place und the Leys bergen 223 Häuser mit 1450 Einwohnern, 435 Betten und 36 Abtritten... Die Betten, und darunter verstehe ich jede Rolle von schmutzigen Lumpen oder Handvoll von Hobelspänen, halten jedes im Durchschnitt 3,3 Personen, manches 4 und 6 Personen. Viele schlafen ohne Bett auf nacktem Boden in ihren Kleidern, junge Männer und Weiber, verheiratet und unverheiratet, alles kunterbunt durcheinander. Ist es nötig hinzuzufügen, daß diese Hausungen meist dunkle, feuchte, schmutzige Stinkhöhlen sind, ganz und gar unpassend für menschliche Wohnung? Es sind die Zentra, wovon Krankheit und Tod ausgehn und ihre Opfer auch unter den Gutgestellten (of good circumstances) packen, welche diesen Pestbeulen erlaubt haben, in unsrer Mitte zu eitern.«938

Bristol behauptet den dritten Rang nach London im Wohnungselend.

»Hier, in einer der reichsten Städte Europas, größter Überfluß an barster Armut (blank poverty) und häuslichem Elend. «939

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 23, S. 683-693.
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