3. »Das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft«

[63] Nachdem Eugen Sue uns durch die niedrigsten Schichten der Gesellschaft, z.B. die Verbrecherkneipen, geführt hat, versetzt er uns in die haute volée, auf einen Ball im Quartier Saint-Germain.[63]

Herr Szeliga konstruiert diesen Übergang wie folgt:

»Das Geheimnis sucht sich der Betrachtung mit einer... Wendung zu entziehen, bisher stand es als das absolut Rätselhafte, aller Halt- und Faßbarkeit Entschlüpfende, Negative, dem Wahrhaften, Realen, Positiven gegenüber, jetzt zieht es sich in dasselbe als dessen unsichtbaren Inhalt hinein. Damit gibt es aber auch die unbedingte Möglichkeit, erkannt zu werden, auf.«

»Das Geheimnis«, welches bisher dem »Wahrhaften«, »Realen«, »Positiven«, nämlich dem Recht und der Bildung gegenüberstand, »zieht sich jetzt in dasselbe«, nämlich in die Region der Bildung hinein. Daß die haute volée die ausschließliche Region der Bildung ist, ist ein mystère, wenn nicht von, so doch für Paris. Herr Szeliga geht nicht von den Geheimnissen der Verbrecherwelt zu den Geheimnissen der aristokratischen Gesellschaft über, sondern »das Geheimnis« wird der »unsichtbare Inhalt« der gebildeten Gesellschaft, ihr eigentliches Wesen. Es ist »keine neue Wendung« des Herrn Szeliga, um weitere Betrachtungen anknüpfen zu können, sondern »das Geheimnis« nimmt diese »neue Wendung«, um sich der Betrachtung zu entziehen.

Herr Szeliga, ehe er wirklich dem Eugen Sue dahin folgt, wohin ihn sein Herz treibt, nämlich auf den aristokratischen Ball, gebraucht vorher noch die heuchlerischen Wendungen der Spekulation, die a priori konstruiert.

»Freilich ist vorauszusehn, welch ein festes Gehäuse sich ›das Geheimnis‹ zu seiner Verhüllung wählen wird, und in der Tat, es scheint, als sei es eine unüberwindliche Undurchdringlichkeit... daß... läßt sich daraus erwarten, daß überhaupt... dennoch ist ein neuer Versuch, den Kern auszubrechen, hier unerläßlich

Genug, Herr Szeliga ist so weit, daß das

»metaphysische Subjekt, das Geheimnis – jetzt leicht, ungeniert, kokett auftritt.«

Um nun die aristokratische Gesellschaft in ein »Geheimnis« zu verwandeln, stellt Herr Szeliga einige Reflexionen über die »Bildung« an. Er setzt lauter Eigenschaften der aristokratischen Gesellschaft voraus, die kein Mensch in ihr sucht, um hinterher das »Geheimnis« zu finden, daß sie diese Eigenschaften nicht besitzt. Er gibt sodann diese Entdeckung für das »Geheimnis« der gebildeten Gesellschaft aus. So fragt sich Herr Szeliga z.B., ob »die allgemeine Vernunft« – etwa die spekulative Logik? – den Inhalt ihrer »geselligen Unterhaltungen« bilde, ob »der Rhythmus und das Maß der Liebe allein« sie zu einem »harmonischen Ganzen macht«, ob das, »was wir allgemeine[64] Bildung nennen, die Form des Allgemeinen, Ewigen, Idealen ist«, d.h. ob das, was wir Bildung nennen, eine metaphysische Einbildung ist? Auf seine Fragen hat Herr Szeliga leicht a priori prophezeien:

»Daß die Antwort übrigens verneinend ausfallen werde... läßt sich erwarten

In dem Roman Eugen Sues ist der Übergang aus der niedrigen in die vornehme Welt ein gewöhnlicher Romanübergang. Die Verkleidungen Rudolphs, Fürsten von Geroldstein, führen ihn in die unteren Schichten der Gesellschaft, wie sein Rang ihm die hohem Kreise derselben zugänglich macht. Auf dem Wege nach dem aristokratischen Ball sind es auch keinesweges die Kontraste der jetzigen Weltzustände, worüber er reflektiert; es sind seine eignen kontrastierenden Vermummungen, die ihm pikant erscheinen. Er teilt seinen gehorsamsten Begleitern mit, wie überaus interessant er sich selbst in den verschiednen Situationen finde.

»Je trouve«, sagt er, »assez de piquant dans ces contrastes: un jour peintre en éventails, m'établant dans un bouge de la rue aux Fèves; ce marin commis marchand offrant un verrede cassis à Madame Pipelet, et ce soir... un des privilégiés par la grâce de dieu, qui règnent sur ce monde.«

Auf den Ball eingeführt, singt die kritische Kritik:


Sinn und Verstand vergeht mir schier,

Seh ich mich unter Potentaten hier!


Sie ergießt sich in Dithyramben wie folgt:

»Hier ist Sonnenglanz in die Nacht, Frühlingsgrün und die Pracht des Sommers in den Winter hineingezaubert. Wir fühlen uns sogleich in der Stimmung, an das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen zu glauben, zumal wenn Schönheit und Grazie die Überzeugung unterstützen, daß wir uns in der unmittelbaren Nähe von Idealen befinden.« (!!!)

Unerfahrner, leichtgläubiger, kritischer Landpfarrer! Nur deine kritische Einfalt kann sich von einem eleganten Pariser Ballsaal sogleich in die abergläubige »Stimmung versetzen lassen«, an »das Wunder der göttlichen Gegenwart im Menschenbusen« zu glauben und in Pariser Löwinnen »unmittelbare Ideale«, leibhafte Engel zu erblicken![65]

In seiner salbungsvollen Naivität belauscht der kritische Pfarrer die zwei »Schönsten unter den Schönen«, die Clémence von Harville und die Gräfin Sarah MacGregor. Man errate, was er von ihnen »ablauschen« will:

»auf welche Weise wir den Segen geliebter Kinder, die ganze Fülle des Glücks eines Gatten zu sein, fähig sein können«! ... »Wir hören... wir staunen... wir trauen unseren Ohren nicht.«

Wir empfinden eine geheime Schadenfreude, wenn der lauschende Pastor enttäuscht wird. Die Damen unterhalten sich weder von »dem Segen« noch »von der Fülle«, noch von der »allgemeinen Vernunft«, es ist vielmehr »auf eine Untreue gegen den Gatten der Frau von Harville abgesehn.«

Über die eine der Damen, die Gräfin MacGregor, erhalten wir folgenden naiven Aufschluß:

Sie war »unternehmend genug, um infolge einer geheimen Ehe Mutter eines Kindes zu werden.«

Von diesem Unternehmungsgeist der Gräfin unangenehm berührt, liest ihr Herr Szeliga den Text.

»Wir finden das ganze Streben der Gräfin auf individuellen, egoistischen Vorteil gerichtet.«

Ja, von der Erreichung ihres Zweckes, der Heirat mit dem Fürsten von Geroldstein, verspricht er sich gar nichts Gutes:

»wovon wir uns gar nicht versprechen dürfen, daß sie ihn für das Glück der Untertanen des Fürsten von Geroldstein anwenden wird.«

Mit »gesinnungsreichem Ernst« schließt der Puritaner seinen Strafsermon:

»Sarah« (die unternehmende Dame) »ist übrigens nicht etwa eine Ausnahme in diesen glänzenden Zirkeln, wenn auch eine Spitze

Übrigens nicht etwa! Wenn auch! Und die »Spitze« eines Zirkels wäre keine Ausnahme?

Über den Charakter zweier andern Ideale, der Marquise von Harville und der Herzogin von Lucenay, erfahren wir:

Ihnen »›fehlt die Befriedigung des Herzens‹. Sie haben in der Ehe nicht den Gegenstand der Liebe gefunden, so suchen sie nun außerhalb der Ehe den Gegenstand der Liebe. Die Liebe ist ihnen in der Ehe ein Geheimnis geblieben, welches gleichfalls zu enthüllen sie von dem gebieterischen Drange des Herzens angetrieben werden. So ergeben sie sich denn der geheimnisvollen Liebe. Diese ›Opfer‹ der ›lieblosen Ehe‹ werden, unwillkürlich dahin gedrängt, die Liebe selbst zu einem Äußeren, einem sogenannten[66] Verhältnis, herabzusetzen und für das Innere, Belebende, Wesentliche der Liebe das Romantische, das Geheimnis zu halten.«

Das Verdienst dieser dialektischen Entwickelung ist um so höher anzuschlagen, je mehr sie sich einer allgemeinen Anwendbarkeit erfreut.

Z.B. wer in seinem eigenen Hause nicht trinken darf und doch das Bedürfnis des Trinkens in sich fühlt, sucht den »Gegenstand« des Trunkes »außerhalb« des Hauses und ergibt sich »denn so« dem geheimnisvollen Trunke. Ja, er wird dahin getrieben, das Geheimnis für ein wesentliches Ingredienz des Trinkens anzusehen, obgleich er den Trunk nicht zu einem bloß »Äußern«, Gleichgültigen herabsetzen wird, so wenig wie jene Damen die Liebe. Sie setzen ja nach der Erklärung des Herrn Szeliga selbst nicht die Liebe, sondern die lieblose Ehe zu dem herab, was sie wirklich ist, zu einem Äußern, zu einem sogenannten Verhältnis.

»Was ist«, heißt es nun weiter, »das ›Geheimnis‹ der Liebe?«

Wir hatten soeben schon konstruiert, daß »das Geheimnis« das »Wesen« dieser Art von Liebe ist. Wie kommen wir nun dazu, nach dem Geheimnis des Geheimnisses, nach dem Wesen des Wesens zu suchen?

»Nicht«, deklamiert der Pfarrer, »nicht die schattigen Gänge in den Gebüschen, nicht das natürliche Halbdunkel der Mondnacht, nicht das künstliche, welches von köstlichen Gardinen und Vorhängen erzeugt wird, nicht der sanfte und betäubende Ton der Harfen und Orgeln, nicht die Macht des Verbotnen...«

Gardinen und Vorhänge! Ein sanfter und betäubender Ton! Und nun gar die Orgeln! Schlage sich der Herr Pfarrer doch die Kirche aus dem Sinn! Wer wird Orgeln zu einem Liebesrendezvous mitbringen?

»Dies alles« (Gardinen und Vorhänge und Orgeln) »Ist nur das Geheimnisvolle

Und das Geheimnisvolle wäre nicht das »Geheimnis« der geheimnisvollen Liebe? Keineswegs:

»Das Geheimnis darin ist das Erregende, Berauschende, Betäubende, die Gewalt der Sinnlichkeit

In dem »sanften und betäubenden« Ton besaß der Pfarrer schon das Betäubende. Hätte er nun statt der Gardinen und Orgeln Schildkrötensuppe und Champagner zu seinem Liebesrendezvous mitgebracht, so fehlte auch das »Erregende und Berauschende« nicht.

»Die Gewalt der Sinnlichkeit«, doziert der heilige Herr, »wollen wir uns zwar nicht eingestehen; sie hat aber nur darum eine so ungeheure Macht über uns, weil wir sie aus uns herausbannen, nicht als unsre eigne Natur anerkennen – unsre eigne Natur, welche wir dann auch zu bewältigen imstande wären, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft, der wahren Liebe, der Kraft des Willens geltend zu machen strebt.«[67]

Nach der Weise der spekulativen Theologie rät uns der Pastor, die Sinnlichkeit als unsre eigne Natur anzuerkennen, um imstande zu sein, sie hinterher zu bewältigen, d.h. um ihre Anerkennung zurückzunehmen. Er will sie zwar nur bewältigen, sobald sie sich auf Kosten der Vernunft – die Willenskraft und die Liebe im Gegensatz zur Sinnlichkeit sind nur die Willenskraft und die Liebe der Vernunft – geltend machen will. Auch der unspekulative Christ erkennt die Sinnlichkeit an, soweit sie sich nicht auf Kosten der wahren Vernunft, nämlich des Glaubens, der wahren Liebe, nämlich der Liebe zu Gott, der wahren Willenskraft, nämlich des Willens in Christo, geltend macht.

Der Pfarrer verrät uns sogleich seine wahre Meinung, wenn er fortfährt:

»Hört also die Liebe auf, das Wesentliche der Ehe, der Sittlichkeit überhaupt zu sein, so wird die Sinnlichkeit das Geheimnis der Liebe, der Sittlichkeit, der gebildeten Gesellschaft – Sinnlichkeit sowohl in ihrer ausschließlichen Bedeutung, wo sie das Zittern der Nerven, der glühende Strom in den Adern ist, als auch in der umfassenderen, als welche sie sich zu einem Schein geistiger Macht steigert, zu Herrschsucht, Ehrgeiz, Ruhmbegier sich erhebt... Die Gräfin MacGregor repräsentiert« die letztere Bedeutung »der Sinnlichkeit, als des Geheimnisses der gebildeten Gesellschaft.«

Der Pfarrer trifft den Nagel auf den Kopf. Um die Sinnlichkeit zu überwältigen, muß er vor allem die Nervenströmungen und den raschen Blutumlauf überwältigen. – Herr Szeliga glaubt im »ausschließlichen« Sinne, daß die größere Körperwärme von dem Glühen des Bluts in den Adern herkömmt, er weiß nicht, daß die warmblütigen Tiere warmblütig heißen, weil ihre Blutwärme, geringe Modifikationen abgerechnet, sich immer auf derselben Höhe erhält. – Sobald die Nerven nicht mehr strömen und das Blut in den Adern nicht mehr glüht, ist der sündige Leib, dieser Sitz der sinnlichen Gelüste, zu einem stillen Mann gemacht, und die Seelen können sich ungehindert von der »allgemeinen Vernunft«, der »wahren Liebe« und der »reinen Moral« unterhalten. Der Pastor degradiert die Sinnlichkeit so sehr, daß er grade die Momente der sinnlichen Liebe aufhebt, die sie begeistern – den raschen Blutumlauf, welcher beweist, daß der Mensch nicht mit sinnlosem Phlegma liebt, die Nervenströmungen, welche das Organ, das den Hauptsitz der Sinnlichkeit bildet, mit dem Gehirne verbinden. Er reduziert die wahre sinnliche Liebe auf die mechanische secretio seminis und lispelt mit einem berüchtigten deutschen Theologen:

»Nicht um sinnlicher Liebe halber, nicht um fleischlicher Gelüste willen, sondern weil der Herr gesagt hat: Seid fruchtbar und mehret euch.«[68]

Vergleichen wir nun die spekulative Konstruktion mit dem Roman Eugen Sues. Es ist nicht die Sinnlichkeit, welche für das Geheimnis der Liebe ausgegeben wird, es sind Mysterien, Abenteuer, Hindernisse, Ängste, Gefahren und namentlich die Macht des Verbotnen.

»Pourquoi«, heißt es, »beaucoup de femmes prennent-elles pourtant des hommes qui ne valent pas leurs maris? Parceque le plus grand charme de l'amour est l'attrait affriandant du fruit défendu... avancez que, en retranchant de cet amour les craintes, les angoisses, les difficultés, les mystères, les dangers, il ne reste rien ou peu de chose, c'est-à-dire, l'amant... dans sa simplicité première... en un mot, ce serait toujours plus ou moins l'aventure de cet homme à qui l'on disait: ›Pourquoi n'épousez-vous donc pas cette veuve, votre maîtresse?‹ – ›Hélas, j'y ai bien pensé‹ – répondit – il – ›mais alors je ne saurais plus où aller passer mes soirées.‹«

Während Herr Szeliga ausdrücklich die Macht des Verbotnen nicht für das Geheimnis der Liebe erklärt, erklärt Eugen Sue sie ebenso ausdrücklich für »den größten Reiz der Liebe« und für den Grund der Liebesabenteuer extra muros.

»La prohibition et la contrebande sont inseparables en amour comme en marchandise.«

Ebenso behauptet Eugen Sue im Gegensatz zu seinem spekulativen Exegeten, daß

»der Hang zur Verstellung und zur List, der Geschmack für die Geheimnisse und für die Intrigen, eine wesentliche Eigenschaft, ein natürlicher Hang und ein gebieterischer Instinkt der weiblichen Natur sei.«

Nur die Richtung dieses Hanges und dieses Geschmacks gegen die Ehe geniert Herrn Eugen Sue. Er will den Trieben der weiblichen Natur eine harmlosere, nützlichere Anwendung geben.

Während Herr Szeliga die Gräfin MacGregor zur Repräsentantin jener Sinnlichkeit macht, die sich zum »Schein einer geistigen Macht steigert«, ist sie bei Eugen Sue ein abstrakter Verstandesmensch. Ihr »Ehrgeiz« und ihr[69] »Stolz«, weit entfernt. Formen der Sinnlichkeit zu sein, sind Ausgeburten eines von der Sinnlichkeit völlig unabhängigen, abstrakten Verstandes. Eugen Sue bemerkt daher ausdrücklich, daß

»nie die feurigen Eingebungen der Liebe ihren eiskalten Busen schlagen ließen, daß keine Überraschung des Herzens oder der Sinne die unbarmherzigen Berechnungen dieser verschlagnen, egoistischen und ehrsüchtigen Frau stören konnten.«

Der Egoismus des abstrakten, von den sympathetischen Sinnen nicht leidenden, mit Blut nicht durchtränkten Verstandes bildet den wesentlichen Charakter dieser Frau. Ihre Seele wird daher als »trocken-hart.« Ihr Geist als »gewandt-boshaft«, ihr Charakter als »heimtückisch« und – sehr bezeichnend für den abstrakten Verstandesmenschen – als »absolut.« Ihre Verstellung als »tief« geschildert. – Nebenbei bemerkt, motiviert Eugen Sueden Lebenslauf der Gräfin so albern wie der meisten seiner Romancharaktere. Eine alte Amme bildet ihr ein, daß sie ein »gekröntes Haupt« werden muß. Sie begibt sich in dieser Einbildung auf Reisen, um eine Krone zu erheiraten. Sie begeht endlich die Inkonsequenz, einen kleinen deutschen Serenissimus für ein »gekröntes Haupt« zu halten.

Nach seinen Expektorationen gegen die Sinnlichkeit muß unser kritischer Heiliger noch demonstrieren, warum Eugen Sue auf einem Ball in die haute volée einführt, eine Einführungsmethode, die sich fast bei allen französischen Romanschreibern findet, während die englischen häufiger auf einer Jagdpartie oder auf einem Landschloß in die schöne Welt einführen.

»Es kann für diese« (nämlich Herrn Szeligas) »Auffassung nicht gleichgültig und da« (in Szeligas Konstruktion) »bloß zufällig sein, daß Eugen Sue uns gerade auf einem Balle in die große Welt einführt.«

Nun ist dem Roß der Zügel schießen gelassen, und es trabt frisch in einer Reihe von Konklusionen, alt-Wolfischen Angedenkens, der Notwendigkeit zu.

»Der Tanz ist die allgemeinste Erscheinung der Sinnlichkeit als Geheimnis. Die unmittelbare Berührung, die Umschließung der beiden Geschlechter (?), welche das Paar bedingt, werden im Tanze gestattet, weil sie trotz des Augenscheins und der dabei sich wirklich« – wirklich, Herr Pfarrer? – »fühlbar machenden süßen Empfindung doch nicht als sinnliche« – sondern wohl als allgemein vernünftige? – »Berührung und Umschließung gelten.«

Und nun ein Schlußsatz, der höchstens auf der Hacke tanzt:

»Dem gälte sie in der Tat dafür, so wäre nicht einzusehn, warum die Gesellschaft bloß beim Tanze diese Nachsicht übte, während sie umgekehrt mit so harter Verdammung[70] verfolgt, was, wenn es sich anderwärts mit gleicher Freiheit zeigen wollte, als unverzeihlichster Verstoß gegen Sitte und Scham, Brandmarkung und unbarmherzigste Ausstoßung nach sich zieht.«

Der Herr Pfarrer spricht weder von dem Cancan noch von der Polka, sondern von dem Tanze schlechthin, von der Kategorie des Tanzes, die nirgends getanzt wird als unter seinem kritischen Hirnschädel. Er sehe sich einmal einen Tanz auf dem Pariser Chaumière an, und sein christlich-germanisches Gemüt wird sich empören über diese Keckheit, diese Offenherzigkeit, diesen graziösen Mutwillen, diese Musik der sinnlichsten Bewegung. Seine eigne »sich wirklich fühlbar machende süße Empfindung« würde ihm »fühlbar« machen, daß »in der Tat nicht einzusehen wäre, warum die Tanzenden selbst, während sie umgekehrt« auf den Zuschauer den erhebenden Eindruck einer offenherzigen, menschlichen Sinnlichkeit machen, »was, wenn es sich anderwärts«, namentlich in Deutschland, »In gleicher Weise äußerte, als unverzeihlicher Verstoß« etc. etc. Nicht um auch, wenigstens sozusagen, in ihren eignen Augen offenherzig sinnliche Menschen nicht nur sein sollen und dürfen, sondern auch können und müssen müssen!!

Der Kritiker läßt uns, dem Wesen des Tanzes zulieb, auf dem Ball eingeführt werden. Er findet eine große Schwierigkeit. Auf diesem Ball wird zwar getanzt, aber nur in der Einbildung. Eugen Sue schildert den Tanz nämlich mit keinem Worte. Er mischt sich nicht unter das Gewühl der Tanzenden. Er benutzt den Ball nur als Gelegenheit, um die aristokratische Vordergruppe zusammenzubringen. In ihrer Verzweiflung greift »die Kritik« dem Dichter ergänzend unter die Arme, und ihre eigne »Phantasie« zeichnet mit Leichtigkeit Ballerscheinungen etc. Wenn Eugen Sue nach kritischer Vorschrift bei der Schilderung der Verbrecherschlupfwinkel und Verbrechersprache kein unmittelbares Interesse an der Schilderung dieser Schlupfwinkel und dieser Sprache hatte, so ist ihm dagegen der Tanz, den nicht er selbst, sondern sein »phantasievoller« Kritiker zeichnet, notwendig von unendlichem Interesse.

Weiter!

»In der Tat, das Geheimnis des geselligen Tons und Takts – das Geheimnis dieser äußersten Unnatur – ist die Sehnsucht, zur Natur zurückzukehren. Darum wirkt eine Erscheinung wie die Cecilys in der gebildeten Gesellschaft auch so elektrisch, ist von so ungemeinen Erfolgen gekrönt. Ihr, aufgewachsen als Sklavin unter Sklaven, ohne Bildung, allein angewiesen auf ihre Natur – ist diese Natur der alleinige Lebensquell. Plötzlich nun an einen Hof unter Zwang und Sitte versetzt, lernt sie das Geheimnis derselben bald durchschauen... In dieser Sphäre, die sie unbedingt beherrschen kann, da ihre Macht, die Macht ihrer Natur, für einen rätselhaften Zauber gilt, muß Cecily notwendig ins Maßlose verirren, während einst, als sie noch Sklavin war,[71] dieselbe Natur sie lehrte, jedem unwürdigen Ansinnen des mächtigen Herrn Widerstand zu leisten und ihrer Liebe die Treue zu bewahren, Cecily ist das enthüllte Geheimnis der gebildeten Gesellschaft. Die verachteten Sinne durchbrochen am Ende die Dämme und schießen in gänzlicher Zügellosigkeit dahin« etc.

Der Leser Herrn Szeligas, dem der Suesche Roman unbekannt ist, glaubt unfehlbar, Cecily sei die Löwin des geschilderten Balles. In dem Roman sitzt sie in einem deutschen Zuchthaus, während in Paris getanzt wird.

Cecily bleibt als Sklavin denn Negerarzte David treu, weil sie ihn »leidenschaftlich« liebt und weil ihr Eigentümer, Herr Willis, »brutal« um sie wirbt. Ihr Übergang zu einer ausschweifenden Lebensart wird sehr einfach motiviert. In die »europäische Welt« versetzt, »errötet« sie darüber, mit »einem Neger verehlicht zu sein.« Nachdem sie in Deutschland angekommen ist, wird sie »sogleich« von einem schlechten Subjekt depraviert, und ihr »indianisches Blut« macht sich geltend, das der heuchlerische Herr Sue, der douce morale und dem doux commerce zuliebe, als eine »perversité naturelle« charakterisieren muß.

Das Geheimnis der Cecily ist die Mestize. Das Geheimnis ihrer Sinnlichkeit ist die tropische Glut. Parny in seinen schönen Gedichten an die Eleonore hat die Mestize gefeiert. Wie gefährlich sie dem französischen Matrosen ist, ist in mehr als hundert Reisebeschreibungen zu lesen.

»Cecily était le type incarné de la sensualité brûlante, qui ne s'allume qu'au feu des tropiques... Tout le monde à entendu parler de ces filles de couleur, pour ainsi dire mortelles aux Européens, de ces vampyrs enchanteurs, qui, enivrant leurs victimes de séductions terribles... ne lui laissent, selon l'énergique expression du pays, que ses larmes à boire, que son coeur à ronger.«

Weit entfernt, daß Cecily grade auf aristokratisch-gebildete, blasierte Leute so magisch einwirkte...

»les femmes de l'espèce de Cecily exercent une action soudaine, une omnipotence magique sur les hommes de sensualité brutale tels que Jacques Ferrand

Und seit wann repräsentieren Leute wie Jacques Ferrand die feine Gesellschaft? Aber die kritische Kritik mußte Cecily als ein Moment im Lebensprozesse des absoluten Geheimnisses konstruieren.[72]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 63-73.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon