4. Das enthüllte Geheimnis des »Standpunktes«

[203] »Nicht auf seinem erhabenen (!) Standpunkt bleibt Rudolph stehen... er scheut die Mühe nicht, die Standpunkte rechts und links, den oben, den in der Tiefe, aus freier Wahl einzunehmen.« Szeliga.

Ein Hauptgeheimnis der kritischen Kritik ist der »Standpunkt« und die Beurteilung vom Standpunkte des Standpunktes. Jeder Mensch wie jedes geistige Produkt verwandelt sich ihr in einen Standpunkt.

Es ist nichts leichter, als hinter das Geheimnis des Standpunktes zu kommen, wenn man das allgemeine Geheimnis der kritischen Kritik, alten, spekulativen Kohl neu aufzuwärmen, durchschaut hat.

Zunächst spreche sich die Kritik selbst durch den Mund des Patriarchen, des Herrn Bruno Bauer, über ihre Theorie des »Standpunktes« aus.

»Die Wissenschaft... hat es nie mit diesem einzelnen Individuum oder diesem bestimmten Standpunkt zu tun... Sie wird es allerdings nicht daran fehlen lassen und die Schranke eines Standpunktes, wenn es sich der Mühe verlohnt und diese Schranke wirklich allgemeine menschliche Bedeutung hat, aufheben; aber sie faßt dieselbe als reine Kategorie und Bestimmtheit des Selbstbewußtseins und spricht demnach nur für diejenigen, welche die Kühnheit haben, sich in die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins zu erheben, d. h. in jener Schranke nicht mit aller Gewalt stehenbleiben wollen.« (»Anekdota«, T. II, p. 127.)

Das Geheimnis dieser Bauerschen Kühnheit ist die Hegelsche »Phänomenologie.« Weil Hegel hier das Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur als eine bestimmte Form, als eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist aber eine »reine Kategorie«, ein bloßer »Gedanke«, den ich daher auch im »reinen« Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels »Phänomenologie« werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein »Gedankending«, in eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im »Äther des reinen Gedankens« auflösen kann. Die »Phänomenologie« endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das »absolute Wissen« zu setzen – Wissen, weil dies die einzige Daseinsweise des Selbstbewußtseins ist und weil das Selbstbewußtsein für die[203] einzige Daseinsweise des Menschen gilt – absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewußtsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird. Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewußtseins, statt das Selbstbewußtsein zum Selbstbewußtsein des Menschen, des wirklichen, daher auch in einer wirklichen, gegenständlichen Welt lebenden und von ihr bedingten Menschen zu machen. Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen, wodurch sie natürlich für die schlechte Sinnlichkeit, für den wirklichen Manschen bestehenbleiben. Überdem gilt ihm notwendigerweise alles das als Schranke, was die Beschränktheit des allgemeinen Selbstbewußtseins verrät, alle Sinnlichkeit, Wirklichkeit, Individualität der Menschen wie ihrer Welt. Die ganze »Phänomenologie« will beweisen, daß das Selbstbewußtsein die einzige und alle Realität ist.

Herr Bauer hat in neuerer Zeit das absolute Wissen in Kritik umgetauft und die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins in den profaner klingenden Standpunkt. In den »Anekdotis« stehen noch beide Namen zusammen, und der Standpunkt wird noch durch die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins kommentiert.

Weil die »religiöse Welt als religiöse Welt« nur als die Welt des Selbstbewußtseins existiert, so kann der kritische Kritiker – Theologe ex professo – gar nicht auf den Gedanken geraten, daß es eine Welt gibt, worin Bewußtsein und Sein unterschieden sind, eine Welt, die nach wie vor stehenbleibt, wenn ich bloß ihr Gedankendasein, ihr Dasein als Kategorie, als Standpunkt aufhebe, d.h., wenn ich mein eignes subjektives Bewußtsein modifiziere, ohne die gegenständliche Wirklichkeit auf wirklich gegenständliche Weise zu verändern, d.h., ohne meine eigne gegenständliche Wirklichkeit zu verändern, meine eigne und die der andern Menschen. Die spekulative mystische Identität von Sein und Denken wiederholt sich daher in der Kritik als die gleich mystische Identität von Praxis und Theorie. Daher ihr Ärger gegen die Praxis, die noch etwas anders als Theorie, und gegen die Theorie, die noch etwas anders als die Auflösung einer bestimmten Kategorie in die »schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins« sein will. Ihre eigne Theorie beschränkt sich darauf, alles Bestimmte für einen Gegensatz gegen die schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, daher für nichtig zu erklären, so z.B. den Staat, das Privateigentum usw. Es muß umgekehrt gezeigt werden, wie Staat, Privateigentum usw. die Menschen in Abstraktionen verwandeln oder Produkte des abstrakten Menschen sind, statt die Wirklichkeit der individuellen, konkreten Menschen zu sein.[204]

Es versteht sich endlich von selbst, daß, wenn Hegels »Phänomenologie« ihrer spekulativen Erbsünde zum Trotz an vielen Punkten die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt, Herr Bruno und Konsorten dagegen nur die inhaltslose Karikatur liefern, eine Karikatur, die sich damit begnügt, irgendeine Bestimmtheit aus einem geistigen Produkt oder auch aus realen Verhältnissen und Bewegungen herauszunehmen, diese Bestimmtheit in eine Gedankenbestimmtheit, in eine Kategorie zu verwandeln und diese Kategorie für den Standpunkt des Produkts, des Verhältnisses und der Bewegung auszugeben, um nun mit altkluger Weisheit vom Standpunkt der Abstraktion, der allgemeinen Kategorie, des allgemeinen Selbstbewußtseins auf diese Bestimmtheit triumphierend herabsehen zu können.

Wie für Rudolph alle Menschen auf dem Standpunkt des Guten oder Bösen stehen und nach diesen beiden fixen Vorstellungen beurteilt werden, so für Herrn Bauer und Konsorten auf dem Standpunkte der Kritik oder der Masse. Beide aber verwandeln die wirklichen Menschen in abstrakte Standpunkte.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 203-205.
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