5. Enthüllung des Geheimnisses von der Utilisierung der menschlichen Triebe oder Clemence d'Harville

[205] Rudolph hat bisher nur die Guten in seiner Weise zu belohnen und die Bösen in seiner Weise zu bestrafen gewußt. Wir werden ihn nun an einem Beispiel die Leidenschaften nützlich machen und dem »schönen Naturell der Clemence von Harville eine angemessene Entwicklung geben sehen.«

»Rudolph«, sagt Herr Szeliga, »weist sie auf die unterhaltende Seite der Wohltätigkeit hin. Ein Gedanke, der von einer Menschenkenntnis, wie sie nur aus dem durch die Prüfung hindurchgegangenen Innern Rudolphs hervorgehen kann, zeugt.«

Die Ausdrücke, deren sich Rudolph in der Unterhaltung mit Clemence bedient: »faire attrayant«, »utiliser le goût naturel«, »régler l'intrigue«, »utiliser les penchants à la dissimulation et à la ruse«, »changer en qualités généreuses des instincts impérieux, inexorables« etc. – diese Ausdrücke ebensosehr wie die Triebe selbst, welche hier der weiblichen Natur vorzugsweise zugeschrieben werden, verraten die geheime Quelle von Rudolphs Weisheit – Fourier. Es ist ihm eine populäre Darstellung der fourieristischen Lehre in die Hand gefallen.

Die Anwendung ist wieder ebensosehr Rudolphs kritisches Eigentum wie die obige Ausführung der Theorie Benthams.[205]

Nicht in der Wohltätigkeit als solcher soll die junge Marquise eine Befriedigung ihres menschlichen Wesens, einen menschlichen Inhalt und Zweck der Tätigkeit und darum eine Unterhaltung finden. Die Wohltätigkeit bietet vielmehr nur den äußern Anlaß, nur den Vorwand, nur die Materie zu einer Art von Unterhaltung, die ebensogut jede andre Materie zu ihrem Inhalt machen könnte. Das Elend wird mit Bewußtsein ausgebeutet, um dem Wohltäter »das Pikante des Romans, Befriedigung der Neugierde, Abenteuer, Verkleidungen, Genuß der eignen Vortrefflichkeit, Nervenerschütterungen« und dergleichen zu verschaffen.

Rudolph hat damit unbewußt das längst enthüllte Geheimnis ausgesprochen, daß das menschliche Elend selbst, daß die unendliche Verworfenheit, welche das Almosen empfangen muß, der Aristokratie des Geldes und der Bildung zum Spiel, zur Befriedigung ihrer Selbstliebe, zum Kitzel ihres Übermuts, zum Amüsement dienen muß.

Die vielen Wohltätigkeitsvereine in Deutschland, die vielen wohltätigen Gesellschaften in Frankreich, die zahlreichen wohltätigen Donquichotterien in England, die Konzerte, Bälle, Schauspiele, Essen für Arme, selbst die öffentlichen Subskriptionen für Verunglückte haben keinen andern Sinn. In dieser Weise wäre also auch die Wohltätigkeit längst als Unterhaltung organisiert.

Die plötzliche, unmotivierte Umwandlung der Marquise bei dem bloßen Wort »amüsant« läßt uns an der Nachhaltigkeit ihrer Kur zweifeln, oder vielmehr diese Umwandlung ist nur zum Schein plötzlich und unmotiviert, nur zum Schein durch die Schilderung der charité als eines Amüsements bewirkt. Die Marquise liebt Rudolph, und Rudolph will sich mit ihr verkleiden, intrigieren, auf Wohltätigkeitsabenteuer ausziehen. Später, bei einem wohltätigen Besuch der Marquise in dem Gefängnisse Saint-Lazare, kömmt der Fleur de Marie gegenüber ihre Eifersucht zum Vorschein, und aus Wohltätigkeit gegen ihre Eifersucht verschweigt sie dem Rudolph die Detention der Marie. Im besten Falle aber ist es dem Rudolph gelungen, eine unglückliche Frau mit unglücklichen Wesen eine alberne Komödie spielen zu lehren. Das Geheimnis der von ihm ausgeheckten Philanthropie verriet jener Dandin von Paris, der seine Dame nach dem Tanze mit folgenden Worten zum Souper aufforderte:

»Ah Madame! ce n'est pas assez d'avoir dansé au bénéfice des ces pauvres Polonais... soyons philanthropes jusqu'au bout... allons souper maintenant au profit des pauvres!«[206]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 205-207.
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